Urteil des BVerfG vom 31.01.2001

BVerfG: faires verfahren, verfassungsbeschwerde, strahlung, glaubhaftmachung, verfügung, hauptsache, rechtswegerschöpfung, papier, rechtsstaatsprinzip, beweismittel

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 66/01 -
- 1 BvR 71/01 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerden
I.
1. der Frau B...,
2. des Herrn B...,
3. des Herrn Dr. B...,
4. des Herrn B...,
5. des Herrn B...,
6. a) der Frau D...,
b) des Herrn D...,
7. des Herrn E...,
8. a) der Frau H...,
b) des Herrn H...,
9. der Frau H...,
10. der Frau J...,
11. des Herrn L...,
12. des Herrn M...,
13. a) der Frau M...,
b) des Herrn M...,
14. des Herrn M...,
15. a) der Frau N...,
b) des Herrn N...,
16. a) der Frau N...,
b) des Herrn N...,
17. der Frau R...,
18. a) der Frau W...,
b) des Herrn W...,
19. a) der Frau Sch...,
b) des Herrn Z...
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Jürgen Ronimi und Koll.,
Nassauer Straße 60, 61440 Oberursel -
gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 28. November 2000 -
8 U 190/00 -
und Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
- 1 BvR 66/01 -,
II.
1. der Frau H...,
2. des Herrn H...
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Jürgen Ronimi und Koll.,
Nassauer Straße 60, 61440 Oberursel -
gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 28. November 2000 -
8 U 208/00 -
und Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
- 1 BvR 71/01 -
hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten Papier
und die Richter Steiner,
Hoffmann-Riem
gemäß § 93 b in Verbindung mit § 93 a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I
S. 1473) am 31. Januar 2001 einstimmig beschlossen:
Die Verfahren werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.
Die Verfassungsbeschwerden werden nicht zur Entscheidung angenommen.
Damit erledigen sich die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Gründe:
1
Die Verfassungsbeschwerden richten sich gegen zwei Urteile des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main, mit denen
Anträge auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zurückgewiesen worden sind. Darüber hinaus werden Anträge auf
Erlass von einstweiligen Anordnungen gestellt.
I.
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1. Anfang März 2000 nahm die DeTeMobil Deutsche Telekom MobilNet GmbH auf dem Kirchturm der Evangelischen
Kirchengemeinde O. eine Mobilfunkstation in Betrieb; eine weitere Station ist installiert, wird aber noch nicht
betrieben. Die Kirche liegt in einem Wohngebiet; neben ihr befindet sich ein Kindergarten. Die Beschwerdeführer, die
in unmittelbarer Nähe des Kirchengebäudes wohnen, verlangen mit zwei unabhängig voneinander bei dem Landgericht
Frankfurt am Main erhobenen Klagen - 2-04 0 278/00 und 281/00 - von der Betreiberin, der Beklagten zu 1), und der
Kirchengemeinde, der Beklagten zu 2), den Betrieb der Anlage zu unterlassen.
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Zur Begründung des Anspruchs behaupten die Beschwerdeführer, von der Anlage gehe gefährliche Strahlung aus,
die geeignet sei, gesundheitliche Langzeitschäden hervorzurufen. Einzelne Beschwerdeführer haben darüber hinaus
akute gesundheitliche Störungen vorgetragen, die sie auf den Einfluss der Strahlung zurückführen. Zur
Substantiierung ihres Vorbringens berufen sich die Beschwerdeführer auf mehrere Sachverständigengutachten sowie
weitere Stellungnahmen aus Wissenschaft, Öffentlichkeit und Fachkreisen. Eine Sachentscheidung ist bislang nicht
ergangen.
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2. Darüber hinaus haben die Beschwerdeführer das gleiche Ziel in zwei auf den Erlass einstweiliger Verfügungen
gerichteten Verfahren mit den Aktenzeichen - 2-04 0 274/00 und 280/00 - zu erreichen versucht. Das Landgericht hat
den Verfügungsanträgen stattgegeben und den weiteren Betrieb der Anlage untersagt. Auf die Berufung der Beklagten
hat das Oberlandesgericht Frankfurt am Main mit zwei Urteilen vom 28. November 2000 - 8 U 190/00 und 208/00 - in
Abänderung der Entscheidungen des Landgerichts die beiden einstweiligen Verfügungen aufgehoben und die
Verfügungsanträge abgewiesen.
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In den Gründen der beiden Entscheidungen heißt es, den Beschwerdeführern sei es nicht gelungen, die
tatsächlichen Voraussetzungen eines Verfügungsanspruchs, als dessen Grundlage §§ 823 Abs. 1, 858 oder 1004
Abs. 1 BGB in Betracht kämen, glaubhaft zu machen. Die von der Anlage ausgehenden Einwirkungen seien im Sinne
des § 906 Abs. 1 Satz 2 BGB unwesentlich und daher zu dulden. Der Nachweis der Unwesentlichkeit sei als geführt
anzusehen, da beim Betrieb der Anlage die Grenzwerte der 26. Verordnung zur Durchführung des Bundes-
Immissionsschutzgesetzes (BImSchV) eingehalten würden. Die 1. Kammer des Ersten Senats habe dies in dem
Nichtannahmebeschluss vom 17. Februar 1997 - 1 BvR 1658/96 - (NJW 97, 2509) in verfassungsrechtlicher Hinsicht
nicht beanstandet. Zwar berücksichtige die 26. BImSchV lediglich thermische Strahlungseinwirkungen, wohingegen
die Beschwerdeführer davon ausgingen, dass nachteilige athermische Auswirkungen bereits bei weit geringeren
magnetischen Flussdichten zu erwarten seien. Indes sei den Beschwerdeführern die ihnen obliegende
Glaubhaftmachung, dass trotz Einhaltung der in der BImschV geregelten Grenzwerte eine wesentliche
Beeinträchtigung vorliege, nicht gelungen. In diesem Zusammenhang würdigt das Oberlandesgericht insbesondere die
vorgelegten Gutachten sowie Äußerungen einzelner Beschwerdeführer und gelangt zu dem Ergebnis, eine
überwiegende Wahrscheinlichkeit für Gesundheitsgefahren oder erhebliche Nachteile liege nicht vor. Insbesondere
habe keiner der Beschwerdeführer bisher ärztliche Atteste eingereicht, aus denen sich Gesundheitsstörungen
ernsterer Art ersehen ließen.
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3. Ziel der fristgerecht eingelegten Verfassungsbeschwerden ist die Aufhebung der beiden vom Oberlandesgericht
erlassenen Urteile. Außerdem beantragen die Beschwerdeführer, im Wege der einstweiligen Anordnung die Wirkung
der angegriffenen Urteile bis zur Entscheidung im fachgerichtlichen Hauptsacheverfahren auszusetzen, damit die vom
Landgericht erlassenen einstweiligen Verfügungen wirksam bleiben. Sie rügen die Verletzung von Art. 2 Abs. 2, 20
Abs. 3 und 103 Abs. 1 GG.
II.
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1. Die Verfahren werden miteinander verbunden, weil sie im Wesentlichen die selben Fragen betreffen und die
gemeinsame Entscheidung daher sachdienlich ist.
8
2. Annahmegründe im Sinne des § 93 a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Den Verfassungsbeschwerden kommt
weder grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu, noch ist die Annahme zur Durchsetzung der als verletzt
gerügten Grundrechte angezeigt. Es fehlt an der Erfolgsaussicht, weil die Verfassungsbeschwerde nach § 90 Abs. 2
Satz 1 BVerfGG unzulässig ist.
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a) Grundsätzlich kann die Zurückweisung des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Verfügung Gegenstand einer
Verfassungsbeschwerde sein. Denn auch bei einer Entscheidung dieses Inhalts handelt es sich um einen Akt der
öffentlichen Gewalt, der nach § 90 Abs. 1 BVerfGG der Verfassungsbeschwerde unterliegt (BVerfGE 79, 275 <279>;
86, 15 <22>; BVerfG, DVBl 2000, S. 40 <41>).
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b) Indes ist die Verfassungsbeschwerde nicht zulässig, weil der Rechtsweg nicht erschöpft ist, § 90 Abs. 2 Satz 1
BVerfGG.
11
aa) Dem steht nicht entgegen, dass die vom Oberlandesgericht erlassenen Urteile gemäß § 545 Abs. 2 Satz 1 ZPO
nicht der Revision unterliegen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts fordert der in § 90 Abs. 2
Satz 1 BVerfGG zum Ausdruck kommende Grundsatz der Subsidiarität, dass der Beschwerdeführer über das Gebot
der Rechtswegerschöpfung im engeren Sinne hinaus die ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ergreift, um eine
Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erreichen oder sie gar zu verhindern. Das bedeutet, dass
auch die Erschöpfung des Rechtswegs in der Hauptsache geboten sein kann, wenn sich dort nach der Art des
gerügten Grundrechtsverstoßes die Gelegenheit bietet, der verfassungsrechtlichen Beschwer abzuhelfen (vgl.
BVerfGE 79, 275 <278 f.>; 86, 15 <22 f.>; DVBl 2000, S. 40 <41>).
12
Das ist grundsätzlich insoweit zu bejahen, als ein Beschwerdeführer mit dem Eilantrag eine Entscheidung in Bezug
auf einen Anspruch erstrebt, der den Streitgegenstand eines Hauptsacheverfahrens bildet oder zumindest bilden kann.
Da die Beschwerdeführer den mit dem Eilantrag geltend gemachten Unterlassungsanspruch auch in der Hauptsache
verfolgen, ist diese Voraussetzung erfüllt.
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bb) Eine Ausnahme hiervon gilt allerdings dann, wenn es dem Beschwerdeführer nicht zumutbar ist, den Ausgang
des Hauptsacheverfahrens abzuwarten. Das ist der Fall, wenn eine Klage im Hinblick auf entgegenstehende
Rechtsprechung der Fachgerichte von vornherein als aussichtslos erscheinen muss (vgl. BVerfGE 70, 180 <186>),
wenn die Verletzung von Grundrechten durch die Eilentscheidung selbst geltend gemacht wird, wie etwa bei der
Versagung rechtlichen Gehörs (vgl. BVerfGE 65, 227) oder einer Verletzung des Art. 19 Abs. 4 GG durch die
Verweigerung einstweiligen Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 59, 63 <84>), oder wenn die Entscheidung von keiner
weiteren tatsächlichen Aufklärung abhängt und diejenigen Voraussetzungen gegeben sind, unter denen gemäß § 90
Abs. 2 Satz 2 BVerfGG vom Erfordernis der Rechtswegerschöpfung abgesehen werden kann (vgl. BVerfGE 79, 275
<279>).
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(1) Eine Verletzung von Grundrechten der Beschwerdeführer liegt nicht in der Eilentscheidung selbst, das heißt in
Gegebenheiten, die ihre Grundlage in den allgemeinen Zulässigkeitsvoraussetzungen und in den nicht auf eine
rechtskräftige Bescheidung des streitigen Anspruchs, sondern den auf die begehrte Eilmaßnahme zugeschnittenen
Voraussetzungen des Verfügungsverfahrens haben. Dazu gehören namentlich die dem Eilverfahren eigene,
summarische Sachprüfung sowie die Würdigung der zur Glaubhaftmachung beigebrachten Beweismittel.
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Die insoweit einschlägige Rüge, das Recht der Beschwerdeführer auf Gehör vor Gericht, Art. 103 Abs. 1 GG, sei
verletzt, greift nicht durch. Ebenso wenig hat das Oberlandesgericht gegen das Rechtsstaatsprinzip verstoßen.
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Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und
in Erwägung zu ziehen und erhebliche Beweisanträge zu beachten (vgl. BVerfGE 50, 32 <36>; 60, 250 <252>; 65,
305 <307>; 69, 141 <144>). Das Rechtsstaatsprinzip enthält eine materielle Komponente, die auf die Erlangung und
Erhaltung der materiellen Gerechtigkeit im staatlichen und staatlich beeinflussbaren Bereich abzielt, wodurch auch im
Zivilverfahren der Richter verpflichtet wird, durch eine entsprechende Verfahrensgestaltung den materiellen Inhalten
der Verfassung Geltung zu verschaffen und für ein faires Verfahren und eine faire Handhabung der Beweislastregeln
Sorge zu tragen (vgl. BVerfGE 52, 131 <144 f.>).
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Das Oberlandesgericht hat seinen Entscheidungen eine Beweislastverteilung zugrundegelegt, die von Verfassungs
wegen nicht grundsätzlich zu beanstanden ist (vgl. 1. Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 17. Februar 1997 -
1 BvR 1658/96 -, NJW 1997, S. 2509). Bedenken hiergegen können die Beschwerdeführer nicht mit Erfolg auf den
Gesichtspunkt stützen, ihr Begehren sei als lediglich vorbeugende Unterlassungsklage aufzufassen. Ebenso wenig
kommt es darauf an, dass in der vorerwähnten Entscheidung über Emissionen einer Transformatorenstation zu
befinden war, die unbeabsichtigt ausgesendet wurden, wohingegen es vorliegend um einen Sender geht, der zu
seinem bestimmungsgemäßen Zweck Strahlung erzeugt. In jedem Falle bleibt entscheidend, ob von der Strahlung
Gefahren ausgehen. Insofern unterscheidet sich die Ausgangslage von dem im vorstehend zitierten Beschluss
entschiedenen Fall nicht.
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Auf einer demnach der Verfassung nicht widersprechenden Grundlage hat das Oberlandesgericht den Sachvortrag,
das zur Glaubhaftmachung beigebrachte Beweismaterial und die Äußerungen der persönlich gehörten Parteien einer
eingehenden Würdigung unterzogen. Die von den Beschwerdeführern geäußerte Kritik am Beweisergebnis beschränkt
sich auf die Wiederholung der eigenen, abweichenden Ansicht, namentlich zum Aussagegehalt der bisher
vorliegenden Gutachten und Veröffentlichungen; sie lässt jedoch verfassungsspezifische Gesichtspunkte, welche die
Beweiswürdigung gerade als Ergebnis einer Missachtung der dargestellten Verfassungsgrundsätze hinstellte, nicht in
einer den Anforderungen des § 92 BVerfGG genügenden Weise erkennen.
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(2) Eine Sachentscheidung ist auch deshalb nicht möglich, weil es hierzu weiterer Sachverhaltsaufklärung bedarf.
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Der Subsidiaritätsgrundsatz, § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG, soll vor allem sichern, dass durch die umfassende
fachgerichtliche Vorprüfung der Beschwerdepunkte dem Bundesverfassungsgericht ein regelmäßig in mehreren
Instanzen geprüftes Tatsachenmaterial unterbreitet wird und ihm die Fallanschauung und Rechtsauffassung der
Gerichte, insbesondere auch der obersten Bundesgerichte, vermittelt werden; zugleich wird damit der
grundgesetzlichen Zuständigkeitsverteilung und Aufgabenzuweisung entsprochen, nach der vorrangig die
Fachgerichte Rechtsschutz gegen Verfassungsverletzungen gewähren (vgl. BVerfGE 77, 381 <401>). Nur auf diese
Weise lässt sich verhindern, dass das Bundesverfassungsgericht möglicherweise weit reichende Entscheidungen
trifft, die auf ungesicherten tatsächlichen Grundlagen beruhen. Insofern ist zur Beurteilung der Gefahren eine im
Hauptsacheverfahren vorzunehmende Sachverhaltsaufklärung erforderlich. Auch ist im Hauptsacheverfahren in
rechtlicher Hinsicht zu klären, ob die von Mobilfunkanlagen ausgehenden Strahlungen Besonderheiten aufweisen, die
bei einer Beurteilung der von § 906 Abs. 1 BGB erfassten Beeinträchtigungen und den bei der Entscheidung über die
Duldungspflicht maßgebenden Wertungen folgenreich werden.
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3. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist durch die Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde,
deren Durchsetzung alleiniges Ziel des Antrags war, erledigt.
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Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
23
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Papier
Steiner
Hoffmann-Riem