Urteil des BVerfG vom 19.01.2004

BVerfG: entlassung, verfassungsbeschwerde, erlass, bewährung, aussetzung, freiheitsentziehung, strafvollstreckung, rechtsschutzgarantie, belastung, rechtsstaatsprinzip

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1904/03 -
- 2 BvR 32/04 -
In den Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerden
des Herrn O...,
1.
gegen
den Beschluss des Landgerichts Kassel vom 1. August 2003 - 4 StVK 154, 155/03 -
- 2 BvR 1904/03 -,
2.
gegen
die zögerliche Sachbehandlung des Landgerichts Kassel im dortigen Verfahren 4
StVK 154, 155/03 -
und Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
- 2 BvR 32/04 -
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten Hassemer,
die Richterin Osterloh
und den Richter Mellinghoff
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I
S. 1473) am 19. Januar 2004 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerden werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.
Die Verfassungsbeschwerden werden nicht zur Entscheidung angenommen.
Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Gründe:
1
Die Verfassungsbeschwerden werden nicht zur Entscheidung angenommen, weil ein Annahmegrund nach § 93a
Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegt. Sie haben keine Aussicht auf Erfolg.
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1. Die Entscheidung des Landgerichts, ein Sachverständigengutachten zu der Frage einzuholen, ob beim
Beschwerdeführer die durch seine Tat zutage getretene Gefährlichkeit fortbesteht, ist verfassungsrechtlich nicht zu
beanstanden. Nach § 454 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO holt das Gericht das Gutachten eines Sachverständigen über den
Verurteilten ein, wenn es erwägt, die Vollstreckung des Restes einer zeitigen Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren
wegen einer Straftat der in § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB bezeichneten Art auszusetzen, und nicht auszuschließen ist,
dass Gründe der öffentlichen Sicherheit einer vorzeitigen Entlassung entgegenstehen. Die Annahme des
Landgerichts, es sei bei Vorliegen dieser Voraussetzungen verpflichtet, einen Sachverständigen zu hören, entspricht
dem Wortlaut der Norm und der herrschenden Auffassung (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 46. Aufl., § 454 Rn. 37). Für
Willkür ist insofern nichts ersichtlich.
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2. Soweit sich der Beschwerdeführer dagegen wendet, das Landgericht habe mit der verspäteten Einholung des
Gutachtens das Strafrestaussetzungsverfahren unangemessen verzögert, ist die Verfassungsbeschwerde nicht
hinreichend substantiiert begründet worden (§§ 23 Abs. 1 Satz 2, 92 BVerfGG).
4
a) Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistet in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip einen Anspruch auf
angemessene Beschleunigung des mit einer Freiheitsentziehung verbundenen gerichtlichen Verfahrens. Im Verfahren
über die Aussetzung des Restes einer Freiheitsstrafe zur Bewährung kommt eine Verletzung des
Beschleunigungsgebots allerdings nur dann in Betracht, wenn das Freiheitsrecht nach den Umständen des Einzelfalls
gerade durch eine sachwidrige Verzögerung der Entscheidung unangemessen weiter beschränkt wird (vgl. Beschluss
der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Juni 2001 - 2 BvR 828/01 -, NStZ 2002,
S. 333 <334>). Die Gerichte sollen über Strafrestaussetzungen möglichst frühzeitig entscheiden. § 454a StPO
ermöglicht, die Aussetzung des Strafrestes schon längere Zeit vor dem in Aussicht genommenen Zeitpunkt der
Entlassung aus der Strafhaft zu bewilligen, ohne dass dem Verurteilten hierdurch unberechtigte Vorteile entstehen
(vgl. Meyer-Goßner, StPO, 46. Aufl., § 454a Rn. 1).
5
Ob die Verfahrensdauer noch angemessen ist, muss nach den Umständen des Einzelfalles beurteilt werden (vgl.
BVerfGE 46, 17 <28>; 55, 349 <368 f.>). Insbesondere sind der Zeitraum der Verfahrensverzögerung, die
Gesamtdauer der Strafvollstreckung und des Verfahrens über die Strafrestaussetzung zur Bewährung, die Bedeutung
dieses Verfahrens im Blick auf die abgeurteilte Tat und die verhängte Strafe oder Maßregel, der Umfang und die
Schwierigkeit des Entscheidungsgegenstandes sowie das Ausmaß der mit dem Andauern des schwebenden
Verfahrens verbundenen Belastung des Verurteilten zu berücksichtigen. Dabei ist auch das Prozessverhalten des
Verurteilten angemessen zu bewerten.
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b) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze genügt der Vortrag des Beschwerdeführers nicht, um eine
rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung festzustellen. Der Beschwerdeführer behauptet, das Landgericht habe erst
im August 2003 die Einholung eines Sachverständigengutachtens beschlossen, obwohl er bereits seit Mai 2003 zwei
Drittel seiner Freiheitsstrafen verbüßt habe. Die Verfassungsbeschwerde enthält aber keine substantiierten Angaben
zu Art und Schwere der abgeurteilten Taten und dem Verlauf des Strafrestaussetzungsverfahrens, die eine
unangemessene Sachbehandlung durch das Landgericht nahe legen könnten. Der Beschwerdeführer geht nicht darauf
ein, dass er im Februar 2003 und damit wenige Monate vor der erstrebten Entlassung zu einer Freiheitsstrafe von fünf
Monaten verurteilt worden war. Ob und gegebenenfalls wie sich dieses Verfahren auf sein
Strafrestaussetzungsgesuch ausgewirkt hat, erläutert die Verfassungsbeschwerde nicht. Unklar bleibt auch, was aus
einem früher gestellten Antrag auf Strafrestaussetzung geworden ist.
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Um der behaupteten Verfahrensverzögerung zu begegnen, hätte der Beschwerdeführer zudem
Untätigkeitsbeschwerde erheben können. Dieses Rechtsmittel wird zwar teilweise nur unter der Voraussetzung
zugelassen, dass die Untätigkeit einer endgültigen Ablehnung gleichkommt (vgl. BGH, NJW 1993, S. 1280; OLG
Frankfurt, NStZ-RR 2002, S. 188 f. und 189 f.). Teilweise sieht die Rechtsprechung die Untätigkeitsbeschwerde mit
Blick auf die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG jedoch auch in weitem Umfang als zulässig an (vgl.
BayVGH, NVwZ 2000, S. 693). Demzufolge wäre die Einlegung eines entsprechenden Rechtsmittels nicht von
vornherein aussichtslos gewesen. Sie war dem Beschwerdeführer auch zuzumuten. Fachgerichtlicher Rechtsschutz
muss auch dann vorrangig in Anspruch genommen werden, wenn die Statthaftigkeit eines Rechtsmittels nach dem
aktuellen Stand von Rechtsprechung und Lehre umstritten und deshalb zweifelhaft ist, ob der in der Sache begehrte
Rechtsschutz von dem angerufenen Gericht gewährt wird (vgl. BVerfGE 68, 376 <380>).
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Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Hassemer
Osterloh
Mellinghoff