Urteil des BVerfG vom 14.03.2017

BVerfG: verfassungskonforme auslegung, mehrheitswahl, drucksache, wahlkreis, verfassungsgeber, wahlrecht, wähler, wahlergebnis, gestaltungsspielraum, ex tunc

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Gericht:
Landesverfassungsgericht
Schleswig-Holstein
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
LVerfG 3/09
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Leitsatz
1. Art. 3 Abs. 3 Satz 1 LV und § 57 LWahlG stehen der Zulässigkeit eines
Normenkontrollverfahrens gegen wahlrechtliche Vorschriften nicht entgegen.
2. Der Verfassungsgeber hat die Zahl der Abgeordneten im Landesparlament
festgelegt (Art. 10 Abs. 2 Satz 1 und 2 LV). Trotz der zugleich vorgesehenen Möglichkeit
der Erhöhung durch Überhang- und Ausgleichsmandate (Art. 10 Abs. 2 Satz 4 LV)
verpflichtet dies den Gesetzgeber, ein Landeswahlrecht zu schaffen, das in der
politischen Realität die Entstehung von Überhang- und ihnen folgend
Ausgleichsmandaten so weit wie möglich verhindert.
3. Das Wahlsystem zum Schleswig-Holsteinischen Landtag ist nach Art. 10 Abs. 2 Satz
3 LV als personalisierte Verhältniswahl ausgestaltet (im Anschluss an BVerfG, Urteil
vom 5. April 1952 - 2 BvH 1/52 - BVerfGE 1, 208 ff.; und Beschluss vom 14. Februar
2005 - 2 BvL 1/05 -, Juris). Der aus dem Grundsatz der Wahlgleichheit des Art. 3 Abs. 1
LV folgende Grundsatz der Erfolgswertgleichheit wird durch die speziellere Vorschrift des
Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV konkretisiert und verstärkt. Als verbundenes und einheitliches
Wahlsystem schließt es ein die Grundsätze der Mehrheits- und Verhältniswahl
nebeneinander stellendes Grabensystem aus.
4. Die im Zusammenspiel von § 1 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2, § 3 Abs. 5 sowie § 16
LWahlG angelegte Möglichkeit der deutlichen Überschreitung der Regelgröße des
Landtages von 69 Abgeordneten bei gleichzeitigem Entstehen ungedeckter Mehrsitze
führt zu einer ungleichen Gewichtung der Wählerstimmen. Dadurch werden sowohl der
Grundsatz der Wahlgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 10 Abs. 2 Satz 5
LV als auch die Verfassungsvorgabe des Art. 10 Abs. 2 Satz 1 und 2 LV, die Regelgröße
von 69 Abgeordneten möglichst nicht zu überschreiten, verfehlt.
Tenor
§ 1 Absatz 1 Satz 2 und Absatz 2, § 3 Absatz 5 und § 16 des Wahlgesetzes für den
Landtag von Schleswig-Holstein in der Fassung der Bekanntmachung vom 7.
Oktober 1991 (Gesetz-und Verordnungsblatt Seite 442, berichtigt Seite 637),
zuletzt geändert durch Gesetz vom 30. März 2010 (Gesetz- und Verordnungsblatt
Seite 392) sind in ihrem Zusammenspiel mit Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit
Artikel 10 Absatz 2 der Landesverfassung unvereinbar.
Gründe
A.
Die Antragsteller wenden sich mit der abstrakten Normenkontrolle gegen § 3 Abs.
5 Satz 3 des Wahlgesetzes für den Landtag von Schleswig-Holstein
(Landeswahlgesetz - LWahlG), der im Falle des Entstehens von
Überhangmandaten einen nur begrenzten Sitzausgleich vorsieht.
I.
1. Die maßgeblichen Vorschriften der Landesverfassung (LV) lauten:
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Artikel 10
Funktion und Zusammensetzung des Landtages
(1) […]
(2) Der Landtag besteht aus fünfundsiebzig Abgeordneten. Ab der 16.
Wahlperiode besteht der Landtag aus neunundsechzig Abgeordneten. Sie
werden nach einem Verfahren gewählt, das die Persönlichkeitswahl mit den
Grundsätzen der Verhältniswahl verbindet. Die in Satz 1 genannte Zahl
ändert sich nur, wenn Überhangoder Ausgleichsmandate entstehen oder
wenn Sitze leer bleiben. Das Nähere regelt ein Gesetz, das für den Fall des
Entstehens von Überhangmandaten Ausgleichsmandate vorsehen muss.
2. § 1 Abs. 1 Satz 1 des Wahlgesetzes für den Landtag von Schleswig-
Holstein(Landeswahlgesetz - LWahlG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 7.
Oktober 1991 (GVOBl S. 442, ber. S. 637), zuletzt geändert durch Gesetz vom 30.
März 2010 (GVOBl S. 392) legt fest, dass der Landtag aus 69 Abgeordneten
vorbehaltlich der sich aus diesem Gesetz ergebenden Abweichungen besteht. § 1
Abs. 2 LWahlG bestimmt, dass jede Wählerin und jeder Wähler zwei Stimmen hat;
eine Erststimme für die Wahl einer Bewerberin oder eines Bewerbers im Wahlkreis,
eine Zweitstimme für die Wahl einer Landesliste. Nach § 1 Abs. 1 Satz 2 LWahlG
werden von der Gesamtzahl der Abgeordneten 40 durch Mehrheitswahl in den
Wahlkreisen und die übrigen durch Verhältniswahl aus den Landeslisten der
Parteien auf der Grundlage der abgegebenen Zweitstimmen und unter
Berücksichtigung der in den Wahlkreisen erfolgreichen Bewerberinnen und
Bewerber gewählt. Hierzu wird das Land in 40 Wahlkreise eingeteilt, § 16 Abs. 1
LWahlG. Die Bevölkerungszahl eines Wahlkreises darf nicht mehr als 25 v. H. von
der durchschnittlichen Bevölkerungszahl der Wahlkreise abweichen (§ 16 Abs. 3
Satz 1 LWahlG). Maßgebend ist die vom Statistischen Amt für Hamburg und
Schleswig-Holstein fortgeschriebene Bevölkerungszahl nach dem Stand vom 30.
Dezember des vierten Jahres vor der Wahl (§ 16 Abs. 3 Satz 2 LWahlG). Im
Wahlkreis ist gewählt, wer die meisten Stimmen erhalten hat, § 2 Satz 1 LWahlG.
6Das weitere Verfahren ist in § 3 LWahlG wie folgt geregelt:
3. Erstmals in der schleswig-holsteinischen Wahlgeschichte seit 1947 ist es bei der
Wahl zum Schleswig-Holsteinischen Landtag vom 27. September 2009 zur
Entstehung „ungedeckter“ Mehrsitze (Überhangmandate) gekommen (vgl. die
Aufstellung „Wahlen in Schleswig-Holstein seit 1947“, Sitzverteilung, Statistisches
Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein 2009). Nach dem endgültigen
Wahlergebnis (Bekanntmachung im Amtsblatt Nr. 44 vom 2. November 2009, S.
1129, Berichtigung im Amtsblatt Nr. 7 vom 15. Februar 2010, S. 214) errang die
CDU einen verhältnismäßigen Sitzanteil von 23 Sitzen, gewann aber zugleich 34
Wahlkreise. Obwohl der Landtag nun aus 95 statt 69 Abgeordneten besteht,
blieben von den elf Mehrsitzen der CDU drei ungedeckt.
9Mehrsitze waren zwar auch schon bei früheren Wahlen entstanden, doch wurden
diese durch die Anzahl an weiteren Sitzen im Rahmen des Verhältnisausgleichs
vollständig gedeckt: Nach dem endgültigen Wahlergebnis von 1992 errang die SPD
einen verhältnismäßigen Sitzanteil von 38 Sitzen, gewann aber zugleich alle 45
Wahlkreise (Amtsbl. S. 292, 295). Im Jahr 2000 errang sie einen verhältnismäßigen
Sitzanteil von 34 Sitzen und gewann 41 Wahlkreise (Amtsbl. S. 206, 219). Die
jeweils errungenen sieben Mehrsitze gingen in den 14 weiteren Sitzen vollständig
auf, der Landtag bestand aus 89 statt 75 Sitzen.
II.
Die Antragsteller beantragen festzustellen,
dass § 3 Abs. 5 Satz 3 des Wahlgesetzes für den Landtag von Schleswig-Holstein
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dass § 3 Abs. 5 Satz 3 des Wahlgesetzes für den Landtag von Schleswig-Holstein
gegen Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 10 Abs. 2 Satz 5 der Landesverfassung
verstößt und nichtig ist.
Zur Begründung tragen sie im Wesentlichen vor, die Wahlgleichheit verlange im
System der mit den Grundsätzen der Verhältniswahl verbundenen
Persönlichkeitswahl, dass jeder Stimme der gleiche Erfolgswert zukomme. Um dies
auch bei der Entstehung von Überhangmandaten sicherzustellen, müsse der
Gesetzgeber nach Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV Ausgleichsmandate vorsehen. Anders
als das Grundgesetz enthalte die Landesverfassung damit eine ausdrückliche
Regelung zu Überhang- und Ausgleichsmandaten. Diese ziele auf „mehr
Gleichheit“, so dass eine Begrenzung der Ausgleichsmandate nicht zulässig sei.
Nur wenn für jedes Überhangmandat ein Ausgleichsmandat zugeteilt werde,
ergebe sich eine Sitzverteilung, die die Proportionalität zwischen
Zweitstimmenanteil und Sitzanteil wahre.
Diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben sei der Gesetzgeber mit § 3 Abs. 5 Satz
2 LWahlG zwar im Grundsatz nachgekommen. Das Wahlergebnis vom 27.
September 2009 zeige jedoch, dass die in § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG enthaltene
Begrenzung der weiteren Sitze zur Verzerrung des Erfolgswerts der
Wählerstimmen und zu einer grundlegenden Änderung der Mehrheitsverhältnisse
im Landtag führe, sobald es zu ungedeckten Mehrsitzen komme. Diese
Verzerrung sei strukturell bedingt. Aufgrund der sich langfristig ergebenden
Verschiebungen im Wahlverhalten mache die vom Gesetzgeber festgelegte Anzahl
der Wahlkreise die Entstehung einer erheblichen Anzahl von Überhangmandaten
von vornherein wahrscheinlich. Je geringer der Anteil der Stimmen derjenigen
Parteien ausfalle, die regelmäßig eine große Anzahl von Wahlkreisen für sich
gewinnen, desto größer sei die Gefahr, dass die Übereinstimmung zwischen
Stimmenverhältnis und Sitzverteilung regelhaft gefährdet sei. Derzeit belaufe sich
das Verhältnis der Wahlkreise in Schleswig-Holstein zur Normgröße des Landtags
von 69 Sitzen bei 40 Wahlkreisen auf knapp 58 %. Zugleich sei der Anteil der auf
die CDU und die SPD zusammen entfallenden Stimmanteile in der Verhältniswahl
2009 auf 56,9 % zurückgegangen.
Mit der Begrenzung des Sitzausgleichs überschreite der Gesetzgeber seinen
Gestaltungsspielraum. Dies gelte unabhängig davon, wie man § 3 Abs. 5 Satz 3
LWahlG auslege. Selbst wenn sich die Annährung an die Proportionalität durch
einen höheren Deckelungsfaktor verbessere (indem man beispielsweise statt des
Doppelten das Dreifache der Mehrsitze nehme), ändere dies nichts daran, dass
zugunsten einer Beschränkung der Größe des Landtags eine - gegebenenfalls
erhebliche - Disproportionalität der Sitzverteilung in Kauf genommen werde.
III.
1. Der Landtag hält den Normenkontrollantrag für unzulässig, solange parallel
noch ein vorrangiges Wahlprüfungsverfahren anhängig sei. Der Antrag sei zudem
unbegründet.
Der Wortlaut des Art. 10 Abs. 2 LV gebiete keinen „Vollausgleich“. Er gebe in Satz
5 zwar vor, dass Ausgleichsmandate vorzusehen seien, besage aber nicht, wie
viele. Insofern habe der Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum.
Entstehungsgeschichtlich sei die im zeitlichen Zusammenhang stehende
Änderung des Landeswahlgesetzes als verfassungskonforme Konkretisierung des
gleichzeitig beschlossenen Art. 10 Abs. 2 LV anzusehen. Obwohl Art. 10 Abs. 2 LV
eine stärkere Berücksichtigung der Grundsätze der Verhältniswahl bezwecke, sei
ein Wahlverfahren allein nach Verhältnismäßigkeitsgrundsätzen ausgeschlossen.
Vielmehr sei vorrangig der in den Elementen der Persönlichkeitswahl zum
Ausdruck kommende Wählerwille zu respektieren. Hier liege in Schleswig-Holstein
traditionell und historisch gewachsen ein deutliches Mehrgewicht.
Die Einschränkung der verhältniswahlrechtlichen Erfolgswertgleichheit aller
abgegebenen Stimmen bei der Entstehung nicht vollständig ausgeglichener
Überhangmandate durch § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG sei im System der vom
schleswigholsteinischen Verfassungsgeber vorgesehenen, um Elemente der
Verhältniswahl ergänzten Persönlichkeitswahl angelegt. Der Erfolgswertgleichheit
komme hier nur eine von vornherein begrenzte Tragweite zu, weil der Proporz nach
Zweitstimmen nicht zum ausschließlichen Verteilungssystem erhoben werde. § 3
Abs. 5 Satz 3 LWahlG diene zudem dem verfassungsrechtlich anerkannten Zweck,
die Funktionsfähigkeit des Parlaments durch Begrenzung des Anwachsens der
Zahl seiner Mitglieder zu gewährleisten. Die Entscheidung, ab wann eine
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Zahl seiner Mitglieder zu gewährleisten. Die Entscheidung, ab wann eine
Vergrößerung des Landtags nicht mehr hinnehmbar sei, obliege dem Gesetzgeber
im Rahmen seines weiten Gestaltungsspielraums.
2. Die Landesregierung hat das ihr zustehende Äußerungsrecht nicht
wahrgenommen.
3. Das Gericht hat der Landeswahlleiterin sowie den im Landtag vertretenen
Fraktionen Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.
a) Die Landeswahlleiterin weist darauf hin, dass bei Anwendung des § 3 Abs. 5
LWahlG auf die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung zum inhaltsgleichen § 10
Abs. 4 des Gesetzes über die Wahlen in den Gemeinden und Kreisen in Schleswig-
Holstein (Gemeinde- und Kreiswahlgesetz - GKWG) in der Fassung vom 19. März
1997 (GVOBl S. 151), zuletzt geändert durch Gesetz vom 16. September 2009
(GVOBl S. 572) zurückzugreifen sei, der als Vorbild für § 3 Abs. 5 LWahlG gedient
habe. Danach seien Parteien, die über Mehrsitze verfügen, in den (weiteren)
Verhältnisausgleich einzubeziehen, so dass bei der Verteilung der „weiteren Sitze“
auch die noch nicht verbrauchten Höchstzahlen der „Mehrsitzpar-teien“ zu
verwenden seien.
Der dem Gesetzgeber für die Verbindung der beiden in Art. 10 Abs. 2 Satz 3 LV
vorgesehenen Wahlsysteme eingeräumte Gestaltungsspielraum sei gewahrt und
dessen Ausgestaltung mit dem Grundsatz der Wahlgleichheit vereinbar.
Maßgeblich sei allein, dass die Wahlgleichheit in jedem der beiden miteinander
verbundenen Wahlsysteme jeweils für sich betrachtet eingehalten werde. Wenn für
das Bundesrecht anerkannt sei, dass sich das System der Mehrheitswahl
gegenüber dem der Verhältniswahl so weit durchsetzen dürfe, dass bei Zulassung
von Überhangmandaten keinerlei Ausgleich gewährt werde, müsse auch die vom
Landesgesetzgeber gewählte „Zwischenlösung“ mit einem nur begrenzten
Verhältnisausgleich zulässig sein. Für den Ausgleich von Überhangmandaten
räume Art. 10 Abs. 2 LV dem Gesetzgeber einen Gestaltungsspielraum ein. Der
Verfassungsgeber habe hier bewusst keine Festlegung getroffen, um mit Blick auf
die Funktionsfähigkeit des Parlaments eine Begrenzung zu ermöglichen.
b) Die FDP- Fraktion unterstützt die Auslegung des § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG durch
die Landeswahlleiterin. Der Gesetzgeber habe eine sachlich begründete und
verfassungskonforme Ausgleichsregelung geschaffen. Die Verfassung gebe
lediglich vor, dass eine Regelung zu Ausgleichsmandaten vorzusehen sei
einschließlich der Möglichkeit zu deren Begrenzung etwa im Interesse der
Funktionsfähigkeit des Parlaments. Bei dem gewählten Ausgleichsverfahren müsse
es sich nicht um das bestmögliche handeln, es müsse sich gegenüber dem
Wahlwettbewerb lediglich neutral verhalten. Ob es daneben sinnvollere
Ausgestaltungsmöglichkeiten gebe oder ob in der Vergangenheit bereits versucht
worden sei, die konkrete Ausgestaltung des vorgegebenen Wahlsystems zu
ändern, sei bei der Auslegung und Bewertung des gegenwärtig geltenden
Wahlrechts unerheblich.
B.
Der Rechtsweg zum Landesverfassungsgericht ist eröffnet. Es handelt sich um
einen Antrag nach Art. 44 Abs. 2 Nr. 2 LV, § 3 Nr. 2 LVerfGG.
Der Normenkontrollantrag ist auch zulässig. Die Antragsteller sind gemäß Art. 44
Abs. 2 Nr. 2 LV, § 39 LVerfGG antragsberechtigt. Sie machen Zweifel an der
Vereinbarkeit einer Norm des Landesrechts, nämlich § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG, mit
der Landesverfassung geltend (§ 40 Nr. 1 LVerfGG).
Anders als im vorangegangenen Verfahren auf Erlass einer einstweiligen
Anordnung (Beschluss vom 15. Oktober 2009 - LVerfG 4/09 -, NordÖR 2009, 450,
Juris) stehen Art. 3 Abs. 3 LV und § 57 LWahlG der Zulässigkeit des
Hauptsacheantrags nicht entgegen. Ihr Anwendungsbereich ist nicht eröffnet.
Anderenfalls würde die Zulässigkeit der gerichtlichen Normenkontrolle vom
zufälligen Zeitpunkt ihrer Einleitung beziehungsweise der gerichtlichen
Entscheidung abhängig gemacht.
Nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 LV steht die Wahlprüfung dem Landtag zu. Seine
Entscheidung unterliegt der gerichtlichen Kontrolle (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 LV). § 57
LWahlG bestimmt, dass Entscheidungen und Maßnahmen, die sich unmittelbar auf
das Wahlverfahren beziehen, nur mit den Rechtsbehelfen angefochten werden
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das Wahlverfahren beziehen, nur mit den Rechtsbehelfen angefochten werden
können, die in diesem Gesetz und in den aufgrund dieses Gesetzes erlassenen
Verordnungen sowie im Wahlprüfungsverfahren vorgesehen sind. Eingeschränkt ist
damit die Anfechtung solcher Entscheidungen und Maßnahmen, die die
zuständigen Wahlorgane und -behörden auf der Grundlage der geltenden
Wahlrechtsnormen im Rahmen eines konkreten Wahlverfahrens getroffen haben
(Beschluss vom 15. Oktober 2009 a.a.O., Juris Rn. 18 m.w.N.). Hierzu gehört auch
die Ermittlung und Feststellung des Wahlergebnisses.
Mit der begehrten einstweiligen Anordnung wäre es zu einer vorgezogenen
gerichtlichen Wahlprüfung gekommen, die sich unmittelbar auf das laufende
Wahlverfahren und die Feststellung des Wahlergebnisses ausgewirkt hätte. Denn
Ziel des Antrags war die vorläufige Nichtanwendung des § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG.
Dies hätte zu einer wahlbezogenen Rechtskontrolle geführt, die § 57 LWahlG
gerade vermeiden will, um einen reibungslosen Ablauf der Landtagswahl zu
gewährleisten (Beschluss vom 15. Oktober 2009 a.a.O., Juris Rn. 18 m.w.N.).
Demgegenüber bezieht sich das in der Hauptsache eingeleitete Normenkontroll-
verfahren nicht auf den Vollzug wahlrechtlicher Normen im Rahmen eines
konkreten Wahlverfahrens, sondern auf die dem Vollzug zugrunde liegende Norm.
Ziel des Hauptsacheverfahrens ist nicht der Eingriff in eine laufende Wahlprüfung,
sondern die in die Zukunft gerichtete Überprüfung einer Norm des
Landeswahlrechts; es weist mithin einen anderen Streit- und
Verfahrensgegenstand auf (vgl. § 43 Abs. 2 Satz 1 LVerfGG). Die Ungültigkeit einer
Wahl oder die Unrichtigkeit des Wahlergebnisses können nur in einem
Wahlprüfungsverfahren festgestellt werden. Sie ergeben sich auch nicht aus einer
in einem anderen Verfahren festgestellten Verfassungswidrigkeit des
Wahlgesetzes (vgl. , Wahlprüfung in Deutschland, 2005, S. 161 f. m.w.N.;
, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen im Öffentlichen Recht,
1995, S. 575 f.; , in: Alternativkommentar zum Grundgesetz, 3. Aufl.
2001, Art. 41 Rn. 8 ; , in: , GG, Bd II, 2002,
Art. 41 Rn. 12, 29 m.w.N.; , Bundeswahlrecht, 3. Aufl. 1976, S. 415).
C.
Der Antrag ist nur zum Teil begründet.
Ob die zahlenmäßige Begrenzung des Mehrsitzausgleichs in § 3 Abs. 5 Satz 3
LWahlG für sich betrachtet gegen den Grundsatz der Wahlgleichheit verstößt, kann
dahinstehen. Jedenfalls führt § 3 Abs. 5 LWahlG im Zusammenspiel mit den
Regelungen in § 1 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 und § 16 LWahlG in der mittlerweile
eingetretenen politischen Realität derzeit und in Zukunft dazu, dass der Landtag
die in Art. 10 Abs. 2 Satz 2 LV vorgeschriebene Abgeordnetenzahl von 69
regelmäßig verfehlt und so Überhangmandate und ihnen folgend
Ausgleichsmandate erst in einem nicht mehr vertretbaren Ausmaß entstehen
können. Dies ist mit der Verfassung (Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 10 Abs. 2
LV) unvereinbar. Eine verfassungskonforme Auslegung der Regelungen in § 1 Abs.
1 Satz 2 und Abs. 2, § 3 Abs. 5 und § 16 LWahlG ist nicht möglich.
I.
Streitig ist, wie der Begriff „weitere Sitze“ in § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG zu verstehen
ist, insbesondere, ob die zahlenmäßige Begrenzung der weiteren Sitze zu einem
nur „kleinen“ oder zu einem „großen Ausgleich“ führt. Als unklar gilt auch, wie sich
die Regelungen in § 3 Abs. 5 Satz 1 und in Satz 2 LWahlG zueinander verhalten.
Diese Fragen bedürfen hier zunächst keiner Klärung. Bei der abstrakten
Normenkontrolle ist die Auslegung des einfachen Rechts einer
verfassungsgerichtlichen Kontrolle entzogen. Das Gericht legt seiner Prüfung
vielmehr diejenige Auslegung zu Grunde, die die verfahrensgegenständliche
Vorschrift in der Rechtspraxis und insbesondere in der fachgerichtlichen
Rechtsprechung gefunden hat. Eine andere Auslegung kommt lediglich dann in
Frage, wenn sich die Norm gerade in der Auslegung der Rechtspraxis als mit der
Verfassung unvereinbar erweist und eine andere, verfassungskonforme Auslegung
möglich ist (Urteil vom 26. Februar 2010 - LVerfG 1/09 -, NordÖR 2010, 155 ff. =
Die Gemeinde SH 2010, 79 ff. = SchlHA 2010, 131 ff., Juris Rn. 52 m.w.N.; vgl.
auch BVerfG, Urteil vom 23. November 1999 - 1 BvF 1/94 - BVerfGE 101, 239 ff.,
Juris Rn. 79 m.w.N.).
In der wahlrechtlichen Praxis wird § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG im Sinne eines „kleinen
Ausgleichs“ ausgelegt und angewendet. Verwiesen wird dabei auf die
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Ausgleichs“ ausgelegt und angewendet. Verwiesen wird dabei auf die
Entstehungsgeschichte der Norm und auf die Rechtsprechung der
Verwaltungsgerichtsbarkeit zur Parallelvorschrift des § 10 Abs. 4 GKWG.
1. Bei der Wahl zum Schleswig-Holsteinischen Landtag vom 27. September 2009
ist wie folgt verfahren worden: Die CDU errang über die Mehrheitswahl in den
Wahlkreisen nach § 2 LWahlG elf Sitze mehr als ihr bei verhältnismäßiger
Aufteilung der 69 vorgesehenen Sitze nach ihrem Zweitstimmenanteil für die
Landesliste zugestanden hätten. Diese Sitze waren ihr nach § 3 Abs. 5 Satz 1
LWahlG (als Mehrsitze oder Überhangmandate) zu belassen. Zur
Wiederherstellung der verhältnismäßigen Sitzanteile wurden 22 weitere Sitze nach
dem in § 3 Abs. 5 Satz 2 und 3 LWahlG beschriebenen Verfahren verteilt und
besetzt. Bei der Verteilung dieser weiteren Sitze nach dem d’Hondtschen
Verfahren (Höchstzahlenverfahren, § 3 Abs. 3 Satz 2 LWahlG) wurden die
nächstfolgenden acht auf die CDU entfallenden Höchstzahlen einbezogen. Die sich
daraus ergebenden acht weiteren, über die Wahlkreise errungenen Sitze wurden
wiederum auf den verhältnismäßigen Sitzanteil angerechnet und entsprechend
besetzt (§ 3 Abs. 4 LWahlG). Auf diese Weise ergaben sich zusätzlich zu den 69
Sitzen 22 weitere Sitze, insgesamt also 91 Sitze (§ 3 Abs. 5 Satz 2 und 3 LWahlG),
in denen die acht Mehrsitze der CDU enthalten waren, die nach dem Ausgleich
durch ihren verhältnismäßigen Sitzanteil gedeckt waren, sowie 14 weitere Sitze für
die anderen Fraktionen (Ausgleichsmandate). Dies hatte zur Folge, dass drei
Mehrsitze auch nach dem Ausgleich ungedeckt blieben. Die sich so ergebende
erhöhte Gesamtsitzzahl von 94 wurde gemäß § 3 Abs. 5 Satz 4 LWahlG auf die
ungerade Zahl 95 erhöht (Amtsbl. 2009 S. 1129, 1139).
Diese Verfahrensweise bestätigte die Landeswahlleiterin im Rahmen ihres
Vorprüfungsberichts vom 14. Dezember 2009 und verwies zur Begründung -
ebenso wie in ihren späteren Stellungnahmen - auf die Entstehungsgeschichte des
§ 3 Abs. 5 LWahlG und dessen Systematik (siehe Landtags-Umdruck 17/117, S.
37). Bereits anlässlich der Ausschussberatung eines früheren Entwurfs für eine
Änderung des Landeswahlgesetzes (Landtags-Drucksache 16/2152) hatte die Lan-
deswahlleiterin erklärt, dass sie sich bei der Anwendung des § 3 Abs. 5 LWahlG an
die mittlerweile gefestigte Rechtsprechung der schleswig-holsteinischen
Verwaltungsgerichtsbarkeit zu der parallel im Kommunalwahlrecht geltenden
Regelung des § 10 Abs. 4 GKWG halte. Die Rechtslage sei deshalb so geklärt, wie
sie auch das Innenministerium im Rahmen der Kommunalwahl immer vertreten
habe (IR 16/103, Sitzung vom 3. Juni 2009, S. 10).
2. Fachgerichtliche Rechtsprechung zu § 3 Abs. 5 LWahlG findet sich nicht. Die
Rechtsprechung der schleswig-holsteinischen Verwaltungsgerichtsbarkeit zu § 10
Abs. 4 GKWG kommt zum gleichen Ergebnis wie die dargestellte Praxis. Das
Verwaltungsgericht folgerte ursprünglich aus dem Urteil des Schleswig-
Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts vom 22. November 2000 (- 2 L 25/00 -,
NordÖR 2001, 69 ff. = NVwZ-RR 2001, 529 f. = Die Gemeinde SH 2001, 69 =
SchlHA 2001, 190, Juris Rn. 38), dass die für den Verhältnisausgleich maßgeblichen
Mehrsitze nicht auf die weiteren Sitze anzurechnen seien (vgl. VG Schleswig, Urteil
vom 15. Dezember 2005 - 6 A 237/05 -). Nach der Kommunalwahl im Mai 2008
änderte es seine Auffassung zur Sitzverteilung ausdrücklich. Seitdem interpretiert
das Verwaltungsgericht § 10 Abs. 4 Satz 2 GKWG dahingehend, dass bei dem
Verhältnisausgleich auf sämtliche nachfolgenden Höchstzahlen, die nach der auf
den letzten regulären Sitz entfallenden Höchstzahl kämen, weitere Sitze zu
verteilen seien. Der „weitere Sitz“ sei der Oberbegriff für Mehrsitze und für
Ausgleichsmandate, die sich aus der Weiterrechnung ergäben (vgl. Urteil vom 18.
Dezember 2008 - 6 A 150/08 -; ebenso Urteil vom 2. Juni 2009 - 6 A 162/08 -).
Dem schloss sich das Oberverwaltungsgericht an (vgl. Beschluss vom 15.
September 2009 - 2 LA 36/09 -, Juris Rn. 7 f.). Auch die Kommentarliteratur zu § 10
GKWG stimmt mit der Praxis der Landeswahlleiterin und der zitierten
Rechtsprechung überein (vgl. , GKWG, in: Praxis der
Kommunalverwaltung, Dezember 2007, § 10 Anm. 5).
3. Der verfassungsrechtlichen Überprüfung ist nach alledem eine Auslegung des §
3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG zugrunde zu legen, die nur einen „kleinen Ausgleich“
erlaubt, bei dem die Mehrsitze in den Verhältnisausgleich nach § 3 Abs. 5 Satz 2
LWahlG durch Verteilung weiterer Sitze auf die nächstfolgenden Höchstzahlen
einzubeziehen sind; „weitere Sitze“ sind danach nicht nur Ausgleichssitze, sondern
auch die bereits errungenen Mehrsitze.
II.
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Anders als das Grundgesetz für den Bundestag (vgl. Art. 38 GG) enthält die
Landesverfassung neben der Festlegung auf die allgemeinen
Wahlrechtsgrundsätze in Art. 3 Abs. 1 LV verschiedene Regelungen über die
Besetzung des Landtages und die Wahlen hierzu in Art. 10 Abs. 2 LV. Die
Verfassungsbestimmung des Art. 10 Abs. 2 LV gibt nicht nur das Wahlsystem für
die Landtagswahl vor. Sie verpflichtet zugleich den Gesetzgeber ein
Landeswahlrecht zu schaffen, das in der politischen Realität die Entstehung von
Überhang- und ihnen folgend Ausgleichsmandaten so weit wie möglich verhindert,
um so seine weitere Vorgabe, nämlich die Zahl von möglichst nicht mehr als 69
Abgeordneten, einzuhalten.
Während Art. 10 Abs. 2 Satz 1 und 2 LV die Anzahl der für den Landtag
vorgesehenen Abgeordneten festlegen, sieht Satz 4 vor, dass sich diese Zahl
ändert, wenn nach einer Wahl Überhang- oder Ausgleichsmandate entstehen oder
Sitze leer bleiben. Art. 10 Abs. 2 Satz 3 LV bestimmt als Wahlsystem eine
Verbindung der Persönlichkeitswahl mit den Grundsätzen der Verhältniswahl.
Daran anknüpfend macht Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV eine weitere Vorgabe für den
Gesetzgeber: Für den Fall des Entstehens von Überhangmandaten muss das
Wahlgesetz Ausgleichsmandate vorsehen. Diese Vorgabe dient der Wahrung und
Stärkung des Grundsatzes der Wahlgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 LV. Sie macht die
Ausgleichsmandate „verfassungsfest“. Der Gesetzgeber hat dafür Sorge zu
tragen, dass die in der Verhältniswahl angelegte Übereinstimmung zwischen
Stimmenverhältnis und Sitzverhältnis wieder hergestellt wird und es so bei einer
repräsentativen Wiedergabe des Wählerwillens bleibt, und zwar unter der Vorgabe,
dass die Größe des Landtages die Sitzzahl von 69 Abgeordneten möglichst
erreicht, allenfalls geringfügig übersteigt.
1. Nachdem die Zahl der Abgeordneten zunächst mit 75 festgelegt worden war
(Art. 10 Abs. 2 Satz 1 LV), erfolgte zur 16. Wahlperiode durch Gesetz vom 13. Mai
2003 (GVOBl S. 279) eine Absenkung auf 69 Abgeordnete (Art. 10 Abs. 2 Satz 2
LV). Auch wenn sich weder aus dem Nebeneinander dieser beiden Aussagen noch
aus den originären Gesetzesmaterialien ergibt, dass der Verfassungsgeber damit
eine zahlenmäßig unbedingt verbindliche Zielvorgabe treffen wollte, zeigt sich
doch sowohl am Wortlaut als auch an den weiteren Debatten im Landtag, welche
Bedeutung er dieser Festlegung in Art. 10 Abs. 2 Satz 1 und 2 LV beimisst.
a) Bereits der Umstand, dass die Vorgabe von 75 Abgeordneten in Art. 10 Abs. 2
Satz 1 LV nicht durch die nun geltende Zahl von 69 Abgeordneten ersetzt,
sondern diese neue Vorgabe zusätzlich in die Verfassung aufgenommen wurde,
zeigt, dass der Verfassungsgeber eine deutliche Verkleinerung des Landtages
gewollt hat. In dem Nebeneinander dieser beiden Zielgrößen wird eine Tendenz
aufgezeigt. Insgesamt kommt damit die Erwartung des Verfassungsgebers zum
Ausdruck, dass der Landtag die Zahl von 69 Abgeordneten regelmäßig nicht
überschreiten soll. Als Regelgröße verstanden folgt daraus, dass die Entstehung
von Überhangmandaten - und der damit einhergehende Anfall von
Ausgleichsmandaten - zu begrenzen ist. Zu einer Überschreitung soll es nur
ausnahmsweise und dann nur in geringem Maße kommen.
b) Dies wird durch die Entstehungsgeschichte bestätigt. Die erste Festschreibung
der Abgeordnetenzahl in der Verfassung beruhte auf einem entsprechenden
Vorschlag der Enquete-Kommission für eine neue Landesverfassung vom 7.
Februar 1989 (Landtags-Drucksache 12/180). Die Abgeordnetenzahl sollte
ungerade sein und im Interesse verfassungspolitischer Kontinuität nicht zur
Disposition der jeweiligen Regierungsmehrheit stehen. Bei der Anzahl selbst
orientierte man sich an den seit 1947 im Landeswahlgesetz vorgesehenen Zahlen
von 70, 69, 73 und zuletzt 74 Abgeordneten (Landtags-Drucksache 12/180, S. 153
ff.), die bis dahin noch nie überschritten worden waren (vgl. die Aufstellung
„Wahlen in Schleswig-Holstein seit 1947“, Sitzverteilung, Statistisches Amt für
Hamburg und Schleswig-Holstein 2009). Die von der Enquete-Kommission
vorgeschlagene Zahl von 75 Abgeordneten wurde im weiteren Verlauf der
Verfassungsreform nicht mehr diskutiert.
Zu einer Diskussion kam es jedoch nach der Wahl zum 13. Landtag 1992, bei der
die SPD sämtliche 45 Direktmandate gewann und sich die Zahl der Abgeordneten
von 75 auf 89 erhöhte. Eine interfraktionelle Verhandlungsgruppe sollte klären, wie
man eine solche Vergrößerung des Landtages durch Überhangmandate künftig
verhindern könne. CDU- und FDP- Fraktion reagierten mit einem (später
abgelehnten) Gesetzentwurf, mit dem unter anderem die Zahl der Wahlkreise von
42
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abgelehnten) Gesetzentwurf, mit dem unter anderem die Zahl der Wahlkreise von
45 auf 37 reduziert werden sollte (Landtags-Drucksache 13/2026), um zu
gewährleisten, dass der Landtag auch in Zukunft nur die in der Verfassung
vorgesehenen 75 Abgeordneten habe und nicht weiter vergrößert werde. Schon
nach Auffassung der Enquete-Kommission sei die Funktion des Landtages mit 75
Abgeordneten am besten gewährleistet; mehr als 75 Abgeordnete würden die
Effizienz nicht mehr steigern (PlPr 13/65, S. 4431 f., 4438). Nach Auffassung der
SPD- Fraktion war die Zahl von 75 Abgeordneten kein exaktes Ziel, sondern nur
eine Ausgangszahl, die sich durch Überhang- und Ausgleichsmandate erhöhe, so
dass auch 89 Abgeordnete noch von der Verfassung gedeckt seien (PlPr 13/65, S.
4436, 4447). Zugleich gab sie aber Anfang 1994 ein Gutachten des
Wissenschaftlichen Dienstes in Auftrag und beantragte im Landtag eine Prüfung
durch den Innen- und Rechtsausschuss, durch welche rechtlichen Maßnahmen bei
künftigen Wahlen „die Zahl von 75 Landtagsmandaten nicht oder nicht wesentlich
überschritten“ werden würde (Landtags-Drucksache 13/2003).
Nachdem der 15. Landtag nach der Wahl im Jahr 2000 erneut auf 89 Abgeordnete
angewachsen war, brachte die FDP- Fraktion einen Gesetzentwurf zur Änderung
des Wahlgesetzes ein. Dieser Gesetzentwurf sah unter anderem eine Reduzierung
der Zahl der Wahlkreise vor (Landtags-Drucksache 15/55), um so „der Verfassung
zu mehr Verfassungswirklichkeit zu verhelfen“. Nur so sei zu gewährleisten, dass
die Einhaltung der verfassungsmäßig vorgegebenen Zahl von Abgeordneten kein
Zufall bleibe, sondern zur Regel werde (PlPr 15/2, S. 74). In der nachfolgenden
Debatte waren sich die Abgeordneten darüber einig, dass die Anzahl von 75
Abgeordneten „regulär und angemessen“ sei und eine „funktionsfähige Größe“
darstelle (PlPr 15/2, S. 76, 81). In der 2. Lesung sprach man von einem
„Verfassungsziel“ und von einer „Regelgröße“, die nicht erheblich überschritten
werden dürfe (PlPr 15/76, S. 5731, 5735). Mit Blick auf die mittlerweile geplante
Absenkung auf 69 Abgeordnete zog der Abgeordnete Kubicki in Erwägung, ob der
Gesetzgeber nicht von Verfassungs wegen gezwungen sei, das Wahlrecht so
auszugestalten, dass die vorgegebene Sollzahl optimal erreicht werde. Jedenfalls
dürfe sich der Gesetzgeber von den Verfassungsgrundsätzen nicht entfernen (PlPr
15/76, S. 5736). Ebenso bestand schließlich während der Debatte zur
Verfassungsänderung von 2003 Einigkeit darüber, dass es sich auch bei der Zahl
von 69 Abgeordneten um eine regulär vorgesehene Zahl handeln könne, die sich
im Einzelfall durch Überhang- und Ausgleichsmandate erhöht. Die Verkleinerung
des Landtags war zwar im Wesentlichen motiviert durch eine erforderlich
gewordene Diätenstrukturreform (vgl. IR 15/75, S. 13 und PlPr 15/86, Redebeiträge
Puls, S. 6549; Kubicki, S. 6559; Hinrichsen, S. 6300, 6557), doch sollte es jedenfalls
im Ergebnis nicht noch einmal zu einem Anwachsen des Landtags auf 89
Abgeordnete kommen. Als erstrebenswert wurde vielmehr eine endgültige Größe
von höchstens 75 bis 77 Abgeordneten erachtet (PlPr 15/83, S. 6294 ff. und 15/86,
S. 6548 ff.).
2. Als weitere Verfassungsvorgabe schreiben Art. 10 Abs. 2 Satz 3 bis 5 LV das
Wahlsystem zum Schleswig-Holsteinischen Landtag vor. Dieses lässt sich als
„personalisierte Verhältniswahl“ charakterisieren und stellt ein verbundenes
einheitliches Wahlsystem dar (Art. 10 Abs. 2 Satz 3 LV). In dem so
charakterisierten Wahlsystem kommt dem aus dem Grundsatz der Wahlgleichheit
des Art. 3 Abs. 1 LV folgenden Grundsatz der Erfolgswertgleichheit nicht eine nur
begrenzte, sondern eine das einheitliche Wahlsystem insgesamt umfassende
Bedeutung zu. Dementsprechend konkretisiert und verstärkt die speziellere
Vorschrift des Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV den aus dem Grundsatz der Wahlgleichheit
des Art. 3 Abs. 1 LV folgenden Grundsatz der Erfolgswertgleichheit. Insoweit
verbleibt dem Gesetzgeber nur ein eingeschränkter Gestaltungsspielraum.
a) Die Wahlgrundsätze des Art. 3 Abs. 1 LV stimmen überein mit denjenigen, die
nach Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG für die Wahlen zum Bundestag gelten. Zur
Übernahme dieser Grundsätze war der Landesverfassungsgeber im Rahmen des
Homogenitätsgebots gemäß Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG verpflichtet. Dies befolgend
sind sie 1949 in die Landessatzung aufgenommen worden (vgl. Urteil vom 26.
Februar 2010 - LVerfG 1/09 -, NordÖR 2010, 155 ff. = Die Gemeinde SH 2010, 79
ff. = SchlHA 2010, 131 ff., Juris Rn. 32 f.; Begründung der Landtagsvorlage 263/3 S.
188, VII.; , DV 1950, 129 <131>). Deshalb kann für die Auslegung des Art. 3
Abs. 1 LV auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 38 Abs.
1 Satz 1 GG zurückgegriffen werden (vgl. BVerfG, Urteil vom 13. Februar 2008 - 2
BvK 1/07 - BVerfGE 120, 82 ff., Juris Rn. 95 m.w.N.), soweit sich aus den
Wahlsystemen keine entscheidenden Unterschiede ergeben. Bei der
Ausgestaltung des Wahlsystems genießen die Länder im Rahmen der Bindung an
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Ausgestaltung des Wahlsystems genießen die Länder im Rahmen der Bindung an
die Grundsätze des Art. 28 GG einen autonomen Spielraum (BVerfG, Beschluss
vom 16. Juli 1998 - 2 BvR 1953/95 - BVerfGE 99, 1 ff., Juris Rn. 46; Urteil vom 8.
Februar 2001 - 2 BvF 1/00 - BVerfGE 103, 111 ff., Juris Rn. 90; und Beschluss vom
14. Februar 2005 - 2 BvL 1/05 -, NordÖR 2005, 106 ff. = NVwZ 568 ff., = SchlHA
2005, 128 ff., Juris Rn. 29, Juris Rn. 29; vgl. auch in: ,
Grundgesetz - Kommentar - Band II, 2. Aufl. 2006, Art. 28 Rn. 70; , in:
, Verfassung des Landes Schleswig-Holstein,
Kommentar, 2006, Art. 3 Rn. 30; , in: ,
Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, Kommentar, Art. 10 Rn. 64).
Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl sichert die vom Demokratieprinzip
vorausgesetzte Egalität der Staatsbürger und gebietet, dass alle Staatsbürger das
aktive und passive Wahlrecht in möglichst gleicher Weise ausüben können.
Historisch betrachtet verbietet er für das aktive Wahlrecht eine unterschiedliche
Gewichtung der Stimmen etwa nach Vermögensverhältnissen,
Klassenzugehörigkeit, nach Bildung, Religion oder Geschlecht. Heute ist er im
Sinne einer strengen und formalen Gleichheit zu verstehen. Daraus folgt für das
Wahlgesetz, dass die Stimme einer und eines jeden Wahlberechtigten
grundsätzlich den gleichen Zählwert und die gleiche Erfolgschance haben muss.
Alle Stimmen sollen den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis haben (BVerfG,
Urteile vom 10. April 1997 - 2 BvF 1/95 -BVerfGE 95, 335 ff., Juris Rn. 67; vom 13.
Februar 2008 - 2 BvK 1/07 - BVerfGE 120, 82 ff., Juris Rn. 97; und vom 3. Juli 2008 -
2 BvC 1/07 u.a. - BVerfGE 121, 266 ff., Juris Rn. 91 f.). Dieser lässt sich naturgemäß
nur anhand einer ex post Betrachtung ermitteln (vgl. , JZ 2002, 469 <472>).
Die Wahlgleichheit ist nach allgemeiner Auffassung kein Kriterium für die Auswahl
des Wahlsystems, sondern bildet lediglich die Grundlage für dessen Ausgestaltung
(vgl. , Bundeswahlgesetz, 8. Aufl. 2009, § 1 Rn. 42; kritisch ,
DVBl. 1997, 737 <740>). Innerhalb der verschiedenen Wahlsysteme wirkt sie sich
unterschiedlich aus (vgl. BVerfG, Urteil vom 10. April 1997 a.a.O., Juris Rn. 68;
Beschluss vom 14. Februar 2005 a.a.O., Juris Rn. 29; und Urteil vom 13. Februar
2008 a.a.O., Juris Rn. 98; vgl. auch , Die Gleichheit der Wahl, 2003, S. 208 ff.),
je nach dem, ob das Wahlsystem personen- oder parteibezogen ist (vgl. ,
AöR 123 - 1998 - 233 <241 f.>). Maßgeblich ist stets, dass im Ergebnis keine
unsachliche Differenzierung des Stimmgewichts erfolgen darf (vgl. , a.a.O.,
Art. 3 Rn. 36 ff.).
aa) Da die Mehrheitswahl die enge persönliche Beziehung der Abgeordneten zum
Wahlkreis sichert, führen nur die für die Mehrheitskandidatin oder den
Mehrheitskandidaten abgegebenen Stimmen zur Mandatszuteilung, während die
auf Minderheitskandidaten entfallenden Stimmen unberücksichtigt bleiben. Hier
müssen - ex ante betrachtet - alle Wählerinnen und Wähler über den gleichen
Zählwert ihrer Stimmen hinaus die gleiche Erfolgschance haben, indem sie auf der
Grundlage möglichst gleich großer Wahlkreise und von daher mit annähernd
gleichem Stimmgewicht am Kreationsvorgang teilnehmen können (vgl. BVerfG,
Urteile vom 10. April 1997 a.a.O., Juris Rn. 65, 69; und vom 13. Februar 2008
a.a.O., Juris Rn. 98).
bb) Die Verhältniswahl bezweckt demgegenüber eine spiegelbildliche Darstellung
der parteipolitischen Ausrichtung der Wählerschaft im Parlament. Hierfür müssen
alle Wählerinnen und Wähler mit ihrer Stimme den gleichen Einfluss auf die
Zusammensetzung der Volksvertretung haben. Jede Partei soll im Parlament in
der Stärke vertreten sein, die dem Gesamtanteil der für sie im Wahlgebiet
abgegebenen Stimmen und damit ihrem politischen Gewicht entspricht (vgl.
BVerfG, Urteile vom 5. April 1952 - 2 BvH 1/52 - BVerfGE 1, 208 ff., Juris Rn. 115,
118 f.; vom 10. April 1997 - 2 BvF 1/95 - BVerfGE 95, 335 ff., Juris Rn. 64; und vom
3. Juli 2008 a.a.O., Juris Rn. 93). Dies erfordert ein Rechenverfahren, welches das
Verhältnis der Stimmen für die Parteilisten zu den Gesamtstimmen und eine
entsprechende Sitzzuteilung ermittelt, so dass jeder Stimme über die gleiche
Erfolgschance hinaus auch der gleiche Erfolgswert zukommt (vgl. BVerfG, Urteile
vom 5. April 1952 a.a.O., Juris Rn. 119; vom 10. April 1997 - 2 BvF 1/95 - a.a.O.,
Juris Rn. 70; vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 - BVerfGE 95, 408 ff., Juris Rn. 41; vom
13. Februar 2008 a.a.O., Juris Rn. 99; und vom 3. Juli 2008 a.a.O., Juris Rn. 93,
stRspr.; vgl. auch: , Bundeswahlgesetz, 8. Aufl. 2009, § 1 Rn. 55).
cc) Mehrheitswahl und Verhältniswahl lassen sich in verschiedener Weise
miteinander verbinden (vgl. , Bundeswahlrecht, 3. Aufl. 1976, S. 11 f.; ,
a.a.O., S. 211). Ist eine Verbindung beider Wahlsysteme vorgesehen, muss der
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a.a.O., S. 211). Ist eine Verbindung beider Wahlsysteme vorgesehen, muss der
Gesetzgeber das letztlich angestrebte Regelungsziel und das normative Umfeld
mit der spezifischen Ordnungsstruktur des ausgewählten Wahlsystems
systemgerecht und widerspruchsfrei aufeinander abstimmen (ebenso: StGH
Bremen, Urteil vom 8. April 2010 - St 3/09 -, NordÖR 2010, 198 ff. Rn. 50). Das
ausgewählte Wahlsystem ist in seinen Grundelementen einheitlich und folgerichtig
zu gestalten und darf keine strukturwidrigen Elemente enthalten. Dabei ist die
Gleichheit der Wahl nicht nur innerhalb des jeweiligen Abschnitts oder Systems zu
wahren (vgl. BVerfG, Urteile vom 5. April 1952 a.a.O., Juris Rn. 120; vom 10. April
1997 - 2 BvF 1/95 - a.a.O., Juris Rn. 71; und vom 13. Februar 2008 a.a.O., Juris Rn.
100 f., stRspr.; vgl. auch in:
Kommentar zur Landesverfassung Schleswig-Holstein, 1995, Art. 10 Rn. 19;
, in: , Verfassung des Landes Schleswig-
Holstein, Kommentar, 2006, Art. 10 Rn. 65), sondern es müssen darüber hinaus
die Teilwahlsysteme sachgerecht zusammenwirken (vgl. BVerfG, Urteil vom 10.
April 1997 - 2 BvF 1/95 - a.a.O., Juris Rn. 71; ebenso , Verfassung
des Landes Mecklenburg-Vorpommern, 2007, Art. 20 Rn. 30).
Entscheidend für die Ermittlung des Gleichheitsmaßstabs ist danach die
Charakterisierung des vom Gesetzgeber gewählten Verbindungswahlsystems. Nur
wenn das ausgewählte Wahlsystem beiden Teilwahlsystemen ihre Selbständigkeit
belässt, können auch die jeweils zu definierenden Maßstäbe auf das jeweilige
Wahlsystem beschränkt werden (sogenanntes Grabenwahlsystem). Wird hingegen
das ausgewählte Wahlsystem im Ergebnis von einem der beiden Teilwahlsysteme
maßgeblich definiert, muss dessen Gleichheitsmaßstab insgesamt Anwendung
finden (vgl. in: , Grundgesetz - Kommentar - Band IV,
Art. 38 Rn. 179 ; , Wahlrecht und Parteiensystem, 6. Aufl.
2009, S. 351 f.; , a.a.O., S. 211 ff.).
b) Das Wahlsystem zum Schleswig-Holsteinischen Landtag ist als „personalisierte
Verhältniswahl“ zu charakterisieren. Es stellt sich als ein verbundenes einheitliches
Wahlsystem dar, vgl. Art. 10 Abs. 2 Satz 3 bis 5 LV. Ein Grabenwahlsystem, in dem
die Grundsätze der beiden Wahlsysteme nebeneinander stehen, ist durch diese
Verfassungsbestimmung ausgeschlossen. Das Schleswig-Holsteinische
Landtagswahlsystem ist maßgeblich geprägt und im Ergebnis bestimmt von den
Grundsätzen der Verhältniswahl. Dem Maßstab der Erfolgswertgleichheit kommt
dabei eine übergreifende Tragweite zu; insgesamt muss jede Wählerstimme von
gleichem Gewicht sein.
aa) Schon vor Einführung des begrenzten Mehrsitzausgleichs und unter Geltung
des Einstimmenwahlrechts führte das Bundesverfassungsgericht in seiner Funktion
als Landesverfassungsgericht in seiner ersten Entscheidung zur
schleswigholsteinischen Sperrklausel aus, dass das Landtagswahlsystem Elemente
der Mehrheitswahl mit solchen der Verhältniswahl verbinde. Hinter der
Mehrheitswahl im Wahlkreis stehe der „Vollproporz in der radikalen Form“. Auch im
Falle der Kombination zweier Wahlsysteme dürfe der Verhältnisausgleich nicht
beliebig gestaltet werden. Eine ungleichmäßige Verwertung der Stimmen im
Verhältnisausgleich sei nicht damit zu rechtfertigen, dass die Parteien bei einer
Mehrheitswahl noch ganz anders benachteiligt würden. Wenn die Entscheidung für
einen zusätzlichen Verhältnisausgleich falle, müsse in diesem Teil des
Wahlverfahrens auch die Wahlgleichheit in ihrer spezifischen Ausprägung für die
Verhältniswahl beachtet werden. Dies gelte erst recht für das in Schleswig-Holstein
eingeführte Wahlsystem, „das letzten Endes auf eine rein verhältnismäßige
Verteilung der Mandate nach dem Wahlergebnis im ganzen Land mit bloß
zusätzlicher Prämie aus der Mehrheitswahl hinauslaufe“ (Urteil vom 5. April 1952 -
2 BvH 1/52 -BVerfGE 1, 208 ff., Juris Rn. 2, 109, 121; zustimmend: in:
, Kommentar zur Landesverfassung Schleswig-
Holstein, 1995, Art. 3 Rn. 10.; , a.a.O., Art. 10 Rn. 19, 22 jeweils m.w.N.).
Im Übrigen hat das Bundesverfassungsgericht - wiederum als
Landesverfassungsgericht - auch das bis heute mit nur einer Wählerstimme
arbeitende kommunale Wahlsystem Schleswig-Holsteins den Grundsätzen der
Verhältniswahl unterworfen. Die Möglichkeit der Erringung von Direktmandaten
stelle keine Durchbrechung des Verhältniswahlsystems dar, weil die Wählerstimme
zugleich als Votum für die Liste gelte und die Mandate unter Anrechnung der
errungenen Direktsitze nach der Gesamtstimmenzahl verteilt würden. Mit der
Entscheidung für das Verhältniswahlsystem sei der Gesetzgeber daran gebunden,
sowohl die Zähl- als auch die Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen
sicherzustellen (Urteil vom 13. Februar 2008 - 2 BvK 1/07 - BVerfGE 120, 82 ff.,
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sicherzustellen (Urteil vom 13. Februar 2008 - 2 BvK 1/07 - BVerfGE 120, 82 ff.,
Juris Rn. 105).
bb) Das vom Bundesverfassungsgericht bereits in seinem Urteil vom 5. April 1952
(a.a.O., Juris Rn. 2, 109, 121) als einheitliches Wahlsystem in Form der
personalisierten Verhältniswahl charakterisierte Wahlrecht zum Schleswig-
Holsteinischen Landtag, das trotz vorgeschalteter Mehrheitswahl den
Grundcharakter einer Verhältniswahl trägt, ist mittlerweile in der Verfassung in Art.
10 Abs. 2 Satz 3 bis 5 LV als Verbindungswahlsystem mit Überhang- und
Ausgleichsmandaten festgeschrieben.
Die durch Gesetz vom 27. Oktober 1997 (GVOBl S. 462) erfolgte Umstellung auf
das Zweistimmenwahlrecht sollte eine Differenzierung zwischen persönlich
bekannten Kandidatinnen und Kandidaten einerseits und Parteien andererseits
ermöglichen (PlPr 14/3, S. 81). Dabei blieben Art. 10 Abs. 2 LV und der
Verhältnisausgleich nach § 3 LWahlG jedoch unverändert. Insoweit spricht auch die
aktuelle Kommentarliteratur weiterhin von einer „personalisierten Verhältniswahl“
(vgl. , in: , Verfassung des Landes
Schleswig-Holstein, Kommentar, 2006, Art. 3 Rn. 37; , a.a.O., Art. 10 Rn.
65). Dementsprechend hat das Bundesverfassungsgericht - wiederum in seiner
Eigenschaft als Landesverfassungsgericht - in seiner letzten Entscheidung zum
schleswig-holsteinischen Landeswahlrecht den Inhalt seiner Entscheidung von
1952 bestätigt (Beschluss vom 14. Februar 2005 - 2 BvL 1/05 -, NordÖR 2005, 106
ff. = NVwZ 2005, 568 ff., = SchlHA 2005, 128 ff., Juris Rn. 2 und 31).
cc) Die personalisierte Verhältniswahl zum Landtag gemäß Art. 10 Abs. 2 LV wird
im Landeswahlgesetz nach den §§ 1 bis 3 LWahlG durch die Verknüpfung einzelner
Abschnitte von (Teil-) Wahlsystemen umgesetzt. Die Schritte zur Verknüpfung
beschreibt § 3 LWahlG wie folgt: Zunächst wird die Anzahl der auf die einzelnen
Landeslisten entfallenden Sitze auf Grundlage der gültigen Zweitstimmen ermittelt
und die Gesamtzahl der Abgeordneten entsprechend auf die Landeslisten verteilt
(§ 3 Abs. 3 LWahlG). Sodann sind die in den Wahlkreisen erfolgreichen
Bewerberinnen und Bewerber auf Grundlage der gültigen Erststimmen (§ 2
LWahlG) zu ermitteln und auf das Ergebnis der Listenwahl anzurechnen (§ 3 Abs. 4
LWahlG). Diese Anrechnung dient der Verknüpfung und notwendigen
Harmonisierung von Personen- (oder Direkt-)wahl und Verhältniswahl (vgl. für § 6
Abs. 4 Satz 1 BWahlG: , Staatsrecht I, 21. Aufl. 2009, Rn. 114, 119).
Methodisch erreicht der Gesetzgeber die Verknüpfung über eine
„Verteilungsfiktion“ (so für das Bundeswahlrecht: , Jura 1997, 113), denn
die Verteilung der Gesamtzahl der Abgeordneten auf die Landeslisten nach § 3
Abs. 3 Satz 2 LWahlG erfolgt zunächst nur fiktiv. Diese Fiktion wird durch die
Anrechnung der erfolgreichen Wahlkreisbewerberinnen und -bewerber auf die
jeweilige Landesliste wieder aufgelöst (§ 3 Abs. 4 LWahlG). Schließlich schreibt § 3
Abs. 5 Satz 1 LWahlG vor, dass einer Partei die in den Wahlkreisen errungenen
Mandate auch dann verbleiben, wenn deren Anzahl größer ist als die des
verhältnismäßigen Sitzanteils (entsprechend § 6 Abs. 5 Satz 1 BWahlG). Zum
Zwecke des Ausgleichs werden hierfür weitere Sitze nach dem in § 3 Abs. 5 Satz 2
und 3 LWahlG beschriebenen Verfahren vergeben.
dd) Trotz dieser verschiedenen Abschnitte handelt es sich bei dem heutigen
Landeswahlsystem somit nicht um ein (Mischwahl- oder) Grabensystem, sondern
um ein einheitliches Wahlsystem, das erst aus der Verbindung der beiden
Wahlsysteme entsteht. Gerade erst aus dem Zusammenspiel der verschiedenen
Systemabschnitte lassen sich die Landtagsmandate ermitteln. Zweck der
Verbindung ist es, sowohl eine bestimmte Anzahl von Abgeordneten nach
Mehrheitswahl in den Wahlkreisen zu bestimmen und so das
Persönlichkeitselement einzubringen (§ 1 Abs. 1 Satz 2, § 2 LWahlG) als auch, den
parteibezogenen Proporz zu sichern (§ 1 Abs. 1 Satz 2, § 3 LWahlG).
Die Direktkandidatinnen und Direktkandidaten werden zwar in den Wahlkreisen
nach dem Mehrheitswahlsystem gewählt. Die von ihnen im Landtag besetzten
Sitze werden aber nicht unter den Bedingungen der Mehrheitswahl vergeben,
sondern unter Anrechnung auf die Landeslisten. Die von den erfolgreichen
Wahlkreisbewerberinnen und -bewerbern besetzten Sitze sind von ihnen im
Ergebnis zwar persönlich gewonnen, zugleich sind sie aber Teil der
verhältnismäßigen Abbildung der Stärke der Parteien und gehen in die mit der
Verhältniswahl bezweckte Abbildung der relativen Stimmverteilung im Wahlvolk
ein.
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Aus dem Landtagswahlsystem wird auch nicht dadurch eine „Persönlichkeitswahl,
ergänzt um Elemente der Verhältniswahl“, weil die Sitze nicht - wie im Bund - in
einem prozentualen Verhältnis von 50:50 auf die Mehrheitswahl und die
Verhältniswahl aufgeteilt werden, sondern gemäß § 1 Abs. 1 LWahlG - historisch
gewachsen - in einem prozentualen Verhältnis von etwa 60:40 (heute: 40
Direktmandate zu 29 planmäßigen Listenmandaten). Dies folgt bereits aus dem
Umstand, dass der prozentuale Anteil der direkt gewählten Abgeordneten kleiner
wird, sobald es zu Mehrsitzen kommt, die der jeweiligen Partei - zwecks Wahrung
des Persönlichkeitselements - verbleiben. Das „Verbleiben“ dieser Mehrsitze führt
zu einer Erhöhung der Gesamtsitzzahl im Landtag, während die gesetzlich
festgelegte Zahl von 40 Direktmandaten gleich bleibt. Dies galt im Übrigen schon
vor Einführung des Art. 10 Abs. 2 LV und des Mehrsitzausgleichs.
c) Mit der Verpflichtung des Gesetzgebers auf einen Ausgleich der
Überhangmandate (Mehrsitze) in Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV hat der
Verfassungsgeber die Dominanz der Verhältniswahl nochmals bekräftigt und ihr
Gewicht in Richtung Gesamtproportionalität gestärkt. Diese Stärkung drängt das
Teilelement Mehrheitswahl zwangsläufig weiter zurück.
aa) Nach dem Wortlaut des Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV ist nur eindeutig festgelegt,
dass ein Ausgleich stattzufinden hat; eine Aussage über die Anzahl oder die
Berechnung der Ausgleichsmandate fehlt demgegenüber. Auch aus der
Entstehungsgeschichte des 1990 in die Landesverfassung eingefügten Art. 10 Abs.
2 LV lässt sich nicht entnehmen, wie der Verfassungsgeber den konkreten
Ausgleich gestaltet wissen wollte.
(1) Die frühere Landessatzung (LS) sah noch keine Bestimmungen über die
Wahlen zum Landtag vor; auch die 1988 eingesetzte Enquete-Kommission
„Verfassungs- und Parlamentsreform“ befasste sich nicht mit dem Wahlrecht (vgl.
Landtags-Drucksache 12/180, S. 153 ff.). Der im Februar 1989 eingesetzte
Sonderausschuss „Verfassungs- und Parlamentsreform“ - SoAVP - (Landtags-
Drucksache 12/218) diskutierte die verfassungsmäßige Festlegung der
Abgeordnetenzahl im Landtag und die damit zusammenhängende Frage, ob die
Regelung von Überhang- und Ausgleichsmandaten dem einfachen Gesetzgeber
überlassen werden könne.
In der 2. Sitzung des Sonderausschusses wurde die Gefahr des Entstehens von
Überhangmandaten für den Fall, dass man wenige Listenmandate und viele
Wahlkreise vorsehe, zwar angesprochen, in Anbetracht der bisherigen Erfahrungen
aber als gering erachtet (SoAVP 2/20 f.). In der 5. Sitzung einigte man sich darauf,
die Zahl der Mandate in der Verfassung festzuschreiben. Da Abweichungen
hiervon aus wahlsystematischen Gründen nicht ausgeschlossen seien, sollten
auch Überhang- und Ausgleichsmandate in der Verfassung Erwähnung finden
(SoAVP 5/3 ff.). In der 6. Sitzung wurde diskutiert, ob die Entscheidung über
Überhang- und Ausgleichsmandate dem jeweiligen Gesetzgeber überlassen
werden soll. Im Ergebnis war es der erklärte Wille des Ausschusses, in der
Verfassung eine Formulierung zu wählen, die es dem Gesetzgeber verbiete,
Überhang-, Ausgleichs- oder Leermandate auszuschließen; diese sollten
grundsätzlich im Wahlgesetz möglich gemacht werden (SoAVP 6/5 ff.). Den
Formulierungsvorschlag des wissenschaftlichen Dienstes, wonach das Wahlgesetz
Überhang- und Ausgleichsmandate ermöglichen müsse (Landtags-Umdruck
12/479), übernahm der Ausschuss in seiner 7. Sitzung nahezu wortgleich (SoAVP
7/4). Der anschließende Vorschlag des Landeswahlleiters, sich hinsichtlich des
geltenden Wahlsystems (kombinierte Persönlichkeits- und Verhältniswahl) und der
Verpflichtung des Gesetzgebers zu Ausgleichsmandaten klarer festzulegen,
scheiterte zunächst, weil man meinte, dass es einer weiteren Klarstellung nicht
bedürfe. Die Festlegung auf das gemischte Wahlsystem sei schon so erkennbar
(SoAVP 21/19 ff.).
Im Abschlussbericht des Sonderausschusses vom 28. November 1989 wurde
folgender Art. 10 LV vorgeschlagen (Landtags-Drucksache 12/620 , S. 9):
Der Sonderausschuss führte dazu aus: „Die in Satz 1 festgelegte
Abgeordnetenzahl kann sich nur ändern, wenn Überhang- oder
Ausgleichsmandate entstehen oder wenn Sitze leer bleiben. Insoweit die
Einzelheiten zu regeln, muss (…) dem einfachen Gesetzgeber überlassen bleiben.
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Einzelheiten zu regeln, muss (…) dem einfachen Gesetzgeber überlassen bleiben.
Sein Regelungsspielraum wird allerdings durch Art. 10 Abs. 2 Satz 3 LV eingeengt.
Wenn das Gesetz Überhangoder Ausgleichsmandate ermöglichen muss, so wird
damit mittelbar das Wahlsystem - nämlich das System einer kombinierten
Persönlichkeits- und Verhältniswahl - vorgegeben“ (Landtags-Drucksache 12/620
, S. 40).
Die daraufhin eingebrachten Gesetzentwürfe (Landtags-Drucksache 12/637, S. 5
und 12/638 , S. 4) übernahmen den Vorschlag zu Art. 10 Abs. 2 LV. In der
ersten Lesung am 16. Januar 1990 mahnte der damalige Innenminister - wie zuvor
schon der Landeswahlleiter (Landtags-Umdruck 12/763) - eine klarere
Formulierung der wahlrechtlichen Regelungen an. Es sei ein Mangel, wenn
Einzelheiten eines bestimmten Wahlsystems geregelt würden, dabei aber nicht
das Wahlsystem selbst bezeichnet werde, welches verfassungsfest gemacht
werden solle (PlPr. 12/43, S. 2538). Auf Bitte des Sonderausschusses formulierte
er die aus Sicht der Landesregierung wünschenswerten Änderungen und fügte in
Art. 10 Abs. 2 LV die Festschreibung des bis dahin einfachgesetzlich schon
geltenden kombinierten Persönlichkeits- und Verhältniswahlrechts ein (Umdruck
12/1292). Dem schlossen sich der Sonderausschuss (Landtags-Drucksache
12/826) und der Landtag an. Damit wurde Art. 9 Abs. 1 LS nach zweiter Lesung am
30. Mai 1990 (PlPr 12/55) durch Gesetz vom 13. Juni 1990 (GVOBl S. 391) durch
folgenden Art. 10 LV ersetzt:
Soweit die ursprüngliche Fassung „(…) ermöglichen muss“ geändert wurde in „(…)
vorsehen muss“, präzisiert und konkretisiert dies den an den Gesetzgeber
gerichteten Auftrag (so auch der Vorsitzende des Sonderausschusses während
der 21. Sitzung, SoAVP 21/22). Die Diskussion im Sonderausschuss gibt nicht her,
dass der Verfassungsgeber durch diese Formulierung zwingend einen
Vollausgleich vorschreiben wollte.
(2) Vollständig würdigen lässt sich die Entstehungsgeschichte des Art. 10 Abs. 2
LV nur vor dem Hintergrund des geltenden Landeswahlrechts. Die Tatsache, dass
sich der Verfassungsgeber im Rahmen der Beratungen zur Frage des Voll- oder
Teilausgleichs nicht ausdrücklich geäußert hat, beruhte darauf, dass mit der
Entstehung von Überhangmandaten (Mehrsitzen) in nennenswertem Umfang
damals noch nicht gerechnet wurde.
(a) Mit Inkrafttreten der neuen Landesverfassung musste auch das
Landeswahlgesetz geändert werden, weil es bis zu dieser Zeit noch keinen
Mehrsitzausgleich vorsah. Der Entwurf zum Landeswahlgesetz wurde bewusst an §
10 Abs. 4 GKWG angelehnt (Landtags-Drucksache 12/834, S. 2). Das
Änderungsgesetz vom 20. Juni 1990 (GVOBl S. 419) trat am Tag nach seiner
Verkündung in Kraft. Aus der parallel zur Verfassungsänderung vorgenommenen
Einführung eines nur beschränkten Mehrsitzausgleiches - im damaligen § 3 Abs. 4
LWahlG - könnte geschlossen werden, dass der mit dem Gesetzgeber identische
Verfassungsgeber nicht zwingend einen stets vollständigen Ausgleich von
Überhangmandaten vorschreiben wollte. Wenn der Landtag erstmalig eine Pflicht
zum Ausgleich von Überhangmandaten in die Landesverfassung aufnimmt und
nicht nur in Kenntnis, sondern auch aus Anlass seiner eigenen
Verfassungsvorgaben zeitgleich als Gesetzgeber das Wahlrecht ändert, ist es zwar
naheliegend, dass er die durch diese Gesetzesänderung herbeigeführte
Rechtslage - die Begrenzung des Ausgleichs in § 3 Abs. 4 Satz 3 LWahlG bei
geltender Ausgleichspflicht nach Art. 10 Abs. 2 Satz 4 LV - für mit der Verfassung
vereinbar hielt. Abgesehen davon, dass eine solche Annahme auch nicht zutreffen
muss und insbesondere nicht vom einfachen Recht auf die richtige Auslegung der
Verfassung geschlossen werden kann, gibt es dafür jedoch keine weiteren
Anhaltspunkte.
(b) Bei Verabschiedung der neuen Verfassung sah das Landeswahlgesetz noch
das Einstimmenwahlrecht vor. Die Einführung des Zweistimmenwahlrechts war
noch nicht in der parlamentarischen Diskussion, sie erfolgte erst durch Gesetz
vom 27. Oktober 1997 (GVOBl S. 462). Die Möglichkeit, dass es bei einer
Landtagswahl zu Überhangmandaten kommen würde, war dennoch nicht
auszuschließen und hatte durch Übernahme der Formulierung aus § 10 Abs. 4
GKWG Berücksichtigung gefunden. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich diese
theoretische Möglichkeit tatsächlich realisieren würde, war von der praktischen
Erfahrung her allerdings noch nicht belegt. Seit 1947 bis zur Verfassungsänderung
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Erfahrung her allerdings noch nicht belegt. Seit 1947 bis zur Verfassungsänderung
war es bei Landtagswahlen nicht dazu gekommen, dass der Anteil der
Direktmandate einer Partei größer gewesen wäre als ihr verhältnismäßiger
Sitzanteil. Die Wahlstatistik zeigt, dass die gesetzlich festgelegte Zahl von
Abgeordneten erstmals aufgrund der Landtagswahl 1992 überschritten worden ist
(„Wahlen in Schleswig-Holstein seit 1947“, Sitzverteilung, Statistisches Amt für
Hamburg und Schleswig-Holstein 2009).
(c) Umso fernliegender war im Jahre 1990 die Vorstellung, dass bei tatsächlicher
Entstehung von Überhangmandaten (Mehrsitzen) die Gewährung von insgesamt
doppelt so vielen weiteren Sitzen nicht ausreichen würde, um einen vollständigen
Ausgleich zu erreichen. Tatsächlich hat es in Schleswig-Holstein nahezu 20 Jahre
gedauert, bis dieser Fall bei der Landtagswahl 2009 erstmals eingetreten ist. Die
Faktoren, die diese Entwicklung ermöglichten (Einführung des
Zweistimmenwahlrechts mit der Möglichkeit des Stimmensplittings, zunehmend
breiteres Parteienspektrum und infolgedessen breitere Streuung der
Zweitstimmen), waren damals noch nicht voraussehbar.
Vergleichbar wurde etwa für Niedersachsen noch 1996 darauf hingewiesen, dass
das Verbleiben ungedeckter Überhangmandate nach begrenztem Ausgleich ein
Phänomen sei, das „in den vergangenen Jahrzehnten“ keine praktische Bedeutung
erlangt habe, weshalb davon ausgegangen werden könne, „dass der Gesetzgeber
(…) das Erforderliche getan hat, um die Folgen einer Verzerrung des Erfolgswerts
von Wählerstimmen zu beseitigen“ (vgl. , NdsVBl 1996, 269 <271>).
Entsprechend soll der historische Bundesgesetzgeber Überhangmandate als
vernachlässigenswerten Schönheitsfehler angesehen und deshalb den
parteipolitischen Streitpunkt, ob das Wahlsystem den Schwerpunkt in der
Mehrheitswahl oder in der Verhältniswahl habe, pragmatisch offen gelassen haben,
um insoweit kein komplizierendes Ausgleichsverfahren schaffen zu müssen. Auch
das Bundesverfassungsgericht ist dieser Annahme anfänglich gefolgt, zumal diese
durch die Wahlergebnisse zunächst auch bestätigt wurde (vgl. BVerfG, Urteil vom
10. April 1997 - 2 BvF 1/95 - BVerfGE 95, 335 ff. - Sondervotum -, Juris Rn. 181 ff.;
, Jura 1997, 113 <115 f.> beide m.w.N.). Erst die Bundestagswahl 1994, bei
der die CDU zwölf und die SPD vier Überhangmandate errangen, gab Anlass zu
einer Neupositionierung des Bundesverfassungsgerichts im Urteil vom 10. April
1997 (a.a.O., Juris Rn. 23).
bb) Bis hierher lässt sich für den Gesetzgeber keine zwingende Pflicht zum
Vollausgleich begründen. Sinn und Zweck des Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV könnten in
diese Richtung weisen. Die Pflicht, für den Fall des Entstehens von
Überhangmandaten Ausgleichsmandate vorzusehen, dient der Wahrung und
Stärkung des auch bundesrechtlich über das Homogenitätsgebot des Art. 28 Abs.
1 (Satz 2) GG verankerten Grundsatzes der Wahlgleichheit in Art. 3 Abs. 1 LV.
Generell können Überhangmandate entstehen, wenn Persönlichkeitswahl und
Verhältniswahl miteinander verbunden werden. Die für diesen Fall vorgesehene
Gewährung von Ausgleichsmandaten stellt sicher, dass das Verhältnis der Sitze
der einzelnen Parteien dem Verhältnis der für die einzelnen Landeslisten
abgegebenen Stimmen entspricht, so dass sich die politischen Gewichte durch das
Entstehen von Überhangmandaten im Ergebnis nicht verändern (vgl. ,
Bundeswahlgesetz, Kommentar, 8. Aufl. 2009, § 6 Rn. 29; ,
Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern, 2007, Art. 20 Rn. 33).
Diese Zielsetzung hat auch Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV. Nach den Beratungen im
Sonderausschuss sollten die Ausgleichsmandate mit dieser Regelung „verfas-
sungsfest“ gemacht werden. Außerdem sollte unmissverständlich vorgeschrieben
werden, dass durch die Ausgleichsmandate das Prinzip der Verhältniswahl zu
wahren sei (SoAVP 21/21 f.). Entsprechend verpflichtet Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV
den Gesetzgeber zur (Wieder-) Herstellung der nach dem Zweitstimmenanteil
festgestellten politischen Gewichte der einzelnen im Landtag vertretenen Parteien
und damit zur Übereinstimmung zwischen Stimmenverhältnis und Sitzverhältnis
(ebenso , in: , Verfassung des Landes
Schleswig-Holstein, Kommentar, 2006, Art. 10 Rn. 71). Unter Rückgriff auf den
strengen Grundsatz der Wahlgleichheit des Art. 3 Abs. 1 LV ergibt sich daraus,
dass nach der spezielleren Vorschrift des Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV der
Vollausgleich die Regel, der Teilausgleich hingegen eine zwingend
begründungsbedürftige Ausnahme darstellt (ebenso , Stellungnahme zu
Landtags-Drucksache 17/10, Landtags-Umdruck 17/752, S. 4).
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d) Dient danach Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV der Wahrung und Stärkung des
Grundsatzes der Wahlgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 LV und legt den Gesetzgeber bei
der Ausgestaltung des Wahlsystems insoweit von Verfassungs wegen fest, kann
die Vorschrift nicht als Begründung dafür herhalten, dass der Gesetzgeber
dahinter zurückbleiben oder den Grundsatz der Erfolgswertgleichheit gar
relativieren dürfte. Vielmehr hat der Gesetzgeber nach Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV
der Wahlgleichheit zu einer optimalen, „bestmöglichen“ Geltung zu verhelfen (so
schon in: Kommentar zur
Landesverfassung Schleswig-Holstein, 1995, Art. 10 Rn. 23). Überhangmandate
dürfen daher grundsätzlich nur im unvermeidlichen Mindestmaß anfallen, es sei
denn sie werden durch Ausgleichsmandate ausgeglichen. Der Ausgleich muss
dann allerdings so durchgeführt werden, dass die eingetretene Verzerrung soweit
wie möglich wieder beseitigt, also der Wahlgleichheit „bestmöglich“ genügt wird
(im Ergebnis ebenso: StGH BW, Urteil vom 12. Dezember 1990 - 1/90 -, VBlBW
1991, 133 ff., Juris Rn. 53 ff.; , a.a.O., Art. 10 Rn. 71; , a.a.O.).
aa) Das aus der Wahlgleichheit entwickelte Kriterium der Erfolgswertgleichheit
beinhaltet zwar kein absolutes Differenzierungsverbot, belässt dem Gesetzgeber
bei der Ordnung des jeweiligen Wahlsystems aber nur einen eng bemessenen
Gestaltungsspielraum. Denn der Wahlgleichheit ist - anders als dem allgemeinen
Gleichheitssatz - ein strikt formaler Charakter zu eigen. Ebenso wie die übrigen
Wahlrechtsgrundsätze ist sie einer „flexiblen“ Auslegung nicht zugänglich (vgl. nur
StGH BW, Urteil vom 23. Februar 1990 - 2/88-, VBlBW 1990, 214 ff., Juris Rn. 44;
BVerfG, Urteile vom 13. Februar 2008 - 2 BvK 1/07 - BVerfGE 120, 82 ff., Juris Rn.
108; und vom 3. Juli 2008 - 2 BvC 1/07 u.a. - BVerfGE 121, 266 ff., Juris Rn. 91, 97;
, in: Alternativkommentar zum Grundgesetz, 3. Aufl. 2001, Art. 38 Rn.
67 ). Deshalb kann sich der Gesetzgeber nicht damit begnügen,
überhaupt einen Ausgleich vorzusehen. Genüge getan ist dem Maßstab der
Erfolgswertgleichheit nach Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV grundsätzlich erst dann, wenn
sämtliche Überhangmandate ausgeglichen sind. Jedes ungedeckt bleibende
Überhangmandat muss sich (wieder) den strengen Anforderungen des Art. 3 Abs.
1 LV stellen und ist rechtfertigungsbedürftig.
bb) Selbst wenn dem Bundesgesetzgeber nach Art. 38 Abs. 1 GG insoweit ein
größerer Gestaltungsspielraum zustünde (so BVerfG, Urteil vom 10. April 1997- 2
BvF 1/95 - BVerfGE 95, 335 ff., Juris Rn. 107), wäre dies auf die
schleswigholsteinische Rechtslage nicht übertragbar. Denn das schleswig-
holsteinische Landtagswahlsystem ist jedenfalls nicht darauf angelegt, die
Ergebnisse der vorgeschalteten Mehrheitswahl in Form von überhängenden, das
heißt im Ergebnis ungedeckten Mehrsitzen zu erhalten. Art. 3 Abs. 1 LV in
Verbindung mit Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV verpflichten den Landesgesetzgeber
vielmehr insgesamt auf den Proporz nach Zweitstimmen und auf einen
Verhältnisausgleich, der grundsätzlich auch die Mehrsitze deckt (BVerfG, Urteil
vom 5. April 1952 - 2 BvH 1/52 -BVerfGE 1, 208 ff., Juris Rn. 109, 121; und
Beschluss vom 14. Februar 2005 - 2 BvL 1/05 -, NordÖR 2005, 106 ff. = NVwZ
2005, 568 ff., = SchlHA 2005, 128 ff., Juris Rn. 31).
Das „sachgerechte Zusammenwirken“ der miteinander verbundenen
Teilwahlsysteme erfordert eine Geltung des Gebots des gleichen Erfolgswerts
„grundsätzlich für das gesamte Wahlverfahren“ (so schon , in:
, Kommentar zur Landesverfassung Schleswig-Holstein,
1995, Art. 3 Rn. 10). Sind aber - wie im Wahlrecht zum Schleswig-Holsteinischen
Landtag -einzelne Abschnitte verschiedener Wahlsysteme so miteinander
verbunden, dass sich die Zusammensetzung des Landtages erst und gerade aus
ihrem Zusammenspiel ergibt, muss auch dieses Zusammenspiel dem Prinzip der
Erfolgswertgleichheit unter dem Gesichtspunkt der Wahlgleichheit gehorchen
(BVerfG, Urteil vom 5. April 1952 a.a.O., Juris Rn. 109, 121). Hieraus hat das
Bundesverfassungsgericht in seiner letzten Entscheidung zum schleswig-
holsteinischen Landeswahlrecht den Schluss gezogen, dass etwaige
Differenzierungen in der Erfolgswertgleichheit nur unter den engen
Voraussetzungen eines „zwingenden Grundes“ zulässig sind (Beschluss vom 14.
Februar a.a.O., Juris Rn. 31; so auch , a.a.O., Art. 3 Rn. 10; ,
a.a.O., Art. 10 Rn. 19, 22; , in: ,
Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, Kommentar, 2006, Art. 3 Rn. 27, 49;
, a.a.O., Art. 10 Rn. 69).
Soweit das Bundesverfassungsgericht in diesem Beschluss (a.a.O., Juris Rn. 47) in
einem obiter dictum ausführt, dass der schleswig-holsteinische Verfassungsgeber
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einem obiter dictum ausführt, dass der schleswig-holsteinische Verfassungsgeber
bewusst darauf verzichtet habe, das Wahlsystem und dessen konkrete
Ausgestaltung im Einzelnen verfassungsrechtlich vorzuschreiben, bezieht sich dies
nicht auf die durch Ausgleichsmandate herzustellende Übereinstimmung zwischen
Stimmenverhältnis und Sitzverhältnis.
Soweit vertreten wird, das Ausgleichsverfahren müsse kein „bestmögliches“ sein,
sondern sich gegenüber dem Wahlwettbewerb lediglich neutral verhalten (unter
Verweis auf , in: , Verfassung des
Landes Schleswig-Holstein, Kommentar, 2006, Art. 10 Rn. 71), lassen sich auch
damit keine Abstriche am strengen Maßstab der Erfolgswertgleichheit begründen.
Dieses „Neutralitätsgebot“ entstammt der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts zur ersten gesamtdeutschen Wahl (Urteil vom 29.
September 1990 - 2 BvE 1/90 u.a. -BVerfGE 82, 322 ff., Juris Rn. 46 f.). In dieser
Entscheidung hat das Gericht nicht zur Lockerung des Maßstabs, sondern zur
Sicherung der Erfolgswertgleichheit die Übernahme der Sperrklausel für das
gesamte - erweiterte - Wahlgebiet angesichts der gegebenen besonderen
Umstände für verfassungswidrig befunden.
cc) Dies wird durch die oben (c) aa) (1) ) dargestellte
Entstehungsgeschichte eindrucksvoll bestätigt. Der mit der Verfassungsreform
befasste Son-derausschuss zog aus dem bestehenden Wahlsystem die
Konsequenz, dass sich die Anzahl der in der Verfassung festzulegenden
Abgeordneten im Falle des Entstehens von Überhangmandaten erhöhen soll. Dem
einfachen Gesetzgeber sollte nicht nur mit der Festlegung in Art. 10 Abs. 2 Satz 1
LV die Entscheidung über die Anzahl der regulären Gesamtsitze, sondern auch die
Entscheidung über das Maß ihrer Erhöhung entzogen werden. Im Falle des
Entstehens von Überhangmandaten soll sich die Zahl der Gesamtsitze um
Überhang- Ausgleichsmandate erhöhen (Art. 10 Abs. 2 Satz 4 LV), während
es dem Gesetzgeber unbenommen bleibt, durch eine entsprechende Wahlrechts-
oder Verfahrensgestaltung nach Möglichkeit schon die Entstehung von
Überhangmandaten zu verhindern. Nur insoweit bleibt dem Gesetzgeber
überhaupt ein Gestaltungsspielraum.
III.
An diesen Verfassungsvorgaben ist das derzeitige Landeswahlrecht zu messen.
Sind aber im derzeitigen Landeswahlrecht verschiedene (rechtliche) Faktoren erst
in ihrem Zusammenwirken für eine deutliche Verfehlung dieser Vorgaben
verantwortlich, so erweisen auch sie sich derzeit als verfassungswidrig. Die Prüfung
kann dann nicht auf die zur Kontrolle gestellte Vorschrift des § 3 Abs. 5 Satz 3
LWahlG beschränkt bleiben. Das Gericht hat deshalb gemäß § 42 Satz 2 LVerfGG
die Gesamtregelung des § 3 Abs. 5 LWahlG sowie die Regelungen der § 1 Abs. 1
Satz 2, Abs. 2 und § 16 LWahlG in die Prüfung einbezogen.
Die im Zusammenspiel von § 1 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2, § 3 Abs. 5 LWahlG sowie
§ 16 LWahlG angelegte Möglichkeit der deutlichen Überschreitung der Regelgröße
des Landtages von 69 Abgeordneten bei gleichzeitigem Entstehen ungedeckter
Mehrsitze führt zu einer ungleichen Gewichtung der Wählerstimmen. Dadurch
werden sowohl der Grundsatz der Wahlgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung
mit Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV als auch die Verfassungsvorgabe des Art. 10 Abs. 2
Satz 1 und 2 LV, die Regelgröße von 69 Abgeordneten möglichst nicht zu
überschreiten, verfehlt. Dies ist weder mathematisch unausweichlich noch durch
anderweitige, sachlich legitimierende Gründe zu rechtfertigen.
1. Selbst wenn die zur verfassungsrechtlichen Überprüfung gestellte Begrenzung
des Mehrsitzausgleichs durch § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG und die damit nur
eingeschränkte Wiedergabe des mit den Zweitstimmen zum Ausdruck gebrachten
Wählerwillens im Wahlergebnis zunächst nur an Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV unter
Berücksichtigung der aus der Wahlgleichheit nach Art. 3 Abs. 1 LV abzuleitenden
Anforderungen an den Gesetzgeber gemessen wird, ist festzustellen, dass die
Vorschrift erst gemeinsam mit den sonstigen Regelungen in § 3 Abs. 5 sowie in § 1
Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 und § 16 LWahlG unter den gegebenen tatsächlichen
Verhältnissen dazu führt, dass es zu einer Verzerrung der Erfolgswertgleichheit der
Wählerstimmen kommt, die sich nicht nur als vereinzelte und deshalb
vernachlässigenswerte Ausnahme darstellt.
a) Durch die Begrenzung des Verhältnisausgleichs können ungedeckte Mehrsitze
entstehen, die ihrerseits zu einer ungleichen Gewichtung der Wählerstimmen
führen. Dabei tritt das Ungleichgewicht erst in der Kombination von Erst- und
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führen. Dabei tritt das Ungleichgewicht erst in der Kombination von Erst- und
Zweitstimme zutage. Über die Erststimme werden in den Wahlkreisen nach dem
Mehrheitswahlrecht 40 Direktmandate ermittelt. An ihrer Zahl ändert sich durch
das Entstehen von ungedeckten Mehrsitzen nichts. Auch die Zweitstimmen
erfahren - isoliert betrachtet - keine ungleiche Gewichtung. Die Ungleichheit ergibt
sich erst daraus, dass für die Mehrsitzpartei - wenn Mandate ungedeckt bleiben -
nicht nur die Zweitstimmen, sondern auch die erfolgreichen Erststimmen zählen
(vgl. / , JZ 1997, 761 <762> m.w.N.; , Jura 1997, 113
<115>) und deren Wählerinnen und Wähler damit einen stärkeren politischen
Einfluss bekommen als die der anderen Parteien.
Dieses Phänomen der Stimmverdoppelung ergibt sich daraus, dass der am Ende
der Sitzzuteilung stehende Verhältnisausgleich unter Anrechnung der
Wahlkreismandate auf die Landesliste erfolgt, § 3 Abs. 3 und 4 LWahlG. Der
Verhältnisausgleich bewirkt prinzipiell, dass jede Wählerin und jeder Wähler letztlich
nur mit der Zweitstimme Einfluss auf die Zusammensetzung des Landtags nimmt.
Fällt die Erststimme auf eine nicht erfolgreiche Wahlkreisbewerberin oder einen
nicht erfolgreichen Wahlkreisbewerber, bleibt sie schon nach den Grundsätzen der
Mehrheitswahl ohne Gewicht. Fällt die Erststimme auf eine erfolgreiche
Wahlkreisbewerberin oder einen erfolgreichen Wahlkreisbewerber, wird sie durch
die Anrechnung auf die Landesliste durch die Zweitstimme aufgezehrt. Fallen
jedoch entsprechend § 3 Abs. 5 Satz 1 LWahlG Mehrsitze an, verstärkt sich das
Stimmgewicht derjenigen Wählerinnen und Wähler, die zur Entstehung der
Mehrsitze beigetragen haben, dadurch, dass bei ihnen sowohl Erst- als auch
Zweitstimme an der Bestimmung der Mandatszahl der Mehrsitzpartei im Landtag
mitwirken. Werden die Mehrsitze schließlich nach § 3 Abs. 5 Satz 2 und 3 LWahlG
nicht vollständig ausgeglichen, verhelfen sie der Mehrsitzpartei mit ihrer
Erststimme zu einem Mandat, das außerhalb des Proporzes steht.
b) Diese im Wahlgesetz angelegte ungleiche Gewichtung der Stimmen hat sich im
Ergebnis der Landtagswahl 2009 realisiert. Sie beeinträchtigt die
Erfolgswertgleichheit, da es jedenfalls nach der gebotenen ex post- Betrachtung
an einem gleich großen Einfluss aller Wählerstimmen auf die Verteilung der
Landtagssitze fehlt.
Die der CDU verbliebenen drei ungedeckten Mehrsitze lagen außerhalb des
Proporzes und führten dazu, dass denjenigen Wählerinnen und Wählern von
Direktkandidatinnen und Direktkandidaten der CDU ein stärkeres Stimmgewicht
zukam, die mit der Summe ihrer Stimmen zu dem Überhang an Mandaten
beigetragen haben. Diese nach dem endgültigen Wahlergebnis bestehende
Ungleichbehandlung des Stimmgewichts der Wählerinnen und Wähler der CDU
gegenüber dem der Wählerinnen und Wähler der anderen Parteien ist in der
nachfolgenden Tabelle dargestellt:
*Differenz zwischen niedrigster und höchster Stimmenzahl (Marge) = 2.486,11
und 2.847,08 Stimmen
Während die Spalten 4 und 6 zeigen, wie viele Zweitstimmen jede Partei für die
Zuteilung eines Sitzes innerhalb des Proporzes benötigte (bei einem
verhältnismäßigen Sitzanteil gemäß § 3 Abs. 3 - Spalte 3 - und nach dem
Mehrsitzausgleich gemäß Abs. 5 Satz 2 LWahlG - Spalte 5 -), zeigt Spalte 8, wie
viele Zweitstimmen die CDU nur deshalb weniger brauchte, weil sie mit den
ungedeckten Mehrsitzen aufgrund eines Überschusses an Wahlkreismandaten, die
mit Erststimmen gewonnen wurden, zusätzliche Sitze zugeteilt erhielt. Während
die mathematisch unvermeidbare Differenz zwischen der größten und der
kleinsten benötigten Stimmenzahl (Marge) innerhalb des Proporzes 2.847,08
Stimmen (Spalte 6) betrug, kam es nun zu einer Marge von 4.282,79 Stimmen.
Diese Zahlen zeigen, dass der vorgesehene Verhältnisausgleich nicht geeignet ist,
die Wählerschaft spiegelbildlich im Landtag darzustellen. Die dabei eintretende
Verzerrung geht über die unausweichlichen Folgen des hier zur Anwendung
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Verzerrung geht über die unausweichlichen Folgen des hier zur Anwendung
kommenden Verteilungsverfahrens nach d’Hondt hinaus. Mit den nach Spalte 8
benötigten Zweitstimmen verließ die CDU den Rahmen, der sich aus einem
Vergleich der niedrigsten (SPD: 16.305,72) mit der höchsten (DIE LINKE:
19.152,80) benötigten Stimmenzahl ergab.
c) Zwar besteht die Gefahr der Ungleichgewichtung infolge ungedeckter Mehrsitze
nicht gleichermaßen für alle Wahlberechtigten und muss sich auch nicht bei jeder
Wahl realisieren. Dies ist jedoch für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit nicht
entscheidend (vgl. BVerfG, Urteil vom 3. Juli 2008 - 2 BvC 1/07 u.a. -BVerfGE 121,
266 ff., Juris Rn. 107 f.). Entscheidend ist, dass das Ergebnis der Landtagswahl
2009 sich nicht als vernachlässigenswerter Ausnahmefall darstellt; mit
ungedeckten Mehrsitzen und einer Verzerrung der Stimmgewichtung bezogen auf
den einzelnen Landtagssitz muss für die Zukunft vielmehr regelmäßig gerechnet
werden. Denn abgesehen von dem unvorhersehbaren Zusammenspiel der
verschiedenen Ursachen entwickelt sich die politische Wirklichkeit in eine Richtung,
die das Entstehen von Mehrsitzen bei der derzeitigen Gestaltung des Wahlrechts
auch künftig mehr als wahrscheinlich macht. Hierzu zählt etwa die Erweiterung des
Parteienspektrums mit breiterer Streuung der Zweitstimmen (vgl. schon , JZ
2002, 469 <472>). Diese Entwicklung hatte sich schon bei den Kommunalwahlen
2008 abgezeichnet, wo es in zahlreichen Gemeinden - auch ohne die Möglichkeit
des Stimmensplittings - zu ungedeckten Mehrsitzen gekommen war (vgl. dazu:
Landtags-Drucksache 16/2152 vom 2. Juli 2008; IR 16/104 vom 10. Juni 2009, S. 10
ff.; und PlPr 16/117, S. 8740). Verstärkt wurde diese Entwicklung durch die zur
Landtagswahl 2000 eingeführte Zweitstimme und das dadurch ermöglichte
Stimmensplitting. Auch die Anzahl und die unterschiedliche Größe der Wahlkreise
können zu Überhangmandaten führen (zum Ursachenzusammenhang allgemein:
, Die Gleichheit der Wahl, 2003, S. 246, 248; , Wahlrecht und
Parteiensystem, 6. Aufl. 2009, S. 343 ff.; , in: ,
Grundgesetz - Kommentar - Band IV, Art. 38 Rn. 177 , a.a.O.,
S. 471; speziell für Schleswig-Holstein: Stellungnahmen an den Landtag zu
Landtags-Drucksache 17/10; Landtags-Drucksache 15/55; dazu noch unten 2. b)
ee) (3) ).
2. Rechtfertigungsgründe für diese Verzerrung der Erfolgswertgleichheit liegen in
Anbetracht der diese Verzerrung zugleich, und zwar gemeinsam, bewirkenden
weiteren Vorschriften des Landeswahlrechts derzeit nicht vor. Verantwortlich
hierfür sind neben tatsächlichen Ursachen insbesondere die Gesamtregelung des
§ 3 Abs. 5 LWahlG und die weiteren Vorschriften der § 1 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2
sowie § 16 LWahlG.
a) Innerhalb des aufgezeigten engen Gestaltungsspielraums ist es grundsätzlich
Sache des Gesetzgebers, das Gebot der Wahlrechtsgleichheit mit anderen,
verfassungsrechtlich legitimen Zielen zum Ausgleich zu bringen. Ein Verstoß
gegen die Wahlgleichheit liegt jedoch vor, wenn die differenzierende Regelung nicht
an einem Ziel orientiert ist, das der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des
Wahlrechts verfolgen darf (vgl. BVerfG, Urteil vom 3. Juli 2008 a.a.O., Juris Rn. 115
m.w.N.). Kommt es zu Differenzierungen in der Erfolgswertgleichheit, sind diese
nur zulässig, wenn hierfür ein zwingender Grund vorliegt (vgl. BVerfG, Beschluss
vom 22. Mai 1979 - 2 BvR 193/79 u.a. - BVerfGE 51, 222 ff., Juris Rn. 53 m.w.N.;
und Urteil vom 3. Juli 2008 a.a.O., Juris Rn. 98 m.w.N., stRspr.; speziell für das
schleswig-holsteinische Landeswahlrecht: Beschluss vom 14. Februar 2005 - 2 BvL
1/05 -, NordÖR 2005, 106 ff. = NVwZ 2005, 568 ff., = SchlHA 2005, 128 ff., Juris
Rn. 31).
„Zwingend“ sind dabei nicht nur Gründe, die zu mathematisch unausweichlichen
Unschärfen führen. „Zwingend“ sind auch Differenzierungen, die von Verfassungs
wegen zwangsläufig oder notwendig sind, weil eine Kollision mit Grundrechten oder
anderen Wahlrechtsgrundsätzen vorliegt oder solche, die sonst durch die
Verfassung legitimiert und von so einem Gewicht sind, dass sie der Wahlgleichheit
die Waage halten können (ebenso: StGH BW, Urteil vom 14. Juni 2007 - 1/06 -,
DÖV 2007, 744 ff. = VBlBW 2007, 371 ff., Juris Rn. 45 m.w.N.). Dazu gehört nach
der Schleswig-Holsteinischen Verfassung die vorgegebene Regelgröße des
Parlaments von 69 Abgeordneten (Art. 10 Abs. 2 Satz 1 und 2 LV). Ausreichen
kann aber auch ein „zureichender“, aus der Natur des Sachbereichs der Wahl der
Volksvertretung sich ergebender Grund (vgl etwa: BVerfG, Urteile vom 23. Januar
1957 - 2 BvE 2/56 - BVerfGE 6, 84 ff., Juris Rn. 30; vom 10. April 1997 - 2 BvF 1/95 -
BVerfGE 95, 335 ff., Juris Rn. 124; und vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 - BVerfGE
95, 408 ff., Juris Rn. 44).
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99Darüber hinaus müssen die differenzierenden Regelungen zur Verfolgung ihrer
Zwecke geeignet und erforderlich sein. Ihr erlaubtes Ausmaß richtet sich ferner
danach, mit welcher Intensität in das Wahlrecht eingegriffen wird. Bei der
Einschätzung und Bewertung differenzierender Wahlrechtsbestimmungen hat sich
der Gesetzgeber an der politischen Wirklichkeit zu orientieren (vgl. BVerfG, Urteile
vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 - a.a.O., Juris Rn. 45; und vom 3. Juli 2008 a.a.O.,
Juris Rn. 98 f. m.w.N., stRspr.). Deshalb lässt sich die verfassungsmäßige
Rechtfertigung einer Wahlrechtsnorm auch nicht ein für alle mal abstrakt
beurteilen, sondern kann durch neuere Entwicklungen tatsächlicher oder
rechtlicher Art in Frage gestellt werden (vgl. BVerfG, Urteil vom 13. Februar 2008 -
2 BvK 1/07 - BVerfGE 120, 82 ff., Juris Rn. 112; in: ,
Grundgesetz - Kommentar - Band IV, Art. 38 Rn. 123 ).
b) Weder beruht die dargestellte Verzerrung Erfolgswertgleichheit auf
Notwendigkeiten im Umrechnungsverfahren, noch dient sie der Prämierung und
Stärkung der Personenwahl oder der Arbeits- und Funktionsfähigkeit des
Landtages. Einen weiteren zwingenden Grund stellt die Zielvorgabe der Verfassung
dar (Art. 10 Abs. 2 Satz 1 und 2 LV), dass der Landtag mit möglichst nicht mehr
als 69 Landtagsabgeordneten zu besetzen ist. Die zahlenmäßige Begrenzung des
Mehrsitzausgleichs nach § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG ist jedoch unter den
gegenwärtigen tatsächlichen und rechtlichen Bedingungen nicht in der Lage, diese
Zielvorgabe mit der Wahlgleichheit in einen schonenden Ausgleich zu bringen. Sie
ignoriert auch, dass vorrangig Überhangmandate zu vermeiden sind, die unter den
derzeitigen politischen Verhältnissen aufgrund der Regelungen in § 1 Abs. 1 Satz
2, Abs. 2, § 3 Abs. 5 und § 16 LWahlG regelhaft entstehen.
aa) Als „zwingender Grund“ anerkannt ist zwar jede Differenzierung, die sich bei
der Umrechnung von Zweitstimmen in Sitze und den dabei anfallenden
Reststimmen und Bruchteilen in Anwendung des jeweiligen Verteilungsverfahrens
schon aus mathematischen Gründen unausweichlich ergibt (vgl. BVerfG, Beschluss
vom 24. November 1988 - 2 BvC 4/88 - BVerfGE 79, 169 ff., Juris Rn. 5; und Urteil
vom 3. Juli 2008 - 2 BvC 1/07 u.a. - BVerfGE 121, 266 ff., Juris Rn. 104). Maßgeblich
ist, ob die mit den ungedeckten Mehrsitzen benötigte durchschnittliche
Stimmenzahl noch im Rahmen des höchsten und niedrigsten Durchschnittswerts
aller Parteien liegt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. November 1988 a.a.O., Juris
Rn. 10 bis 12). Hierum geht es indes unter den gegenwärtigen politischen
Verhältnissen bei der begrenzenden Regelung des § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG nicht.
Wie zudem oben in der Tabelle (Rn. 92) beispielhaft dargestellt, verließ die CDU
nach Zuteilung dreier ungedeckter Mehrsitze mit den dann noch benötigten
Zweitstimmen (14.870,91) deutlich den Rahmen, der vom Durchschnittswert der
SPD (16.305,72) und der Partei DIE LINKE (19.152,80) gebildet wurde. Als
augenfällig problematisch unter dem Gesichtspunkt der Erfolgswertgleichheit
erweist sich hierbei bereits das angewandte Höchstzahlverfahren nach d’Hondt,
das bei der letzten Wahl im reinen Verhältnisausgleich zu einem
Stimmenunterschied von bis zu 2.847,08 Zweitstimmen führte, den die einzelnen
Parteien für einen weiteren Landtagssitz erringen mussten.
bb) Die durch die ungedeckten Mehrsitze eintretende Differenzierung im
Stimmgewicht ist auch nicht mit dem Gedanken einer „Prämie“ aus der
Mehrheitswahl zu rechtfertigen. Selbst wenn mit der „Prämie“ ein Anreiz für die
Parteien geschaffen werden sollte, attraktive und überzeugungskräftige
Wahlkreiskandidatinnen und Wahlkreiskandidaten aufzustellen und mit diesen orts-
und bürgernahe Wahlkreisarbeit zu leisten (so , JZ 1996, 265 <270>; ihm
folgend , JZ 1997, 761 <762>), wäre die Begrenzung des
Mehrsitzausgleichs schon kein geeignetes Mittel, um dieses Ziel zu erreichen, da
der Eintritt dieses Anreizes generell nicht vorhersehbar ist und sich bis zur
Landtagswahl 2009 tatsächlich auch noch nie realisiert hatte. Diese Prämie für
erfolgreiche Wahlkreisbewerberinnen und -bewerber wäre zudem daran gekoppelt,
dass sich deren Erfolg nicht in vollem Umfang im Zweitstimmenanteil ihrer Partei
umgesetzt hat. Insofern ist die systemkonforme „Prämie“ im
Zweistimmenwahlsystem nicht das Überhangmandat, sondern das durch
Wahlkreisbewerberinnen und Wahlkreisbewerber gewonnene Vertrauen für die Liste
ihrer Partei.
cc) Zu den mit einer Parlamentswahl verfolgten Zielen zählt auch die Sicherung
des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen
Willensbildung (vgl. BVerfG, Urteile vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 - a.a.O., Juris
Rn. 44; und vom 3. Juli 2008 a.a.O., Juris Rn. 98). Mit der Personenwahl im
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Rn. 44; und vom 3. Juli 2008 a.a.O., Juris Rn. 98). Mit der Personenwahl im
vorgeschalteten Mehrheitswahlsystem erhält jede Wählerin und jeder Wähler die
Möglichkeit, einer oder einem der im eigenen Wahlkreis kandidierenden
Bewerberinnen oder Bewerber ein Landtagsmandat zu verschaffen. Dadurch wird
die Verbindung zwischen den Wählerinnen und Wählern und ihren Abgeordneten,
die das Volk repräsentieren, gestärkt.
Auch wenn man die Verbindung zu den direkt gewählten Bewerberinnen und
Bewerbern für auf diese Weise stärkungsbedürftig halten wollte (kritisch etwa
, in: Festgabe für Karin für Graßhof, 1998, S. 69 <78>), stellt dies
ebenfalls keinen zwingenden Grund dar. Die Stärkung dieser Verbindung wird
bereits durch § 3 Abs. 5 Satz 1 LWahlG bewirkt, sobald die erfolgreichen
Wahlkreisbewerberinnen und -bewerber auch dann einen (Mehr-) Sitz im Landtag
erhalten, wenn die Zahl der Direktmandate ihrer Partei deren verhältnismäßigen
Sitzanteil übersteigt (vgl. , JZ 1996, 265 <269 f.>; , DVBl. 1997,
737 <742>; und im Ergebnis ähnlich , a.a.O., S. 77 f.).
dd) Die Verzerrung der Erfolgswertgleichheit durch Begrenzung des Sitzausgleichs
ist auch nicht durch das Ziel der Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Landtags zu
rechtfertigen, obwohl dieses ein „verfassungsrechtlicher Belang von höchstem
Rang“ ist (vgl. , NordÖR 2010, 131 <132>).
Die Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Parlaments ist vor allem im
Zusammenhang mit der 5 % - Sperrklausel als Differenzierungsgrund anerkannt.
Im Fokus steht dabei die Sorge, dass das Parlament aufgrund einer Zersplitterung
der vertretenen Kräfte funktionsunfähig wird, insbesondere nicht mehr in der Lage
ist, aus sich heraus stabile Mehrheiten zu bilden und eine aktionsfähige Regierung
zu schaffen (vgl. nur BVerfG, Urteile vom 5. April 1952 - 2 BvH 1/52 - BVerfGE 1,
208 ff., Juris Rn. 127 f.; vom 29. September 1990 - 2 BvE 1/90 u.a. - BVerfGE 82,
322 ff., Juris Rn. 45; und vom 13. Februar 2008 - 2 BvK 1/07 - BVerfGE 120, 82 ff.,
Juris Rn. 121 m.w.N., stRspr.; , in: ,
Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, Kommentar, 2006, Art. 3 Rn. 41). Auch
hierum geht es bei § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG nicht.
Die zur Rechtfertigung der Sperrklausel anerkannten Argumente sind auf eine
Verzerrung der Wahlgleichheit durch die zahlenmäßige Begrenzung der
Gesamtsitzzahl nicht übertragbar. Anders als im Falle der fehlenden Sperrklausel
kommt es ohne die Begrenzung des Mehrsitzausgleichs noch nicht zu einer
Erschwerung der Meinungsfindung und Mehrheitsbildung. Während die Sperrklausel
den Einzug einer Vielzahl kleiner Parteien in das Parlament verhindern soll,
verhindert die Begrenzung des Mehrsitzausgleichs zunächst einmal nur eine
Zuweisung weiterer Sitze an die im Landtag ohnehin vertretenen Parteien. Denn
beim Mehrsitzausgleich erhöht sich nicht die Zahl der Fraktionen, sondern nur die
Zahl der Angehörigen der dem Landtag ohnehin angehörenden Fraktionen.
Generell hängt die Arbeits- und Funktionsfähigkeit eines Parlaments eher vom
Vorhandensein großer, durch gemeinsame politische Zielsetzungen verbundener
Gruppen von Abgeordneten ab (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22. Mai 1979 - 2 BvR
193/79 u.a. - BVerfGE 51, 222 ff., Juris Rn. 76, 78) als von einer bestimmten
Abgeordnetenzahl. Dies belegt schon der Umstand, dass größere
Landesparlamente ebenso wie der Bundestag regulär aus deutlich mehr als 100
Abgeordneten bestehen, ohne dass ihre Arbeits- und Funktionsfähigkeit in Frage
gestellt würde (vgl. , Stellungnahme zu Landtags-Drucksache 17/10,
LandtagsUmdruck 17/752, S. 4). Entsprechend ist auch vorliegend weder
ersichtlich noch geltend gemacht, dass der gegenwärtige Landtag mit 95 oder
auch - nach vollem Ausgleich - mit 101 Abgeordneten nicht arbeitsfähig sein sollte.
ee) Dessen ungeachtet hat sich der Verfassungsgeber entschieden, selbst die
Abgeordnetenzahl im Landtag festzulegen und damit eine größenmäßige
Zielvorgabe zu schaffen (Art. 10 Abs. 2 Satz 1 und 2 LV). Trotz der zugleich
vorgesehenen Möglichkeit der Erhöhung durch Überhang- und Ausgleichsmandate
(Art. 10 Abs. 2 Satz 4 LV) ist damit in der Verfassung ein Ziel formuliert, an dem
sich der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wahlrechts zu orientieren hat.
Auch wenn die zahlenmäßige Begrenzung des Mehrsitzausgleichs dieser
Zielvorgabe zuträglich ist, stellt sie sich unter den bestehenden wahlgesetzlichen
Bedingungen derzeit doch als unverhältnismäßig dar.
(1) Das durch die Verfassung vorgegebene Ziel, im Ergebnis nur geringfügige
Überschreitungen der Regelgröße von 69 Abgeordneten im Landtag zuzulassen
ist ein zumindest „zureichender“ Grund, um einen Eingriff in die Wahlgleichheit
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ist ein zumindest „zureichender“ Grund, um einen Eingriff in die Wahlgleichheit
durch Begrenzung des Ausgleichs von Überhangmandaten zu rechtfertigen. Die
beiden widerstreitenden Verfassungsvorgaben in Art. 10 Abs. 2 LV sind vom
Gesetzgeber zu einem schonenden Ausgleich zu bringen. Der ihm dabei zur
Verfügung stehende verfassungsrechtliche Gestaltungsrahmen ist vom Gericht zu
achten, solange dessen Grenzen eingehalten sind (vgl. BVerfG, Urteil vom 3. Juli
2008 - 2 BvC 1/07 u.a. - BVerfGE 121, 266 ff., Juris Rn. 115 m.w.N.).
(2) Unter den derzeitigen politischen Gegebenheiten eines erweiterten
Parteienspektrums und der derzeitigen gesetzlichen Ausgestaltung des übrigen
Wahlgesetzes ist die Regelung aber schon nicht geeignet, im Sinne der
verfassungsmäßigen Zielvorgabe von 69 Abgeordneten zu wirken. Ein
Wahlergebnis wie das zum 17. Landtag im Jahr 2009 zeigt, dass die zahlenmäßige
Begrenzung der weiteren Sitze zulasten der Ausgleichsmandate nicht im Sinne der
verfassungsmäßigen Zielvorgabe in Art. 10 Abs. 2 Satz 1 und 2 LV zu wirken
vermag. Diese Zielvorgabe wird selbst mit der Begrenzung durch § 3 Abs. 5 Satz 3
LWahlG deutlich verfehlt, wenn statt der regelhaft vorgesehenen 69 tatsächlich 95
Abgeordnetensitze vergeben werden.
Zudem erfolgt diese Begrenzung einseitig zulasten der Ausgleichsmandate und
ignoriert damit, dass unter der verfassungsrechtlich zugleich gegebenen Vorgabe
der Erfolgswertgleichheit unter den Bedingungen einer personalisierten
Verhältniswahl nach Art. 3 Abs. 1 LV in Verbindung mit Art. 10 Abs. 2 Satz 3 bis 5
LV vorrangig Überhangmandate zu vermeiden sind. Die damit verbundene
Beeinträchtigung der Wahlgleichheit ist unter den tatsächlichen und rechtlichen
Gegebenheiten jedenfalls nicht erforderlich, da der Gesetzgeber die Möglichkeit
hat, durch das Zusammenspiel anderer geeigneter Maßnahmen zu einer
Reduzierung der Abgeordnetenzahl zu kommen, die weder die Wahlgleichheit noch
andere von der Verfassung geschützten Belange beeinträchtigen. Diese
Möglichkeit setzt bei der derzeitigen Ausgestaltung des Wahlrechts insbesondere
in den § 1 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 sowie § 16 LWahlG an (Zweistimmenwahlrecht,
Anzahl der Wahlkreise und direkt gewählter Abgeordneter, Abweichung der
Bevölkerungszahl eines Wahlkreises von bis zu 25 v.H. von der durchschnittlichen
Bevölkerungszahl der Wahlkreise). Denn das Zusammenwirken dieser Regelungen
führt gegenwärtig in der politischen Realität eines Fünfparteiensystems - zuzüglich
einer verfassungsfesten Sonderrolle des SSW - systemisch dazu, dass Überhang-
(und Ausgleichs-) mandate in einer Größenordnung entstehen können und so die
Gesamtzahl von Abgeordneten im Landtag derart ansteigen kann, dass die in Art.
10 Abs. 2 Satz 2 LV zum Ausdruck gebrachte Zielgröße von 69 Abgeordneten
regelmäßig überschritten wird.
(3) Zu den Ursachen des Entstehens von Überhangmandaten und den
gesetzgeberischen Möglichkeiten, diese zu verhindern, ist die Landeswahlleiterin
als sachkundige Dritte in der mündlichen Verhandlung gehört worden. Ihre
Bekundungen stimmen im Wesentlichen überein mit den jüngst vom Landtag
eingeholten Stellungnahmen und Gutachten bei der Beratung des Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Wahlgesetzes für den Landtag von Schleswig-Holstein
(LandtagsDrucksache 17/10), die auch auf Erfahrungen bei den Wahlen in den
anderen Ländern und im Bund eingehen. Nach dem gegenwärtigen
Landeswahlrecht entstehen Überhangmandate bei Abweichung des prozentualen
Erststimmenergeb-nisses vom Zweitstimmenergebnis, wenn eine Partei viele
Wahlkreise direkt gewinnt, die für ihre Landesliste abgegebenen Zweitstimmen
aber nicht ausreichen, um im Rahmen des Verhältnisausgleichs einen mindestens
gleich großen Anteil an der Gesamtzahl der regulär zu vergebenden Mandate zu
erlangen (Stellungnahme der Landeswahlleiterin vom 22. April 2010, Landtags-
Umdruck 17/738, S. 2). Ursächlich hierfür sind verschiedene tatsächliche und
rechtliche Vorbedingungen, die im Falle ihres Zusammentreffens kumulativ wirken
und die Gesamtzahl der Landtagsabgeordneten weit über die Zielvorgabe
anwachsen lassen.
(a) Im Tatsächlichen sind etwa die Anzahl der Parteien mit Wahlkreisbewerberinnen
und -bewerbern, die später am Verhältnisausgleich teilnehmen, die
Wahlbeteiligung und die Anzahl ungültiger Zweitstimmen ursächlich (vgl.
Stellungnahme des Wissenschaftlichen Dienstes vom 26. April 2010, Landtags-
Umdruck 17/761, S. 20 f.). Dabei werden die Wahlkreise nach wie vor nur von den
großen Parteien (CDU und SPD) gewonnen. Ihre Zweitstimmenanteile sind
demgegenüber rückläufig (vgl. , Stellungnahme vom 7. Juni 2010, Landtags-
Umdruck 17/938, S. 2).
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(b) Einen besonders großen Einfluss auf das Entstehen von Überhangmandaten
hat die Zahl der Wahlkreise. Nach § 1 Abs. 1 Satz 2 LWahlG und § 16 Abs. 1
LWahlG gibt es derzeit 40 Wahlkreise. Den Wahlkreisabgeordneten stehen bei einer
Größe des Landtages von 69 Abgeordneten (vgl. Art. 10 Abs. 2 Satz 2 LV, § 1 Abs.
1 Satz 1 LWahlG) nur 29 Abgeordnete aus den Landeslisten gegenüber. Je mehr
die Zahl der durch Mehrheitswahl in den Wahlkreisen zu wählenden Abgeordneten
die Zahl der durch Verhältniswahl aus den Landeslisten zu wählenden
Abgeordneten übersteigt, desto größer ist die Gefahr, dass die vorgesehene
Regelgröße des Landtages überschritten wird (Stellungnahme der Landeswahlleite-
rin, a.a.O., S. 2 f.). Würde man die Zahl der in den Wahlkreisen zu wählenden
Abgeordneten gegenüber den aus den Landeslisten zu wählenden Abgeordneten
wenigstens auf ein ausgeglichenes Verhältnis reduzieren, ließe sich die
Wahrscheinlichkeit für das Entstehen von Überhangmandaten senken
(Stellungnahme des Wissenschaftlichen Dienstes, a.a.O., S. 24; vgl. auch
a.a.O., S. 1; sowie die Rechenbeispiele in der Stellungnahme der
Landeswahlleiterin Mecklenburg-Vorpommerns vom 22. April 2010, Landtags-
Umdruck 17/739, Beispielsrechnung 1 und 1a, S. 2 f.).
(c) Eine weitere rechtlich zu beeinflussende Ursache ist der Zuschnitt der
Wahlkreise. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Partei mit vergleichsweise wenigen
Erststimmen einen Wahlkreis gewinnt, hängt nicht zuletzt von der Größe dieses
Wahlkreises im Vergleich zu den anderen Wahlkreisen ab (Stellungnahme der
Landeswahlleiterin, a.a.O., S. 3). Gegenwärtig werden die Wahlkreise nach § 16
Abs. 2 und 3 LWahlG auf der Grundlage der Bevölkerungszahl eingeteilt, wobei eine
Abweichung von bis zu 25 v.H. von der durchschnittlichen Zahl der Bevölkerung in
den Wahlkreisen zugelassen ist. Stattdessen wäre eine maximale Abweichung vom
größten Wahlkreis von lediglich 15 v.H. zu den anderen Wahlkreisen anzustreben.
Betrachtet man die Landtagswahl 2009, so betrug unter Zugrundelegung der Zahl
der Wahlberechtigten die Durchschnittsgröße eines Wahlkreises 55.603. Im
kleinsten Wahlkreis Husum-Land lebten 42.037 und im größten Wahlkreis
Segeberg-Ost 69.408 Wahlberechtigte; dies entspricht Abweichungen von 24,4 %
bzw. 24,8 % von der durchschnittlichen Zahl der Wahlberechtigten, absolut aber
einer Abweichung von 39,4 % des kleinsten vom größten Wahlkreis.
Die für das Bundestagswahlrecht als verfassungskonform anerkannte
Maximalabweichung von bis zu 25 v.H. (§ 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BWahlG) beruht auf
Erwägungen, die auf die Verhältnisse in einem einzelnen Land nicht übertragbar
sind. So ist für den Bundesgesetzgeber die gleiche Größe der Wahlkreise sowohl
für den einzelnen Wahlkreis als auch berechnet auf die Bevölkerungsdichte jedes
Landes eine aus der Wahlgleichheit folgende Bedingung (BVerfG, Beschluss vom
18. Juli 2001 - 2 BvR 1252/99 u.a. -, NVwZ 2002, 71 f., Juris Rn. 22; weitere
Nachweise in der Stellungnahme des Wissenschaftlichen Dienstes, a.a.O., S. 14).
Hiervon ausgehend hat der Bundesgesetzgeber dafür Sorge zu tragen, dass die
Wahlkreise im Verhältnis der Bevölkerungsanteile auf die einzelnen Länder verteilt
werden (vgl. § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 3 BWahlG; BVerfG, Urteil vom 10. April
1997 - 2 BvF 1/95 - BVerfGE 95, 335 ff., Juris Rn. 97). Demgegenüber findet der
Landesgesetzgeber ein einheitliches Wahlgebiet vor, weshalb er insoweit nicht
eines vergleichbar großen Spielraums bedarf.
Hinzu kommt, dass die derzeit gewählte Bemessungsgrundlage beim Zuschnitt
der Wahlkreise (durchschnittliche Bevölkerungszahl gemäß § 16 Abs. 2 und 3
LWahlG) keine Unterscheidung zwischen wahlberechtigten und nicht
wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürgern vornimmt. Ist der Anteil des nicht
wahlberechtigten Bevölkerungsanteils eines Wahlkreises größer als im
Durchschnitt, erleichtert dies das Erreichen der relativen Mehrheit und es steigt die
Wahrscheinlichkeit, dass mehr Wahlkreisbewerberinnen und -bewerber erfolgreich
sind, als es prozentual dem Zweitstimmenanteil der jeweiligen Partei entspricht.
Die Gefahr von Überhangmandaten ließe sich hier reduzieren, wenn nur auf die
Wahlberechtigten abgestellt wird (vgl. Stellungnahme des Wissenschaftlichen
Dienstes, a.a.O., S. 20 f. m.w.N.; JZ 2002, 469 <471>).
(d) Schließlich ist es möglich, § 1 Abs. 2 LWahlG zu ändern, um das
Zweistimmenwahlrecht und mit ihm das Überhangmandate fördernde
Stimmensplitting abzuschaffen und das Einstimmenwahlrecht wieder einzuführen
(vgl. Stellungnahme der Landeswahlleiterin, a.a.O., S. 2; Wissenschaftlicher Dienst,
a.a.O., S. 21; , a.a.O., S. 2).
(e) Alternativ wäre zu erwägen, das Wahlsystem grundlegender neu zu gestalten.
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(e) Alternativ wäre zu erwägen, das Wahlsystem grundlegender neu zu gestalten.
Es könnte etwa derart umgestellt werden, dass die Zahl der Wahlkreise erheblich
gesenkt und zugleich in den Wahlkreisen die Zahl der zu wählenden Bewerberinnen
und Bewerber erhöht wird.
(4) Solange diese Möglichkeiten nicht ausgeschöpft werden, erweist sich die
Regelung des § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG als ungeeignet und nicht erforderlich, das
von der Verfassung vorgegebene Ziel eines Landtages mit allenfalls wenig mehr
als 69 Abgeordneten zu erreichen. Ein Wahlsystem, das durch die Regelungen in §
3 Abs. 5, § 1 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 und § 16 LWahlG mit derzeit 95 Abgeordneten
den von der Verfassung in Art. 10 Abs. 2 LV verbindlich vorgegebenen Auftrag,
einen deutlich kleineren Landtag mit möglichst wenig Überhang- (und Ausgleichs-
)mandaten zu erreichen, so grundlegend verfehlt, stellt sich insgesamt als
verfassungswidrig dar.
IV.
Eine verfassungskonforme Auslegung der § 1 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2, § 3 Abs. 5
und § 16 LWahlG ist nicht möglich.
Die verfassungskonforme Auslegung findet ihre Grenzen dort, wo sie mit dem
Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzes in Widerspruch tritt. Im
Wege der verfassungskonformen Auslegung darf einem nach Wortlaut und Sinn
eindeutigen Gesetz nicht ein entgegengesetzter Sinn verliehen, der normative
Gehalt der auszulegenden Norm nicht grundlegend neu bestimmt oder das
gesetzgeberische Ziel nicht in einem wesentlichen Punkt verfehlt werden (Urteil
vom 26. Februar 2010 - LVerfG 1/09 - NordÖR 2010, 155 ff. = Die Gemeinde SH
2010, 79 ff. = SchlHA 2010, 131 ff., Juris Rn. 104 m.w.N.). Sie ist aber auch dann
nicht möglich, wenn in einer Norm zwei widerstreitende Verfassungsvorgaben zum
Ausgleich gebracht werden müssten.
1. Der eindeutige Wortlaut der § 1 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 und des § 16 LWahlG
steht bereits einer verfassungskonformen Auslegung dieser Vorschriften
entgegen. § 1 Abs. 2 LWahlG bestimmt, dass jede Wählerin und jeder Wähler zwei
Stimmen hat; eine Erststimme für die Wahl einer Bewerberin oder eines Bewerbers
im Wahlkreis, eine Zweitstimme für die Wahl einer Landesliste. Diese Vorschrift
bietet keinen Ansatz, sie dahingehend auszulegen, dass ein Einstimmenwahlrecht
möglich sein könnte. Die Zahl der Wahlkreise legen § 1 Abs. 1 Satz 2 LWahlG und §
16 Abs. 1 LWahlG mit 40 fest. Auch sie bieten keinen Ansatz für eine Auslegung,
die eine geringere Zahl der Wahlkreise zuließe. Die weiteren Vorschriften des § 16
LWahlG bestimmen für den Zuschnitt der Wahlkreise als Ausgangspunkt der
Berechnung die Bevölkerungszahl und nicht die Wahlberechtigten eines
Wahlkreises. Auch die mögliche Größe der Abweichung und ihr Bezugspunkt sind
mit 25 v. H. von der durchschnittlichen Bevölkerungszahl der Wahlkreise (§ 16 Abs.
3 Satz 1 LWahlG) eindeutig festgelegt und einer Auslegung nicht zugänglich.
2. Einer verfassungskonformen Auslegung des § 3 Abs. 5 LWahlG, etwa im Sinne
eines „großen Ausgleichs“, stünde bereits die weitere Vorgabe der Verfassung
entgegen, den Landtag möglichst nicht über 69 Abgeordnete anwachsen zu
lassen. Im Übrigen kommt eine solche Auslegung in Anbetracht der eindeutigen
Entstehungsgeschichte, der klaren Gesetzessystematik und des darin zum
Ausdruck kommenden Willens des Gesetzgebers auch nicht in Betracht.
Während der Wortlaut des § 3 Abs. 5 LWahlG noch offen scheint, führen seine
Entstehungsgeschichte und seine systematische Auslegung auch im normativen
Zusammenhang zu einer detaillierten, in sich geschlossenen Regelung, die eine
andere Deutung nicht zulässt. Der Gedanke des „großen Ausgleichs“
argumentiert vom Ergebnis her und vermengt Ursache und Wirkung. Die innerhalb
des Wahlverfahrens für das Entstehen von Mehrsitzen ursächlichen Faktoren
unterstreichen zwar den Bedarf nach einem Ausgleich, rechtfertigen aber nicht die
Annahme, dass das Gesetz von seiner Systematik her auf einen vollen Ausgleich
angelegt wäre (vgl. ausführlich: Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 -
bis 75>).
V.
Die Verfassungswidrigkeit einer gesetzlichen Vorschrift führt im Regelfall zu deren
Nichtigkeit ex tunc (§ 42 Satz 1, vgl. auch § 46 Satz 2 und § 48 LVerfGG).
Ausnahmsweise kann die Vorschrift aber auch für unvereinbar mit der
Landesverfassung erklärt werden. Dies dient dem Schutz der gesetzgeberischen
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Landesverfassung erklärt werden. Dies dient dem Schutz der gesetzgeberischen
Gestaltungsfreiheit und ist geboten, wenn der Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten
hat, einen verfassungswidrigen Zustand zu beseitigen (Urteil vom 26. Februar
2010 a.a.O., Juris Rn. 106 ff. m.w.N.).
Unter den gegebenen tatsächlichen Bedingungen kumulieren die in § 1 Abs. 1
Satz 2 und Abs. 2 sowie § 16 Abs. LWahlG normativ verankerten Ursachen die
Gefahr von Überhangmandaten mit einer zu erwartenden Regelmäßigkeit und in
einer Größenordnung, dass der damit verbundene Eingriff in die vorgegebene
Regelgröße von 69 Abgeordneten nicht mehr als vernachlässigenswerte
Erscheinung zu rechtfertigen ist, zumal die entstandenen Überhangmandate
(Mehrsitze) von Verfassungs wegen noch entsprechend viele Ausgleichsmandate
nach sich ziehen müssen. Um diese Regelgröße möglichst genau zu erreichen, hat
der Gesetzgeber daher das Entstehen von Überhangmandaten so weit wie
möglich einzuschränken und darf nicht vorrangig die Ausgleichsmandate
begrenzen. Dem Gesetzgeber stehen verschiedene Möglichkeiten zur Auswahl,
um die wahlrechtlichen Verhältnisse so zu ändern, dass einerseits die Entstehung
ungedeckter Überhangmandate (Mehrsitze) für die Zukunft ausgeschlossen
werden kann und andererseits ein unzuträgliches Anwachsen des Landtags
vermieden wird. Im Rahmen des ihm zur Verfügung stehenden
verfassungsrechtlichen Gestaltungsrahmens bleibt es ihm überlassen, in welcher
Weise er von den oben aufgezeigten Möglichkeiten Gebrauch macht (vgl. Urteil
vom 26. Februar 2010 - LVerfG 1/09 -NordÖR 2010, 155 ff. = Die Gemeinde SH
2010, 79 ff. = SchlHA 2010, 131 ff., Juris Rn. 147-152 m.w.N.).
Möchte der Gesetzgeber an dem bestehenden Wahlsystem im Rahmen des Art.
10 Abs. 2 LV festhalten und auch an der Begrenzung des Mehrsitzausgleichs,
sollte er jedenfalls die mit § 1 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 sowie § 16 LWahlG
benannten Handlungsmöglichkeiten, die zur Vermeidung von Überhangmandaten
beitragen, soweit wie möglich und gleichzeitig ausschöpfen. Sollte der
Gesetzgeber § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG zum Schutze der Erfolgswertgleichheit
streichen, bliebe zu bedenken, dass ein im Übrigen unverändertes Wahlrecht zu
Ergebnissen führen kann, die sich von der Zielvorgabe des Art. 10 Abs. 2 Satz 2 LV
noch weiter entfernen. Auch dann müssten die weiteren Handlungsmöglichkeiten
ausgeschöpft werden.
Anders als bei der Nichtigkeitsfeststellung wird die verfassungswidrige Norm durch
die Feststellung ihrer Unvereinbarkeit nicht aus der Rechtsordnung ausgeschieden,
sondern besteht formell fort (vgl. , NJW 1982, 257 f.). Allerdings tritt auch
hier vom Zeitpunkt der Entscheidung an bis zur Neuregelung durch den
Gesetzgeber eine Anwendungssperre ein (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11.
November 1998 - 2 BvL 10/95 - BVerfGE 99, 280 ff., Juris Rn. 76 m.w.N.;
a.a.O., 258; , Jura 2009, 18 <21>). Diese Anwendungssperre umfasst
grundsätzlich alle noch nicht bestandskräftigen Entscheidungen, die auf der für
verfassungswidrig erklärten Regelung beruhen (§ 43 Abs. 2 Satz 1 LVerfGG; Urteil
vom 26. Februar 2010 a.a.O., Juris Rn. 108 m.w.N., ebenso für die wortgleiche
Vorschrift des § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG: BVerfG, Beschluss vom 11. November
1998 a.a.O., Juris Orientierungssatz 4.a und Rn. 76, stRspr.; vgl. auch ,
a.a.O.). Die Gültigkeit der Landtagswahl vom 27. September 2009 bleibt jedoch
aus den oben genannten Gründen von der Entscheidung im Normenkontrollver-
fahren unberührt (siehe B ).
Durch die Unvereinbarkeitsfeststellung ist sichergestellt, dass § 3 Abs. 5 LWahlG
und § 1 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 sowie § 16 LWahlG im bestehenden Gefüge des
Landeswahlrechts für den Fall einer Neuwahl auch während der Übergangszeit
nicht mehr zur Anwendung kommen. Dennoch belässt sie dem Gesetzgeber die
Möglichkeit, das bestehende Landeswahlrecht derart umzugestalten, dass auch
eine Beibehaltung des § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG oder einer oder mehrerer der
Regelungen in § 1 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 und § 16 LWahlG denkbar erscheint. Zum
Schutz der verfassungsmäßigen Zielvorgaben des Art. 10 Abs. 2 LV und in
Anbetracht der parallel getroffenen Entscheidung im Wahlprüfungsverfahren
(LVerfG 1/10) sieht sich das Gericht aber zugleich veranlasst, an den Gesetzgeber
zu appellieren, die zu treffende Neuregelung unverzüglich und unter
Berücksichtigung der im Urteil aufgezeigten Handlungsmöglichkeiten und -gebote
zu veranlassen (zur sog. Appellentscheidung: , a.a.O., S. 23 f. m.w.N.). Nur
so kann sichergestellt werden, dass das bestehende Landeswahlrecht nicht im
Übrigen unverändert nochmals zur Anwendung kommt. Denn dies brächte die
Gefahr eines wiederum verfassungswidrigen Wahlergebnisses mit sich, weil die
Zielvorgabe von 69 Abgeordneten nochmals deutlich verfehlt werden könnte.
133
134
VI.
Das Verfahren ist kostenfrei (§ 33 Abs. 1 LVerfGG). Eine Kostenerstattung findet
nicht statt (§ 33 Abs. 4 LVerfGG). Eine Entscheidung über die Vollstreckung entfällt
(§ 34 LVerfGG).
VII.
Das Urteil ist einstimmig ergangen.