Urteil des BVerfG vom 06.02.2013

BVerfG: sicherungsverwahrung, gerichtshof für menschenrechte, unterbringung, emrk, egmr, freiheit der person, fortdauer, zustand, freiheitsentziehung, prostituierte

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 2122/11 -
- 2 BvR 2705/11 -
Bundesadler
Im Namen des Volkes
In den Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerden
I. des Herrn G...,
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwaltskanzlei Horst Korte, Thomas Hammer,
Karin Diehl & Bettina Honemann,
Treppenstraße 9, 34117 Kassel -
gegen
a)
den Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 22.
August 2011 - 3 Ws 761-762/11 -,
b)
den Beschluss des Landgerichts Marburg vom 15. Juli 2011 - 7 StVK
190/11 + 267/11 -
und Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe
und Beiordnung von Rechtsanwalt K…
- 2 BvR 2122/11 -,
II. des Herrn K...,
- Bevollmächtigter:
Rechtsanwalt Bernhard Schroer,
Deutschhausstraße 32, 35037 Marburg -
1. unmittelbar gegen
a) den Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 15.
November 2011 - 3 Ws 970/11 -,
b) den Beschluss des Landgerichts Marburg vom 30. August 2011 - 7 StVK
266/11 -
2. mittelbar gegen
§ 66b Absatz 3 StGB
und Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe
und Beiordnung von Rechtsanwalt Sch…
- 2 BvR 2705/11 -
hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat - unter Mitwirkung der Richterinnen und
Richter
Präsident Voßkuhle,
Lübbe-Wolff,
Gerhardt,
Landau,
Huber,
Hermanns,
Müller,
Kessal-Wulf
am 6. Februar 2013 beschlossen:
1. Die Verfassungsbeschwerden werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.
2. a) Der Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 22. August 2011 - 3 Ws
761-762/11 - und der Beschluss des Landgerichts Marburg vom 15. Juli 2011 - 7 StVK
190/11 + 267/11 - verletzen den Beschwerdeführer zu I. in seinem Grundrecht aus Artikel 2
Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 Absatz 1 und Artikel 20 Absatz 3 des
Grundgesetzes. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 22. August
2011 - 3 Ws 761-762/11 - wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht
Frankfurt am Main zurückverwiesen.
b) Der Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 15. November 2011 -
3 Ws 970/11 - und der Beschluss des Landgerichts Marburg vom 30. August 2011 - 7 StVK
266/11 - verletzen den Beschwerdeführer zu II. in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2
Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 Absatz 1 und Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 15. November 2011 - 3 Ws
970/11 - wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht Frankfurt am Main
zurückverwiesen.
3. Die Bundesrepublik Deutschland und das Land Hessen haben - je zur Hälfte - den
Beschwerdeführern die notwendigen Auslagen zu erstatten. Damit erledigen sich der
Antrag des Beschwerdeführers zu I. auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und
Beiordnung des Rechtsanwalts K…, sowie der Antrag des Beschwerdeführers zu II. auf
Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung des Rechtsanwalts Sch…
Gründe:
A.
1
Die Verfassungsbeschwerden wenden sich gegen die Fortdauer der Unterbringung der
Beschwerdeführer in der Sicherungsverwahrung, die nach der Erledigung der Unterbringung in
einem psychiatrischen Krankenhaus nachträglich angeordnet wurde.
I.
2
1. Mit § 66b Abs. 3, § 67d Abs. 6 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Einführung der
nachträglichen Sicherungsverwahrung vom 23. Juli 2004 (BGBl I S. 1838) sollte eine gesetzliche
Regelung der Sicherungsverwahrung für Fälle geschaffen werden, in denen während des
Vollzugs einer Maßregel nach § 63 StGB festgestellt wird, dass die Voraussetzungen der
Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus - jedenfalls zum Zeitpunkt der
Überprüfung - nicht (mehr) vorliegen. Nachdem die Strafvollstreckungsgerichte in analoger
Anwendung des § 67c Abs. 2 Satz 2 StGB die Auffassung vertreten hatten, dass „sich bei
Wegfall der gesetzlichen Voraussetzungen des § 63 StGB die Unterbringung erledigt hat und
nicht weiter vollstreckt werden darf, so dass der Untergebrachte sofort zu entlassen ist“ (vgl.
BGHSt 42, 306 <310>), wurde mit Einführung von § 67d Abs. 6 StGB die Erledigung der
Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gesetzlich geregelt und zugleich mit § 66b
Abs. 3 StGB eine Vorschrift geschaffen, die in diesen Fällen für „Abgeurteilte, die nach einer
umfassenden Gesamtwürdigung als hochgefährlich zu betrachten sind“, die Möglichkeit der
nachträglichen Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung eröffnen sollte
(BTDrucks 15/2887, S. 2).
3
§ 66b Abs. 3 in der Fassung des Gesetzes zur Einführung der nachträglichen
Sicherungsverwahrung vom 23. Juli 2004 (BGBl I S. 1838) lautete:
4
Ist die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 67d Abs. 6 für erledigt
erklärt worden, weil der die Schuldfähigkeit ausschließende oder vermindernde Zustand, auf
dem die Unterbringung beruhte, im Zeitpunkt der Erledigungsentscheidung nicht bestanden hat,
so kann das Gericht die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nachträglich anordnen,
wenn
5
1. die Unterbringung des Betroffenen nach § 63 wegen mehrerer der in § 66 Abs. 3 Satz 1
genannten Taten angeordnet wurde oder wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer
solcher Taten, die er vor der zur Unterbringung nach § 63 führenden Tat begangen hat, schon
einmal zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt oder in einem
psychiatrischen Krankenhaus untergebracht worden war und
6
2. die Gesamtwürdigung des Betroffenen, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung
während des Vollzugs der Maßregel ergibt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche
Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt
werden.
7
Auf die Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 StGB verwies § 66b Abs. 3
StGB nur teilweise. So sah § 66b Abs. 3 StGB die nachträgliche Anordnung der
Sicherungsverwahrung bereits vor, wenn die Unterbringung des Betroffenen gemäß § 63 StGB
wegen mehrerer der in § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB genannten Taten angeordnet oder der
Betroffene vor der Anlasstat schon einmal zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren
verurteilt worden war. Weitere Vorverurteilungen (§ 66 Abs. 1 und Abs. 2 StGB) oder eine
Verurteilung wegen der Anlasstat zu einer Freiheitsstrafe von mindestens zwei oder drei Jahren
(§ 66 Abs. 3 Satz 1 und Abs. 2 StGB) waren demgegenüber nicht erforderlich. Dem
Ausnahmecharakter der Sicherungsverwahrung sollte dadurch Rechnung getragen werden,
dass sich bei der nach § 66b Abs. 3 Nr. 2 StGB vorgeschriebenen Gesamtwürdigung des
Betroffenen „prognoserelevante Umstände von einem insgesamt derartigen Gewicht ergeben,
wie es den Anforderungen an Taten und Strafmaße entspricht, die das Gesetz an die Anordnung
der Sicherungsverwahrung gegen voll schuldfähige Verurteilte stellt“ (BTDrucks 15/2887, S. 14).
8
2. Mit dem Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden
Regelungen vom 22. Dezember 2010 (BGBl I S. 2300) wurden § 66b Abs. 1 und Abs. 2 StGB
ersatzlos gestrichen. § 66b Abs. 3 StGB gilt nunmehr als § 66b Satz 1 StGB fort mit der
Änderung, dass in die Gesamtwürdigung nach Nr. 2 der Vorschrift nicht mehr nur die
Entwicklung „während des Vollzugs der Maßregel“, sondern diejenige „bis zum Zeitpunkt der
Entscheidung“ einzubeziehen ist.
9
3. Das Bundesverfassungsgericht erklärte § 66b Abs. 3 StGB in der Fassung des Gesetzes zur
Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung vom 23. Juli 2004 (BGBl I S. 1838) mit
Urteil vom 4. Mai 2011 wegen Verstoßes gegen das Abstandsgebot für unvereinbar mit Art. 2
Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 128, 326 <330>).
II.
10
1. a) Der Beschwerdeführer zu I. wurde durch Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom
6. Februar 1992 wegen Mordes in drei Fällen und wegen versuchten Mordes in einem weiteren
Fall zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt. Außerdem wurde seine
Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet.
11
Er hatte im Oktober 1988 eine 17-jährige Anhalterin mitgenommen und war mit ihr auf einen
Feldweg gefahren. Sodann hatte er sie mit beiden Händen bis zum Erstickungstod gewürgt, was
für ihn ein sexuell lustvolles Erlebnis war. Im September 1989 hatte der Beschwerdeführer zu I.
eine 22-jährige Prostituierte während oder unmittelbar nach dem in seinem PKW vollzogenen
einverständlichen Geschlechtsverkehr bis zum Eintritt des Erstickungstodes gewürgt. Nach den
Feststellungen des Landgerichts war er dabei einem inneren, sexuell motivierten Drang gefolgt.
Aus der gleichen Motivation heraus hatte er im Oktober 1989 eine 25-jährige Prostituierte mit
zwei von ihm mitgeführten Nylonstrümpfen erdrosselt. Im März 1990 hatte er erneut eine 22-
jährige Prostituierte in seinen PKW gelockt. Noch während des Geschlechtsverkehrs hatte er ihr
die Hände um den Hals gelegt und begonnen, ihr den Hals zuzudrücken, konnte die Tat jedoch
nicht vollenden.
12
Das Landgericht nahm Wiederholungsgefahr an. Obwohl für den Beschwerdeführer zu I. ein
therapeutischer Ansatz nicht ersichtlich war, gab es der Unterbringung in einem psychiatrischen
Krankenhaus den Vorzug gegenüber der von ihm ebenfalls für möglich gehaltenen Anordnung
der Sicherungsverwahrung, weil eine künftige Therapiemöglichkeit nicht ausgeschlossen
werden könne.
13
b) Nach vollständiger Verbüßung der Freiheitsstrafe wurde die Maßregel vollzogen. Im April
2007 erklärte die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Kassel die Maßregel für erledigt,
weil ein krankhafter Zustand im Sinne der §§ 20, 21 StGB bei Begehung der Straftaten - anders
als noch im Ausgangsurteil angenommen - nicht vorgelegen habe. Im März 2008 wurde mit Urteil
des Landgerichts Frankfurt am Main die nachträgliche Unterbringung des Beschwerdeführers
zu I. in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Nach den Ausführungen der Strafkammer sei er,
der sich als normal empfinde und nicht therapiebereit sei, trotz seines vordergründig
angepassten Verhaltens hochgefährlich. Auch zwischen seinen einzelnen Taten habe er sich
sozial völlig angepasst verhalten. Vergleichbare Straftaten seien mit hoher Wahrscheinlichkeit
zu erwarten, so dass die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung verhältnismäßig
sei. Nachdem der Bundesgerichtshof die gegen dieses Urteil gerichtete Revision im September
2008 verworfen hatte, wurde die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zu I. nicht zur
Entscheidung angenommen (BVerfGK 16, 98). Daraufhin erhob er Individualbeschwerde beim
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Mit Urteil vom 7. Juni 2012 stellte die Kammer
der 5. Sektion des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte einen Verstoß gegen Art. 7
Abs. 1 EMRK durch die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung fest und sprach
dem Beschwerdeführer zu I. eine Entschädigung zu (EGMR, Urteil vom 7. Juni 2012,
Beschwerde-Nr. 65210/09, G. ./. Deutschland, Rn. 70, 80).
14
c) Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 wollte der
Beschwerdeführer zu I. zumindest die Aussetzung seiner Unterbringung in der
Sicherungsverwahrung zur Bewährung erreichen. Dies lehnte die Strafvollstreckungskammer
des Landgerichts Marburg mit angegriffenem Beschluss vom 15. Juli 2011 jedoch ab. Der
Beschwerdeführer zu I. habe sich sämtlichen Behandlungsangeboten entzogen und es
abgelehnt, sich einem Gutachter zu stellen. Aus konkreten Umständen in seiner Person und in
seinem Vollzugsverhalten sei gleichwohl die Gefahr schwerer Gewalt- und Sexualtaten
abzuleiten. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 verstoße die
Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung nach einer vorangegangenen
Erledigungserklärung der Anordnung einer Unterbringung in einem psychiatrischen
Krankenhaus gemäß § 66b Abs. 3, § 67d Abs. 6 StGB nicht gegen das allgemeine
Vertrauensschutzgebot, sondern „nur“ gegen das Abstandsgebot. Das
Bundesverfassungsgericht habe dies zwar nicht ausdrücklich erklärt, doch werde der Verurteilte
durch die Anordnung der Sicherungsverwahrung nicht schlechter gestellt, da er sich ohnehin
bereits in einer unbefristeten Maßregel befunden habe. Mit der Anordnung der
Sicherungsverwahrung werde eine unbefristete Maßregel durch eine andere ersetzt. Hinzu
komme, dass die Möglichkeit einer Erledigung nach § 67d Abs. 6 StGB untrennbar mit der
nachträglichen Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 3 StGB verknüpft sei.
15
Die gegen diese Entscheidung gerichtete sofortige Beschwerde verwarf das Oberlandesgericht
Frankfurt am Main mit dem ebenfalls angegriffenen Beschluss vom 22. August 2011. Nach dem
Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 sei Voraussetzung einer nachträglichen
Anordnung der Sicherungsverwahrung, dass eine Gefahr schwerer Gewalt- oder
Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen
abzuleiten sei. Diese Voraussetzungen lägen hier vor, zumal es sich bei den begangenen Taten
um schwerste Gewalttaten gehandelt habe. Ein zusätzlicher Verstoß gegen das
Vertrauensschutzgebot sei nicht gegeben. Anders als bei § 66b Abs. 1 und Abs. 2 StGB seien
bei § 66b Abs. 3 StGB Vertrauensschutzbelange von besonders hohem Gewicht nicht betroffen.
Das Bundesverfassungsgericht habe hinsichtlich dieser Norm im Nichtannahmebeschluss vom
5. August 2009 (BVerfGK 16, 98 <111 f.>) betont, dass es hier nicht um die erstmalige
Anordnung einer freiheitsentziehenden Maßregel gehe und dass die Unterbringung gemäß § 63
StGB kein geringeres, sondern ein anderes Übel sei. Die Rückwirkungsproblematik stelle sich
daher nur in stark abgeschwächter Form.
16
2. a) Der Beschwerdeführer zu II. wurde durch Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom
28. August 1987 wegen Vergewaltigung in vier Fällen jeweils in Tateinheit mit sexueller
Nötigung und Körperverletzung, davon in einem Fall in Tateinheit mit räuberischer Erpressung,
sowie wegen versuchter Vergewaltigung und wegen versuchter sexueller Nötigung in Tateinheit
mit Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten
verurteilt. Außerdem wurde seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus
angeordnet.
17
Er hatte von November 1985 bis Juli 1986 jungen Prostituierten zum Schein ein Entgelt
angeboten, um sie dann mit seinem Auto an entlegene Stellen zu fahren und dort zu
misshandeln, zu demütigen sowie zu vergewaltigen. Nach Überzeugung des Landgerichts habe
bei ihm eine hochgradige Persönlichkeitsstörung mit sexueller Deviation vorgelegen, so dass
seine Fähigkeit zu einsichtsgemäßem Handeln bei Begehung seiner Taten erheblich vermindert
gewesen sei. Der Beschwerdeführer zu II. habe unter paranoiden Ängsten gelitten, gegen die er
sich aggressiv zur Wehr gesetzt habe. Zwar seien auch die Voraussetzungen der
Sicherungsverwahrung gegeben, doch sei die Unterbringung in einem psychiatrischen
Krankenhaus vorzugswürdig, da die Sicherungsverwahrung einen ausschließlichen
„Verwahrcharakter“ habe und keine konkreten medizinisch-psychologischen
Behandlungsmöglichkeiten biete.
18
b) Ab Oktober 1986 war der Beschwerdeführer zu II. in einer psychiatrischen Klinik
untergebracht. Nachdem ihm im Februar 2005 und November 2006 durch Gutachten bescheinigt
worden war, dass eine Persönlichkeitsstörung nicht vorliege, wurde die Unterbringung im Juli
2007 für erledigt erklärt. Die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Marburg führte aus, es
habe sich beim Ausgangsurteil um eine Fehleinweisung gehandelt. Ein krankhafter Zustand
gemäß §§ 20, 21 StGB habe bei Begehung der Straftaten nicht vorgelegen. Zugleich wurde - bis
zu einer Entscheidung über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung - die
einstweilige Unterbringung des Beschwerdeführers zu II. in der Sicherungsverwahrung
angeordnet. Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main hob diese Unterbringungsanordnung
jedoch im Januar 2008 auf, woraufhin sich der Beschwerdeführer zu II. für zwei Wochen auf
freiem Fuß befand. Nachdem er in der Hauptverhandlung über die nachträgliche Anordnung der
Sicherungsverwahrung ausgeblieben war, erließ das Landgericht Frankfurt am Main einen
Haftbefehl, aufgrund dessen der Beschwerdeführer zu II. erneut festgenommen wurde.
19
Am 9. April 2008 ordnete das Landgericht Frankfurt am Main die nachträgliche Unterbringung
des Beschwerdeführers zu II. in der Sicherungsverwahrung an. Dabei führte das sachverständig
beratene Landgericht aus, eine Gesamtwürdigung des Betroffenen, seiner Taten und seiner
Entwicklung im Maßregelvollzug ergebe, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche
Straftaten begehen werde, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt
würden. Die gegen dieses Urteil gerichtete Revision verwarf der Bundesgerichtshof im
November 2008. Die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zu II. wurde nicht zur
Entscheidung angenommen (BVerfGK 16, 98). Daraufhin erhob der Beschwerdeführer zu II.
Individualbeschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Mit Urteil vom 7. Juni
2012 stellte die Kammer der 5. Sektion des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
einen Verstoß gegen Art. 7 Abs. 1 EMRK durch die nachträgliche Anordnung der
Sicherungsverwahrung fest und sprach dem Beschwerdeführer zu II. eine Entschädigung zu
(EGMR, Urteil vom 7. Juni 2012, Beschwerde-Nr. 61827/09, K. ./. Deutschland, Rn. 79, 89).
20
c) Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 wollte der
Beschwerdeführer zu II. zumindest die Aussetzung seiner Unterbringung in der
Sicherungsverwahrung zur Bewährung erreichen. Diesen Antrag wies die
Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Marburg mit angegriffenem Beschluss vom
30. August 2011 jedoch zurück. Der Beschwerdeführer zu II. habe es abgelehnt, sich einem
Gutachter zu stellen. Aus konkreten Umständen in seiner Person und in seinem
Vollzugsverhalten sei gleichwohl die Gefahr schwerer Gewalt- und Sexualtaten abzuleiten. Dass
kein Verstoß gegen das allgemeine Vertrauensschutzgebot, sondern „nur“ ein Verstoß gegen
das Abstandsgebot vorliege, wird im Beschluss der Strafvollstreckungskammer im Wesentlichen
ebenso begründet wie in der im Verfahren des Beschwerdeführers zu I. ergangenen
Entscheidung. Die gegen diese Entscheidung gerichtete sofortige Beschwerde verwarf das
Oberlandesgericht Frankfurt am Main mit ebenfalls angegriffenem Beschluss vom 15. November
2011. Dabei wurde insbesondere auf den im Verfahren des Beschwerdeführers zu I. ergangenen
Beschluss verwiesen. Ergänzend führte das Gericht aus, auch der Umstand, dass sich der
Beschwerdeführer zu II. kurzfristig auf freiem Fuß befunden habe, rechtfertige keine andere
Bewertung.
III.
21
1. Der Beschwerdeführer zu I. macht im Wesentlichen eine Verletzung seines Grundrechts aus
Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG geltend. Nach früher geltendem Recht hätte die verhängte Maßregel für
erledigt erklärt werden müssen. Er hätte nach Vollverbüßung der Freiheitsstrafe auf freien Fuß
gesetzt werden müssen. Es gehe daher nicht lediglich um den Übergang von einer Maßregel in
die andere, sondern um die Unterscheidung zwischen Haftentlassung und Unterbringung in der
Sicherungsverwahrung. Bei seiner Verurteilung im Jahr 1992 habe er in keiner Weise mit
nachträglicher Sicherungsverwahrung rechnen müssen, zumal damals die Höchstdauer der
erstmaligen Sicherungsverwahrung noch auf zehn Jahre befristet gewesen sei.
22
2. Der Beschwerdeführer zu II. macht ebenfalls im Wesentlichen eine Verletzung seines
Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG geltend. Obwohl zur Zeit der Verurteilung eine
Verbindung der Maßregeln gemäß § 72 Abs. 2 StGB möglich gewesen sei, habe das Tatgericht
von einer Anordnung der Sicherungsverwahrung abgesehen. Durch die Einführung von § 66b
Abs. 3 StGB fast 20 Jahre später ergebe sich eine rückwirkende Schlechterstellung. Er wäre
nach Strafverbüßung zu entlassen gewesen, da die Voraussetzungen einer Maßregel gemäß
§ 63 StGB nicht vorgelegen hätten. Außerdem könne von einer Überweisung von einer
Maßregel in die andere nicht die Rede sein. Dies ergebe sich schon aus dem Umstand, dass er
sich vor Anordnung der Sicherungsverwahrung bereits wieder in Freiheit befunden habe. Wäre
die Sicherungsverwahrung in der Ausgangsentscheidung angeordnet worden, so hätte sie nach
zehn Jahren geendet. Gegen ihn habe überhaupt nur deshalb die zeitlich unbegrenzte
Sicherungsverwahrung angeordnet werden können, weil er zuvor rechtswidrig im Rahmen der
Maßregel gemäß § 63 StGB der Freiheit beraubt worden sei.
IV.
23
Zu den Verfassungsbeschwerden haben sich das Bundesministerium der Justiz, der 2., 4. und 5.
Strafsenat des Bundesgerichtshofs, der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof und das
Hessische Ministerium der Justiz, für Integration und Europa geäußert. Der Bundestag, der
Bundesrat und die Niedersächsische Landesregierung haben von einer Stellungnahme
abgesehen.
B.
24
Die Verfassungsbeschwerden sind begründet. Die auf § 66b Abs. 3 in der Fassung des
Gesetzes zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung vom 23. Juli 2004 (BGBl I
S. 1838) gestützte nachträgliche Anordnung ihrer Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
verletzt die Grundrechte der Beschwerdeführer aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20
Abs. 3 GG.
I.
25
Das Bundesverfassungsgericht hat - neben den übrigen Vorschriften über Anordnung und Dauer
der Sicherungsverwahrung - auch § 66b Abs. 3 StGB in der Fassung des Gesetzes zur
Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung vom 23. Juli 2004 (BGBl I S. 1838) wegen
Verstoßes gegen das Abstandsgebot für unvereinbar mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit
Art. 104 Abs. 1 GG erklärt (vgl. BVerfGE 128, 326 <330>). Zugleich hat es gemäß § 35 BVerfGG
die Weitergeltung der Normen bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber, längstens bis
zum 31. Mai 2013, angeordnet (vgl. BVerfGE 128, 326 <332>). Danach darf § 66b Abs. 3 StGB
während seiner Fortgeltung nur nach Maßgabe einer - insbesondere im Hinblick auf die
Anforderungen an die Gefahrprognose und die gefährdeten Rechtsgüter - strikten
Verhältnismäßigkeitsprüfung angewandt werden (vgl. BVerfGE 128, 326 <405 f.>; 129, 37
<45 f.>).
26
1. Die Verhältnismäßigkeit der Sicherungsverwahrung wird in der Regel nur unter der
Voraussetzung gewahrt sein, dass eine Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten aus
konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist (vgl.
BVerfGE 128, 326 <406>). Bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung haben die Fachgerichte die
Möglichkeiten einer Führungsaufsicht auszuloten und sich damit auseinanderzusetzen, ob und
inwieweit der Gefährlichkeitsgrad des Betroffenen hierüber reduziert werden kann (vgl. BVerfGE
128, 326 <408>; 129, 37 <46>).
27
2. Soweit darüber hinaus ein nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG
schutzwürdiges Vertrauen auf ein Unterbleiben der Anordnung einer Sicherungsverwahrung
beeinträchtigt wird, ist dies angesichts des damit verbundenen Eingriffs in das Freiheitsrecht des
Betroffenen verfassungsrechtlich nur zum Schutz höchster Verfassungsgüter zulässig. Das
Gewicht der berührten Vertrauensschutzbelange wird dabei durch die Wertungen von Art. 5 und
Art. 7 EMRK verstärkt. Der mit einer nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung
verbundene Eingriff in das Vertrauen des Betroffenen auf das Unterbleiben einer
entsprechenden Unterbringung kann deshalb nur dann als verhältnismäßig angesehen werden,
wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten
Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist und die
Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe e EMRK erfüllt sind. Da die Bestimmung
der Voraussetzungen einer psychischen Störung im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe e
EMRK in erster Linie dem Gesetzgeber obliegt, ist während der Weitergeltung der Vorschriften
über die Sicherungsverwahrung bis zu einer Neuregelung insoweit auf das am 1. Januar 2011 in
Kraft getretene Gesetz zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter
(Therapieunterbringungsgesetz - ThUG) zurückzugreifen (BVerfGE 128, 326 <388 ff.>; 129, 37
<46 f.>).
28
Die Gerichte sind bis zu einer Neuregelung des Rechts der Sicherungsverwahrung gehalten,
über die in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 genannten Fälle (vgl.
BVerfGE 128, 326 <332>) hinaus auch in den Fallkonstellationen, in denen die Anwendung
einer Norm nach Maßgabe der Urteilsgründe (vgl. BVerfGE 128, 326 <388 ff.>) in grundrechtlich
geschütztes, durch die Wertungen von Art. 5 und Art. 7 EMRK gestärktes Vertrauen eingreift, die
Sicherungsverwahrung nur noch dann anzuordnen beziehungsweise aufrechtzuerhalten, wenn
die genannten erhöhten Verhältnismäßigkeitsanforderungen erfüllt sind (vgl. BVerfGE 129, 37
<47>).
29
3. § 66b Abs. 3 StGB ermöglicht die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der
Sicherungsverwahrung, nachdem die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus
gemäß § 67d Abs. 6 StGB für erledigt erklärt worden ist, weil der schuldausschließende oder
schuldmindernde Zustand, auf dem die Anordnung der Maßregel gemäß § 63 StGB beruhte,
nicht oder nicht mehr besteht. Damit greift die Norm in grundrechtlich geschütztes Vertrauen ein.
Dies gilt insbesondere in Fällen, in denen die Betroffenen wegen ihrer Anlasstaten bereits vor
Inkrafttreten der jeweils einschlägigen Neuregelungen verurteilt waren - also in allen von der
rückwirkenden Anwendung der Verlängerung der Zehnjahresfrist gemäß § 67d Abs. 3 Satz 1 in
Verbindung mit § 2 Abs. 6 StGB erfassten Fällen ebenso wie in sämtlichen Fällen der
rückwirkenden nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung (sogenannte Altfälle - vgl.
BVerfGE 128, 326 <395>). Dabei kommt den betroffenen Vertrauensschutzbelangen ein
besonders hohes Gewicht zu, wenn die Anordnung der Maßregel wie im Fall der
Sicherungsverwahrung zu einer unbefristeten Freiheitsentziehung führt und damit einen
schweren - wenn nicht gar den schwersten vorstellbaren - Eingriff in das Grundrecht auf Freiheit
der Person beinhaltet (vgl. BVerfGE 128, 326 <390>).
30
4. Demgegenüber kann nicht darauf verwiesen werden, dass bei Anordnung der Unterbringung
in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 3 StGB lediglich eine „Überweisung“ von einer
zeitlich nicht begrenzten freiheitsentziehenden Maßnahme in eine andere stattfinde (vgl.
BVerfGK 16, 98 <111>) und daher Vertrauensschutzbelange nur nachrangig berührt seien.
31
a) Die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 3 StGB im
Anschluss an eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB
beinhaltet nicht eine bloße Fortführung der vorherigen Maßregel auf veränderter
Rechtsgrundlage, sondern einen neuen, eigenständigen Grundrechtseingriff.
32
Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift. Während § 67a Abs. 1 und Abs. 2 StGB
die Möglichkeit der „Überweisung“ in den Vollzug einer anderen Maßregel nur unter der
Voraussetzung des Fortbestandes der bisherigen Maßregel eröffnet, setzt § 66b Abs. 3 StGB
voraus, dass die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus „für erledigt erklärt
worden ist“, bevor die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung erfolgen
kann. Die Sicherungsverwahrung kann nur angeordnet werden, wenn zuvor die Unterbringung
gemäß § 63 StGB beendet worden ist.
33
Dass die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 3 StGB
nicht als Fortführung der vorherigen Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus
angesehen werden kann, veranschaulicht der Fall des Beschwerdeführers zu II., der sich nach
der Erledigung der Maßregel gemäß § 63 StGB zunächst auf freiem Fuß befand, bevor die
Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet wurde. Eine nochmalige Anordnung
der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus kam demgegenüber nicht in Betracht.
34
b) Der Eigenständigkeit der Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gemäß
§ 66b Abs. 3 StGB entspricht die Ausgestaltung des Anordnungsverfahrens. Während für die
Erledigungserklärung gemäß § 67d Abs. 6 StGB die Strafvollstreckungskammer am Ort der
Unterbringung zuständig ist, obliegt die Anordnung der Unterbringung in der
Sicherungsverwahrung gemäß §?74f Abs. 1 GVG dem Tatgericht. Die Übersendung der Akten
an die zuständige Staatsanwaltschaft erfolgt gemäß § 275a Abs. 1 Satz 3 StPO erst nach der
Erklärung der Erledigung der Unterbringung gemäß § 63 StGB. Für die Zeit bis zur Entscheidung
über die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung kann zunächst das
Vollstreckungsgericht gemäß § 275a Abs. 6 Satz 2 StPO und ab Eingang des Antrags das
Tatgericht gemäß § 275a Abs. 6 Satz 1 StPO einen Unterbringungsbefehl erlassen.
35
c) Hinzu kommt, dass beide Maßregeln sich qualitativ voneinander unterscheiden. Gemäß § 72
Abs. 2 StGB können beide Maßregeln grundsätzlich nebeneinander angeordnet werden, wenn
nicht der erstrebte Zweck bereits durch eine von ihnen zu erreichen ist (§ 72 Abs. 1 StGB). Die
Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus stellt im Vergleich zur
Sicherungsverwahrung kein geringeres, sondern ein anderes Übel dar (vgl. BVerfGK 2, 55 <63>;
16, 98 <111 f.>; vgl. auch BGH, Urteil vom 19. Februar 2002 - 1 StR 546/01 -, NStZ 2002, S. 533
<534>).
36
d) Vor diesem Hintergrund beinhaltet die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der
Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 3 StGB einen Eingriff in die Vertrauensschutzbelange
des Betroffenen, der in seinem Ausmaß dem Eingriff durch die nachträgliche Anordnung der
Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 2 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Reform der
Führungsaufsicht und zur Änderung der Vorschriften über die nachträgliche
Sicherungsverwahrung vom 13. April 2007 (BGBl I S. 513) entspricht, der Gegenstand des
Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 war (vgl. BVerfGE 128, 326 <388 f.>).
Wird im Urteil des Tatgerichts die Sicherungsverwahrung weder angeordnet noch vorbehalten
und existiert zum Urteilszeitpunkt keine Norm, welche die nachträgliche Anordnung der
Unterbringung in der Sicherungsverwahrung ermöglicht, darf der Betroffene grundsätzlich darauf
vertrauen, dass ihm diese Maßregel dauerhaft erspart bleibt. Dies gilt unabhängig davon, ob im
Urteil eine Freiheitsstrafe oder eine andere freiheitsentziehende Maßregel neben oder statt einer
Freiheitsstrafe angeordnet wird. Hinsichtlich der berührten Vertrauensschutzbelange macht es
auch keinen Unterschied, ob die tatsächlichen Umstände, welche die Gefährlichkeit des
Verurteilten begründen, erst nachträglich eintreten oder bekannt werden (§ 66b Abs. 2 StGB)
oder ob auf die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung verzichtet wird,
obwohl diese Umstände im Urteilszeitpunkt bereits bekannt sind (§ 66b Abs. 3 StGB). Auch
wenn die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nur deshalb unterbleibt,
weil das Tatgericht fehlerhaft vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 63 StGB ausgeht
(Fehleinweisung), ist das Vertrauen auf ein dauerhaftes Unterbleiben der Maßregel
grundrechtlich jedenfalls dann geschützt, wenn es an einer gesetzlichen Regelung, die zur
nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung ermächtigt, fehlt.
37
5. Das Gewicht der betroffenen Vertrauensschutzbelange bei nachträglicher Anordnung der
Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 3 StGB wird in Altfällen durch
die Wertungen der Art. 5 und Art. 7 EMRK verstärkt.
38
a) Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat mit seinen Urteilen vom 7. Juni 2012
festgestellt, dass durch die nachträgliche Anordnung der Unterbringung der Beschwerdeführer in
der Sicherungsverwahrung gegen Art. 7 Abs. 1 EMRK verstoßen wurde. Da die
Beschwerdeführer nach der gefestigten Rechtsprechung der innerstaatlichen
Strafvollstreckungsgerichte vor der Gesetzesänderung im Jahr 2004 hätten entlassen werden
müssen, stelle die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung eine neue, zusätzliche
und somit schwerere Strafe im Sinne von Art. 7 Abs. 1 EMRK dar (EGMR, Urteile vom 7. Juni
2012, Beschwerde-Nr. 61827/09, K. ./. Deutschland, Rn. 84 ff. und 65210/09, G. ./. Deutschland,
Rn. 75 ff.). Diese durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorgenommene
Konkretisierung des Art. 7 EMRK ist bei der Prüfung der Verletzung des
Vertrauensschutzgebotes gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG zu
berücksichtigen (vgl. BVerfGE 128, 326 <392>).
39
b) Daneben hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einem weiteren Altfall die
nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 3 StGB als Verstoß
gegen Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstaben a, c und e EMRK gewertet (EGMR, Urteil vom 28. Juni
2012, Beschwerde-Nr. 3300/10, S. ./. Deutschland, Rn. 84 ff.). Eine Rechtfertigung der
Freiheitsentziehung aufgrund Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a EMRK komme nicht in Betracht,
da es an einem hinreichenden Kausalzusammenhang zwischen Verurteilung und Sanktion
fehle. Die Verurteilung habe nicht einmal die Möglichkeit enthalten, den dortigen
Beschwerdeführer später in der Sicherungsverwahrung unterzubringen. Nach der damaligen
fachgerichtlichen Rechtsprechung hätte er bei Wegfall der schuldmildernden oder -
ausschließenden Störung auch bei fortbestehender Gefahr entlassen werden müssen. Auch
eine Rechtfertigung gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstaben c und e EMRK scheide aus (EGMR,
Urteil vom 28. Juni 2012, a.a.O., Rn. 84 ff., 91 ff.).
40
Da Art. 5 Abs. 1 EMRK eine abschließende Auflistung zulässiger Gründe für eine
Freiheitsentziehung enthält (vgl. EGMR, Urteil vom 17. Dezember 2009, Beschwerde-
Nr. 19359/04, M. ./. Deutschland, Rn. 86; EGMR, Urteil vom 19. April 2012, Beschwerde-
Nr. 61272/09, B. ./. Deutschland, Rn. 66 m.w.N.), kommt eine konventionsrechtliche
Rechtfertigung der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 3
StGB in Altfällen nur unter den Voraussetzungen von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe e EMRK in
Betracht (vgl. BVerfGE 128, 316 <396>).
41
c) Ob diese Erwägungen auch auf Neufälle zu übertragen sind, was das
Bundesverfassungsgericht hinsichtlich § 66b Abs. 2 StGB bejaht hat (vgl. BVerfGE 128, 326
<395>), ist vorliegend nicht zu entscheiden. Einer Anwendung von Art. 5 Abs. 1 Satz 2
Buchstabe a EMRK könnte aber auch bei Neufällen entgegenstehen, dass es an einem
hinreichenden Kausalzusammenhang zwischen Verurteilung und Sanktion fehlt (vgl. EGMR,
Urteil vom 24. Juni 1982, Beschwerde-Nr. 7906/77, Van Droogenbroeck ./. Belgien, Rn. 39;
EGMR, Urteil vom 2. März 1987, Beschwerde-Nr. 9787/82, Weeks ./. Vereinigtes Königreich,
Rn. 42 f., 49 f.; EGMR, Urteil vom 17. Dezember 2009, Beschwerde-Nr. 19359/04, M. ./.
Deutschland, Rn. 88; EGMR, Urteil vom 21. Oktober 2010, Beschwerde-Nr. 24478/03,
G. ./. Deutschland, Rn. 44, 50; EGMR, Urteil vom 19. April 2012, Beschwerde-Nr. 61272/09, B. ./.
Deutschland, Rn. 87; EGMR, Urteil vom 13. Januar 2011, Beschwerde-Nr. 6587/04,
Haidn ./. Deutschland, Rn. 84; zu § 66b Abs. 3 StGB: EGMR, Urteil vom 28. Juni 2012, a.a.O.,
Rn. 90). Berücksichtigt man ergänzend, dass § 66b Abs. 3 StGB die nachträgliche Anordnung
der Sicherungsverwahrung auch in Fällen vorsieht, in denen eine originäre Anordnung der
Sicherungsverwahrung gemäß § 66 StGB nicht möglich wäre, wird deutlich, dass die
Anwendung von § 66b Abs. 3 StGB auch in Neufällen Vertrauensschutzbelange tangiert.
42
d) Soweit die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung in Fällen erfolgt, in denen die
Betroffenen wegen ihrer Anlasstaten bereits vor Inkrafttreten von § 66b Abs. 3 StGB in der
Fassung des Gesetzes zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung vom 23. Juli
2004 (BGBl I S. 1838) verurteilt waren, führen die Wertungen der Art. 7 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 1
EMRK jedenfalls dazu, dass sich das Gewicht des Vertrauens der Betroffenen einem absoluten
Vertrauensschutz annähert (vgl. BVerfGE 128, 326 <391>). Eine nachträgliche Anordnung oder
Fortdauer der Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 3 StGB darf daher in diesen Fällen nur
noch ausgesprochen werden, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder
Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des
Untergebrachten abzuleiten ist und dieser an einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1
Nr. 1 des Gesetzes zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter
(Therapieunterbringungsgesetz - ThUG) leidet (BVerfGE 128, 326 <388 ff., 406 f.>; 129, 37
<46 f.>).
II.
43
Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus
Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 3 GG. Sie sind daher
aufzuheben, und die Sache ist zur erneuten Entscheidung zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2
BVerfGG).
44
Die Fortdauer der nachträglich angeordneten Unterbringung der Beschwerdeführer in der
Sicherungsverwahrung genügt den Anforderungen nicht, die sich für eine verfassungsgemäße
Entscheidung auf der Grundlage von § 66b Abs. 3 StGB in der Fassung des Gesetzes zur
Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung vom 23. Juli 2004 (BGBl I S. 1838) aus
den Maßgaben des Urteils vom 4. Mai 2011 ergeben. Die Gerichte verkennen, dass in Altfällen
aufgrund der Beeinträchtigung grundrechtlich geschützten Vertrauens der Eingriff in das
Freiheitsrecht der Beschwerdeführer nur nach Maßgabe strikter Verhältnismäßigkeitsprüfung
und zum Schutz höchster Verfassungsgüter zulässig ist und verletzen dadurch, dass sie eine
Prüfung anhand dieses Maßstabes - die in erster Linie ihnen, nicht dem
Bundesverfassungsgericht, obliegt - nicht vorgenommen haben, das durch das Freiheitsrecht
geschützte Vertrauen der Beschwerdeführer auf ein Unterbleiben der nachträglichen Anordnung
einer Unterbringung in der Sicherungsverwahrung.
45
Das Oberlandesgericht wird deshalb nach den Maßgaben der vom Senat in seinem Urteil vom
4. Mai 2011 nach § 35 BVerfGG getroffenen Übergangsregelung (BVerfGE 128, 326 <332 f.>)
erneut über die Fortdauer der nachträglich angeordneten Unterbringung der Beschwerdeführer
in der Sicherungsverwahrung zu befinden oder deren Freilassung gegebenenfalls unter
Auflagen zu verfügen haben.
C.
46
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Voßkuhle
Lübbe-Wolff
Gerhardt
Landau
Huber
Hermanns
Müller
Kessal-Wulf