Urteil des BVerfG vom 20.09.2001

BVerfG: nahe stehende person, verfassungsbeschwerde, sozialhilfe, vergütung, wartung, papier, behandlung, verdienstausfall, 1791, gesundheit

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 1791/94 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
der Frau V...,
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Rudolf Heimes und Koll.,
Faktoreistraße 4, 66222 Saarbrücken -
gegen den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes vom 24. August 1994 - 8
W 69/94 -
hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten Papier
und die Richter Steiner,
Hoffmann-Riem
gemäß § 93 b in Verbindung mit § 93 a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I
S. 1473) am 20. September 2001 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe:
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob der Sozialhilfeträger die Kosten der angemessenen Vergütung für
eine Pflegeperson zu übernehmen hat, die dem Pflegebedürftigen nahe steht.
I.
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1. Das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) enthält in den §§ 68 f. Regelungen über die Hilfe zur Pflege. In der vor dem
In-Kraft-Treten des SGB XI geltenden Fassung vom 20. Januar 1987 (BGBl I S. 401) lautete der hier maßgebliche
§ 69 BSHG (im Folgenden: BSHG a.F.):
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(1) Reichen im Falle des § 68 Abs. 1 häusliche Wartung und Pflege aus, so gelten die Absätze
2 bis 6.
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(2) Der Träger der Sozialhilfe soll darauf hinwirken, daß Wartung und Pflege durch Personen,
die dem Pflegebedürftigen nahestehen, oder im Wege der Nachbarschaftshilfe übernommen
werden. In diesen Fällen sind dem Pflegebedürftigen die angemessenen Aufwendungen der
Pflegeperson zu erstatten; auch können angemessene Beihilfen gewährt und Beiträge der
Pflegeperson für eine angemessene Alterssicherung übernommen werden, wenn diese nicht
anderweitig sichergestellt ist. Ist neben oder anstelle der Wartung und Pflege nach Satz 1 die
Heranziehung einer besonderen Pflegekraft erforderlich, so sind die angemessenen Kosten
hierfür zu übernehmen.
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(3) bis (6) ...
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Die Vorschriften über die Hilfe zur Pflege wurden mit dem In-Kraft-Treten des SGB XI an dessen Regelungen
angepasst.
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Nach der Vorschrift des § 69 Abs. 2 Satz 2 BSHG a.F. erhielt ein Pflegebedürftiger bei einer Versorgung durch nahe
stehende Personen lediglich Erstattung von Aufwendungen der Pflegeperson; auch konnten angemessene Beihilfen
gewährt und Beiträge zur Alterssicherung der Pflegeperson übernommen werden. Dagegen wurden die Kosten der
ambulanten Pflege durch besondere Pflegekräfte in vollem Umfang finanziert, soweit eine solche erforderlich war (§ 69
Abs. 2 Satz 3 BSHG a.F.). Schwerpflegebedürftige erhielten nach § 69 Abs. 3 Satz 3 BSHG a.F. daneben ein
Pflegegeld, das für die Betroffenen die Pflege in ihrer häuslichen Umgebung sichern sollte (vgl. BTDrucks III/2673, S.
2).
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2. Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Praxis bestätigt. Nach seiner Auffassung ist ein Angehöriger oder ein
Nachbar stets eine nahe stehende Person im Sinne von § 69 Abs. 2 Satz 1 BSHG a.F. (vgl. BVerwG, Buchholz 436.0
§ 69 Nr. 15). Die Pflege durch solche Personen könne nicht mit Leistungen nach § 69 Abs. 2 Satz 3 BSHG a.F.
gefördert werden. Diese seien auch in den Fällen ausgeschlossen, in denen die nahe stehende Person eine
Erwerbstätigkeit aufgegeben habe, um zu pflegen (vgl. Buchholz 436.0 § 69 Nr. 14).
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3. Die 1958 geborene Beschwerdeführerin ist mehrfach schwer behindert. Sie steht unter Betreuung. Sie wurde über
viele Jahre von ihrer Mutter gepflegt. Im August 1992 erklärte sich ihre Schwester zur Übernahme der Pflege bereit,
falls ihr der durch Aufgabe der bisherigen Beschäftigung entstehende Verdienstausfall in Höhe von 1.600 DM netto
ersetzt werde. Der damalige Betreuer schloss mit der Schwester eine Vereinbarung, in der sich die
Beschwerdeführerin verpflichtete, als Gegenleistung für die Pflege diesen Betrag nebst Sozialversicherungsbeiträgen
zu zahlen.
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Im August 1993 beantragte die Beschwerdeführerin beim Träger der Sozialhilfe, ihr die vertragsgemäßen
Aufwendungen für die Pflegeperson zu erstatten. Der Träger der Sozialhilfe lehnte den Antrag ab. Dagegen legte die
Beschwerdeführerin Widerspruch ein. Im Februar 1994 stellte sie beim Verwaltungsgericht den Antrag, den Träger der
Sozialhilfe im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr rückwirkend seit Antragstellung und für die
Zukunft monatlich die Kosten der selbst organisierten Pflegekraft zu erstatten. Das Verwaltungsgericht wies den
Antrag zurück. Die hiergegen erhobene Beschwerde blieb ohne Erfolg. Das Oberverwaltungsgericht zeigte allerdings
Wege auf, die finanzielle Lage der Pflegeperson zu verbessern.
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4. Mit der Verfassungsbeschwerde greift die Beschwerdeführerin den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts an.
Sie rügt die Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG und Art. 6 GG. Es verletze den Gleichheitssatz, dass die Kosten einer
Pflegekraft nicht übernommen würden, wenn es sich um eine dem Pflegebedürftigen nahe stehende Person handele.
Die Entscheidung diskriminiere die Familie, weil die Kosten übernommen würden, falls die Pflegeperson nicht ein
Familienangehöriger sei. Pflegekräfte würden daher in ihrer Eigenschaft als Familienangehörige benachteiligt.
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5. Zur Verfassungsbeschwerde haben sich das Bundesministerium für Gesundheit namens der Bundesregierung, die
Bayerische Staatsregierung sowie der Sozialhilfeträger geäußert. Sie halten die Verfassungsbeschwerde für
unbegründet. Der Deutsche Städtetag und der Deutsche Landkreistag als Verbände der örtlichen Träger der Sozialhilfe
sowie die Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Sozialhilfeträger haben Fragen zur Praxis der
Kostenerstattung an Pflegepersonen in den Jahren vor 1995 beantwortet.
II.
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Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen. Annahmegründe im Sinne des § 93 a Abs. 2
BVerfGG liegen nicht vor.
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1. Die Verfassungsbeschwerde hat - unbeschadet ihrer Zulässigkeit - keine grundsätzliche verfassungsrechtliche
Bedeutung (vgl. § 93 a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG). Die Bedeutung des Art. 6 Abs. 1 GG für die Auslegung von
Vorschriften des Bundessozialhilfegesetzes ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ebenso
geklärt (vgl. BVerfGE 61, 18 <25 f.>) wie die Bedeutung des Gleichheitssatzes für die Gewährung von
Sozialleistungen (BVerfGE 102, 41 <54>; stRspr).
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2. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist auch nicht zur Durchsetzung der als verletzt bezeichneten
Verfassungsrechte der Beschwerdeführerin angezeigt (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Insbesondere liegt eine
Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG nicht vor.
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a) Art. 3 Abs. 1 GG ist verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten anders als eine andere behandelt wird,
obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die
ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten (vgl. BVerfGE 102, 41 <54>; stRspr). Bei der Ordnung von
Massenerscheinungen ist der Gesetzgeber berechtigt, generalisierende, typisierende und pauschalierende Regelungen
zu verwenden, ohne allein wegen der damit verbundenen Härten gegen den allgemeinen Gleichheitssatz zu verstoßen.
Allerdings setzt eine zulässige Generalisierung voraus, dass diese Härten nur unter Schwierigkeiten vermeidbar
wären, lediglich eine verhältnismäßig kleine Zahl von Personen betreffen und der Verstoß gegen den Gleichheitssatz
nicht sehr intensiv ist (vgl. BVerfGE, 100, 59 <90>).
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b) Die angegriffene Entscheidung sowie die darin vorgenommene Auslegung und Anwendung des § 69 Abs. 2 Satz 3
BSHG a.F. sind von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden.
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Zwar bewirkt die Vorschrift eine ungleiche Behandlung der Pflegebedürftigen, die von nahe stehenden Personen
gepflegt werden, gegenüber den Pflegebedürftigen, die besondere Pflegekräfte einsetzen. Diese Vergleichsgruppe
erhält, soweit Pflege durch eine Fachkraft erforderlich ist, die Kosten in Höhe einer angemessenen Pflegevergütung
erstattet. Der Gruppe, zu der die Beschwerdeführerin gehört, stehen dagegen nur Aufwendungsersatz, angemessene
Beihilfe und Beiträge zur Alterssicherung der Pflegekraft zu.
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Diese Differenzierung ist gerechtfertigt. Zwischen den Gruppen des Vergleichspaares bestehen Unterschiede, an die
eine gesetzliche Regelung anknüpfen durfte, ohne damit gegen Art. 3 Abs. 1 GG zu verstoßen. Der Gesetzgeber hat
sich ohne Verstoß gegen Verfassungsrecht von der Vorstellung leiten lassen, dass nahe stehende Pflegepersonen
nicht zum eigenen Erwerb, sondern auf Grund familiärer Verbundenheit tätig werden. Die Begründung eines
Arbeitsverhältnisses zwischen dem Pflegebedürftigen und der nahe stehenden Pflegeperson hat er deshalb nicht als
sachgerecht erachtet. Demgegenüber wird die Vergleichsgruppe von berufsmäßig tätigen Pflegekräften betreut, deren
Einsatz üblicherweise nur gegen eine Vergütung zu erwarten ist (vgl. § 612 Abs. 1 BGB). Sie ist gegenüber der Pflege
durch nahe stehende Personen subsidiär. Die Leistungen des Bundessozialhilfegesetzes für nahe stehende Personen
sollen nicht die geleistete Pflege vergüten. Mit ihrer Gewährung wird vielmehr das Ziel verfolgt, den Pflegebedürftigen
ein Leben in ihrem gewohnten persönlichen und räumlichen Umfeld zu ermöglichen. Das ist verfassungsrechtlich nicht
zu beanstanden.
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Die Regelung ist zudem dadurch sachlich gerechtfertigt, dass sie Vereinbarungen zwischen sich nahe stehenden
Personen über die Vergütung von Pflegeleistungen verhindert, die den Sozialhilfeträger unangemessen belasten. Da
es bei der Begründung solcher Dienstverhältnisse an dem typischen Interessengegensatz zwischen Vertragspartnern
fehlt, ist die Gefahr missbräuchlicher Vereinbarungen nicht zu leugnen. Zwar sind damit auch Pflegebedürftige
betroffen, bei denen Hinweise auf Missbrauch - wie im vorliegenden Fall - nicht vorhanden sind. Die Regelung ist
jedoch gerechtfertigt, weil sie erhebliche Beweisprobleme vermeidet (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des
Ersten Senats vom 7. September 2000 - 1 BvR 444/00, S. 3 f.).
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Auch das Ausmaß der vorgenommenen Differenzierung ist nicht unverhältnismäßig. Sie bewirkt nicht, dass
Pflegebedürftige bei Pflege durch nahe stehende Personen von Leistungen ausgeschlossen sind. Vielmehr haben sie
Anspruch auf Leistungen nach § 69 Abs. 2 Satz 2 BSHG a.F. Diese bieten einen nicht unerheblichen finanziellen
Anreiz und sind daher geeignet, die Pflegebereitschaft zu festigen (vgl. auch BSG SozR 3-3300 § 77 Nr. 2 S. 15 f.).
Die angegriffene Entscheidung zeigt zudem Wege auf, die Pflegesituation der Beschwerdeführerin zu stabilisieren.
Danach könnte die Pflegeperson Leistungen mindestens in der begehrten Höhe - jedoch nicht als Verdienstausfall -
erhalten.
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c) Fraglich könnte sein, ob ein Anspruch nahe stehender Personen nach § 69 Abs. 2 Satz 3 BSHG a.F. auch in den
Fällen zu verneinen ist, in denen die nahe stehende Person eine Pflegekraft im Sinne des Satzes dieser Regelung ist
(vgl. Buchholz 436.0 § 69 BSHG Nr. 15; BSG, SozR 3-3300 § 77 Nr. 2). Dies bedarf im vorliegenden Fall aber keiner
Entscheidung. Denn die Beschwerdeführerin setzt für ihre Pflege keine Pflegekraft im Sinne des § 69 Nr. 2 Satz 3
BSHG a.F. ein.
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Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Papier
Steiner
Hoffmann-Riem