Urteil des BVerfG vom 26.09.2005

BVerfG: freiheit der person, recht auf freiheit, entlassung aus der haft, schutzwürdiges interesse, freiheitsentziehung, rechtskraft, unterbringung, verfassungsbeschwerde, strafvollstreckung

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1019/01 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn G...,
- Bevollmächtigter:
Rechtsanwalt Christof Püschel,
Aduchtstraße 7, 50668 Köln -
gegen a) den Beschluss des Oberlandesgerichts Köln vom 18. Mai 2001 - 2 Ws 213/01 -,
b)
den Beschluss des Landgerichts Köln vom 26. April 2001 - 108 - 38/00 -
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten Hassemer,
die Richterin Osterloh
und den Richter Mellinghoff
gemäß § 93c in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom
11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 26. September 2005 einstimmig beschlossen:
Die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Köln vom 18. Mai 2001 – 2 Ws 213/01 – und des Landgerichts Köln vom 26.
April 2001 – 108 – 38/00 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 des
Grundgesetzes in Verbindung mit Artikel 104 Absatz 1 Satz 1, Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes. Sie werden
aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht Köln zurückverwiesen.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe:
I.
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die verfassungsrechtliche Zulässigkeit des vorübergehenden Vollzugs der so
genannten "Organisationshaft".
2
1. Die "Organisationshaft" bezieht sich auf die Organisation des Vorwegvollzugs einer in einem rechtskräftigen Urteil
gemäß §§ 63, 64 StGB angeordneten Maßregel der Besserung und Sicherung. Unter "Organisationshaft" ist die
Freiheitsentziehung in einer Justizvollzugsanstalt zu verstehen, die gegen einen rechtskräftig Verurteilten bis zu dem
Zeitpunkt seiner Überstellung in die zuständige Maßregeleinrichtung - psychiatrisches Krankenhaus oder
Entziehungsanstalt - vorübergehend vollzogen wird.
3
2. a) Der Beschwerdeführer wurde vom Landgericht Köln am 16. Februar 2001, rechtskräftig seit dem 24. Februar
2001, wegen Betäubungsmitteldelikten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Zugleich wurde
gemäß § 64 StGB seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Eine Anordnung, wonach die Strafe
vor der Maßregel zu vollziehen sei, enthält das Urteil nicht. Das schriftliche Urteil ging am 1. März 2001 bei der
Geschäftstelle des Landgerichts ein. Die Urkundsbeamtin fertigte am 12. März 2001 die für die Strafvollstreckung
vorausgesetzte beglaubigte Abschrift der Urteilsformel.
4
b) Gegen den Beschwerdeführer war Untersuchungshaft vollzogen worden. Auch nach Eintritt der Rechtskraft des
Urteils verblieb er zunächst in der Justizvollzugsanstalt Köln.
5
c) Am 15. März 2001 verfügte der Rechtspfleger der Staatsanwaltschaft ein Aufnahmeersuchen an den für den
Maßregelvollzug zuständigen Landschaftsverband Rheinland. Die Wiedervorlage des Vorgangs verfügte der
Rechtspfleger - mit einem Klammerzusatz "Ablauf Organisationsfrist" - auf den 21. Mai 2001. Die Verfügung wurde
am 26. März 2001 in der Kanzlei gefertigt. Das Aufnahmeersuchen ging am 2. April 2001 beim Landschaftsverband
Rheinland ein. Am 4. April 2001 teilte der Direktor des Landschaftsverbands Rheinland der Staatsanwaltschaft mit, er
könne aufgrund der angespannten Belegungssituation nicht sofort einen Behandlungsplatz für den Verurteilten zur
Verfügung stellen, habe ihn aber auf der entsprechenden Warteliste vorgemerkt. Mit Schreiben vom 5. April 2001 wies
das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen den Landesbeauftragten für den Maßregelvollzug darauf hin,
dass der Beschwerdeführer voraussichtlich aus der Haft entlassen werden müsste, falls nicht bis spätestens 24. Mai
2001 dessen Aufnahme im Maßregelvollzug erfolge. In einer am 18. April 2001 von der Staatsanwaltschaft
eingeholten Mitteilung wurde seitens des Landschaftsverbands Rheinland eine Aufnahme des Verurteilten bis zum
24. Mai 2001 in Aussicht gestellt. Die Staatsanwaltschaft verfügte hierauf eine Wiedervorlagefrist von einem Monat.
Am 22. Mai 2001 wurde der Beschwerdeführer schließlich in einer Entziehungsanstalt untergebracht. Am
9. September 2001 nutzte der Beschwerdeführer einen genehmigten Ausgang zur Flucht.
6
d) Der Beschwerdeführer beantragte am 13. April 2001, mithin vor seiner späteren Verlegung in die
Entziehungsanstalt, beim Landgericht Köln, die weitere Vollstreckung der "Organisationshaft" für unzulässig zu
erklären und seine sofortige Entlassung aus der Haft anzuordnen. Die Fortdauer der "Organisationshaft" verletze den
therapiewilligen und therapiebereiten Beschwerdeführer wegen des Fehlens einer darauf bezogenen gesetzlichen
Regelung in seinem Grundrecht aus Art. 104 Abs. 1 und 2 GG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 GG. Während des
Wartens auf das Freiwerden eines Platzes im Maßregelvollzug dürfe er nicht in Haft gehalten werden.
7
e) Der Antrag des Beschwerdeführers sowie eine gegen den zurückweisenden Beschluss des Landgerichts Köln
vom 26. April 2001 gerichtete sofortige Beschwerde, mit welcher der Beschwerdeführer auf die staatliche
Verantwortung für die Bereitstellung der erforderlichen Maßregelplätze sowie auf den Vorbehalt des förmlichen
Gesetzes für jede Form der Freiheitsbeschränkung hingewiesen hatte, blieben ohne Erfolg. Das Oberlandesgericht
Köln verwarf die sofortige Beschwerde mit Beschluss vom 18. Mai 2001. Die Gerichte vertraten übereinstimmend die
Auffassung, der Vollstreckungsbehörde müsse für die unverzüglich eingeleitete Vorbereitung des Maßregelvollzugs
eine angemessene Übergangsfrist zugebilligt werden, innerhalb welcher sie einen - bis zum Eintritt der Rechtskraft in
Untersuchungshaft befindlichen - Verurteilten weiterhin in Haft halten könne. Diese Frist sei jedenfalls innerhalb eines
Zeitraums von drei Monaten noch gewahrt. Ohne Zubilligung einer Übergangsfrist lasse sich der Maßregelvollzug nicht
vorbereiten und organisieren. Die unmittelbare Überstellung des Verurteilten in den Maßregelvollzug mit Rechtskraft
der Verurteilung scheitere daran, dass der Tag des Eintritts der Rechtskraft nicht vorhersehbar sei, da der Eingang
und die Bearbeitung von Rechtsmitteln sich nicht kalkulieren ließen. Zum anderen würden die Suche eines
Unterbringungsplatzes und die Überführung des Verurteilten dorthin regelmäßig einige Zeit erfordern. Der gesetzliche
Vorwegvollzug der Maßregel setze gerade voraus, dass dieser vorbereitet werden könne. Dies bedeute vor allem,
dass ein Unterbringungsplatz gefunden werden müsse. In einer Vielzahl der Fälle würde eine Freilassung der
inhaftierten Verurteilten die Durchführung des Maßregelvollzugs vereiteln.
II.
8
1. Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit
Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG.
9
a) Es bestehe trotz der zwischenzeitlichen Unterbringung in der Entziehungsanstalt ein schutzwürdiges Interesse an
der Feststellung der Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Beschlüsse. Eine grundsätzliche Klärung der
verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der "Organisationshaft" sei geboten.
10
b) Es fehle an einer gesetzlichen Bestimmung ("förmliches Gesetz"), die die "Organisationshaft" gestatte oder die
es der Vollstreckungsbehörde abweichend von § 67 Abs. 1 StGB erlaube, zunächst eine "andere Freiheitsentziehung"
zu vollstrecken. Eine richterrechtliche Rechtsfortbildung, dergemäß eine "Organisationshaft" bis zu drei Monaten
statthaft sei, sei verfassungsrechtlich unhaltbar. Die Umkehrung der in § 67 Abs. 1 StGB regelmäßig vorgesehenen
Vollstreckungsreihenfolge bedürfe einer - hier nicht vorliegenden - vorherigen Entscheidung der
Strafvollstreckungskammer nach § 67 Abs. 3 StGB und sei ohnehin nur statthaft, wenn Umstände in der Person des
Verurteilten hierfür maßgebend seien. Das Fehlen eines Maßregelvollzugsplatzes sei ein solcher Grund nicht. Dem im
Urteil der Strafkammer vom 16. Februar 2001 umgesetzten Gesetzesbefehl sei nicht zeitnah nachgekommen worden.
Jedenfalls während der Zeit, in der lediglich auf das Freiwerden eines Platzes im Maßregelvollzug gewartet werde,
dürfe der Verurteilte nicht in Haft gehalten werden. Die nach Rechtskraft bis zum 22. Mai 2001 fortdauernde
Inhaftierung ohne Möglichkeit der Suchttherapie laufe § 137 StVollzG zuwider und stelle sich als bloße Verwahrung
des Beschwerdeführers dar. Der Staat könne sich nicht auf das Fehlen von ausreichenden Einrichtungen berufen. Es
sei die Aufgabe des Staates, die für einen Maßregelvollzug erforderlichen personellen wie sächlichen Mittel
aufzubringen, bereitzustellen und einzusetzen.
11
2. Der Bundesregierung, allen Landesregierungen, dem Präsidenten des Bundesgerichtshofs sowie dem
Generalbundesanwalt wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Hiervon haben namens der Landesregierung
das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen, der Generalbundesanwalt sowie für die Bundesregierung das
Bundesministerium der Justiz Gebrauch gemacht. Die Stellungnahmen befassen sich unter anderem mit den
praktischen Problemen des Vorwegvollzugs der angeordneten Maßregeln und der Bereitstellung geeigneter
Maßregelplätze. In rechtlicher Hinsicht wird die "Organisationshaft" für zulässig gehalten. Die verfassungsrechtlich
noch zulässige Dauer der "Organisationshaft" könne nur im Einzelfall bestimmt werden. Auf der einen Seite seien die
dem Beschleunigungsgebot unterliegenden Bemühungen der Vollstreckungsbehörden zu berücksichtigen.
Andererseits seien insbesondere das öffentliche Interesse an der Sicherung des Vollzugs von Freiheitsstrafe und
Maßregel sowie die Gefährdung der Bevölkerung bei einer zwischenzeitlichen Freilassung von Bedeutung.
12
3. Dem Bundesverfassungsgericht haben die Straf- und Vollstreckungsakten vorgelegen.
III.
13
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1
BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist (§ 93b in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die
Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für eine der Verfassungsbeschwerde stattgebende Entscheidung
der Kammer sind gegeben. Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen zu Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in
Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1, Absatz 2 Satz 1 GG hat das Bundesverfassungsgericht beantwortet. Danach
ist die zulässige (1.) Verfassungsbeschwerde in einem die Entscheidungskompetenz der Kammer begründenden
Sinne offensichtlich begründet (2.).
14
1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Obgleich der Beschwerdeführer wenige Tage nach der abschließenden
fachgerichtlichen Entscheidung und noch vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde in eine Entziehungsanstalt
überstellt wurde, hat er ein schutzwürdiges Interesse an der Feststellung, ob die gegen ihn vollzogene
"Organisationshaft" grundrechtswidrig war.
15
a) Das Bundesverfassungsgericht geht insbesondere in den Fällen tief greifender, schon im Grundgesetz unter einen
Richtervorbehalt gestellter Grundrechtseingriffe (vgl. BVerfGE 96, 27 <40>; 104, 220 <232 f.>) trotz deren Erledigung
von einem Fortbestehen des Rechtsschutzbedürfnisses für eine Verfassungsbeschwerde aus, wenn die direkte
Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt sich auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher der Betroffene nach
dem regelmäßigen Geschäftsgang eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kaum erlangen kann; der
Grundrechtsschutz der Betroffenen würde ansonsten in unzumutbarer Weise verkürzt (vgl. BVerfGE 34, 165 <180>;
41, 29 <43>; 49, 24 <51 f.>; 81, 138 <140>; ebenso - unter dem Gesichtspunkt des Art. 19 Abs. 4 GG - BVerfGE
104, 220 <233>, für die Annahme eines Rechtsschutzbedürfnisses nach Erledigung der Eingriffe im fachgerichtlichen
Verfahren).
16
b) Es würde der Bedeutung des Schutzes der persönlichen Freiheit, wie ihn das Grundgesetz garantiert, regelmäßig
nicht entsprechen, wenn das Recht auf die verfassungsrechtliche Klärung einer Freiheitsverletzung durch eine - nach
der Behauptung des Beschwerdeführers - gesetzlich nicht vorgesehene Freiheitsentziehung mit deren Beendigung
entfiele (vgl. BVerfGE 65, 317 <321>). Ob sich die Gesamtdauer der Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers
durch den vorliegenden Vollzug der "Organisationshaft" verlängert hat, ist in diesem Zusammenhang ohne Bedeutung.
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2. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in
seinem Recht auf Freiheit der Person.
18
a) Den verfassungsrechtlichen Maßstab für die "Organisationshaft" bilden Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und 3 GG sowie
Art. 104 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 GG.
19
aa) Danach darf die Freiheit der Person nur aus besonders gewichtigen Gründen und nur unter strengen formalen
Gewährleistungen eingeschränkt werden. Die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe stellt stets einen Eingriff in die durch
Art. 2 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich garantierte Freiheit der Person dar (vgl. BVerfGE 29, 312 <316>). Dabei gilt
auch für die Strafvollstreckung, dass der Gesetzgeber in Ausfüllung des Gesetzesvorbehalts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 3
GG die materiellen Maßstäbe für die Art und Dauer der Vollstreckung festzulegen hat (vgl. BVerfGE 86, 288 <326>).
20
bb) Für den schwersten Eingriff in das Recht auf Freiheit der Person, die Freiheitsentziehung, fügt Art. 104 Abs. 2
GG dem Vorbehalt des förmlichen Gesetzes (vgl. BVerfGE 83, 24 <32> zu dem hiermit verbundenen Analogieverbot)
und den zur Verfassungspflicht erhobenen freiheitsschützenden Formen gemäß Art. 104 Abs. 1 Satz 1 2. Alternative
GG (vgl. hierzu BVerfGE 58, 208 <220>; 65, 317 <321 f.>) den weiteren, verfahrensrechtlichen Vorbehalt einer
richterlichen Entscheidung hinzu, der nicht zur Disposition des Gesetzgebers steht (vgl. BVerfGE 10, 302 <323>). Der
Richtervorbehalt dient der verstärkten Sicherung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Alle staatlichen
Organe sind verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass der Richtervorbehalt als Grundrechtssicherung praktisch
wirksam wird (vgl. BVerfGE 105, 239 <248>). Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG gibt aber lediglich eine Voraussetzung für
die Entscheidung über die Zulässigkeit und Dauer der Freiheitsentziehung an. Auf die Form des Vollzugs der
Freiheitsstrafe bezieht sich die Bestimmung nicht (vgl. BVerfGE 64, 261 <280>; Beschluss der 2. Kammer des
Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Juli 1993 – 2 BvR 213/93 -, NJW 1994, S. 1339, für den
Arrest im Rahmen einer Freiheitsentziehung).
21
cc) Die Freiheitsstrafe und die Maßregel der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt verfolgen verschiedene
Zwecke. Sie können deshalb auch nebeneinander angeordnet werden. Beide staatliche Reaktionen auf eine Tat sind
indes mit Freiheitsentziehung verbunden. Das Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG erfordert es deshalb, sie
einander so zuzuordnen, dass die Zwecke beider möglichst weitgehend erreicht werden, ohne dabei in das
Freiheitsrecht des einzelnen Betroffenen mehr als notwendig einzugreifen (vgl. BVerfGE 91, 1 <31>).
22
dd) In dem durch den Schuldausgleich vorgegebenen Rahmen sieht das Bundesverfassungsgericht auch die
Prävention sowie die Resozialisierung des Täters als verfassungsrechtlich geboten an
23
(vgl. BVerfGE 45, 187 <253 f.> m.w.N.). Da der Freiheitsstrafe vom Schuldprinzip her Grenzen gesetzt sind, reicht
sie indes - ungeachtet der Ausrichtung des Vollzugs auf das Resozialisierungsziel (§ 2 Satz 1 StVollzG; vgl. auch
BVerfGE 45, 187 <238 f.>) - vielfach nicht aus, den erforderlichen Schutz der Allgemeinheit vor erheblichen
rechtswidrigen Taten rauschmittelabhängiger Straftäter zu verwirklichen. Dieser Schutz soll durch die Behandlung der
Rauschmittelabhängigkeit in Vollzug der zusätzlich zur Strafe verhängten Maßregel der Unterbringung in einer
Entziehungsanstalt erreicht werden.
24
ee) Die mit der "Organisationshaft" verbundene Problematik der Vollstreckungsreihenfolge berührt die durch Art. 2
Abs. 2 Satz 2 GG verfassungsrechtlich gewährleistete Freiheit der Person. Dieses Freiheitsrecht beeinflusst als
objektive, für alle Bereiche des Rechts geltende Wertentscheidung (vgl. BVerfGE 10, 302 <322>) auch die Auslegung
und Anwendung von Vorschriften, die auf die rechtstechnische Umsetzung und die Kontrolle freiheitsentziehender
Maßnahmen gerichtet sind (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 14. Januar 2005 - 2 BvR
1825/03 -, juris, zur Veröffentlichung in BVerfGK vorgesehen).
25
b) Die angegriffenen Entscheidungen haben diesen Anforderungen nicht hinreichend Rechnung getragen.
26
aa) Der vom Oberlandesgericht Köln in Bezug genommene Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juni 1997 (2 BvR 2422/96, NStZ 1998, S. 77) befasst sich in
entscheidungserheblicher Weise alleine mit der Anrechnung der "Organisationshaft" bei der Strafzeitberechnung.
Danach darf die "Organisationshaft", soweit die Strafzeitberechnung betroffen ist, dem Betroffenen nicht zum Nachteil
gereichen.
27
bb) Der vorübergehende Vollzug der "Organisationshaft" verlängert die Gesamtdauer der Freiheitsentziehung des
Beschwerdeführers nicht.
28
(1) Die zur Vorbereitung der Durchführung der vorweg zu vollziehenden Maßregel vollzogene "Organisationshaft"
führt regelmäßig - wie auch hier - zu keiner effektiven Verlängerung der Freiheitsentziehung des hiervon Betroffenen.
Jedenfalls die Dauer der tatsächlichen Strafvollstreckung entspricht hier der richterlichen, auf einem Gesetz
beruhenden und freiheitsentziehenden Entscheidung des Hauptsachegerichts. Im Rahmen der Strafzeitberechnung
kann durch eine Anrechnung der "Organisationshaft" auf die Freiheitsstrafe sichergestellt werden, dass der
Beschwerdeführer keinen Nachteil erleiden muss. Dies ist wegen der besonderen Bedeutung des Freiheitsgrundrechts
von Verfassungs wegen geboten (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts
vom 18. Juni 1997 - 2 BvR 2422/96 -, NStZ 1998, S. 77).
29
(2) Ob unter dem Gesichtspunkt der Gesamtdauer der Freiheitsentziehung eine andere Beurteilung in den hier nicht
zu überprüfenden Fällen angezeigt ist, in denen eine vollständige Anrechnung der "Organisationshaft" auf die weitere
Freiheitsentziehung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen ausgeschlossen ist, bedarf keiner Entscheidung.
30
cc) Die unterschiedlichen Zwecke der Maßregel der Besserung und Sicherung einerseits und der Freiheitsstrafe
andererseits finden unter anderem in der Regelreihenfolge des Vorwegvollzugs der Maßregel einen gesetzlichen
Ausdruck. Die "Organisationshaft" bereitet zum Zweck der Nutzung der "therapeutisch fruchtbaren" Zeit (vgl.
BTDrucks V/4095, S. 31; Wolf, in: Pohlmann/Jabel/Wolf, StVollstrO, 7. Aufl., § 44a Rn. 2) die nach der gesetzlichen
Regelreihenfolge und dem richterlichen Erkenntnis vorweg zu vollziehende Maßregel vor. Von einer unter dem
Gesichtspunkt des Freiheitsgrundrechts unmaßgeblichen bloßen Form des Vollzugs der Freiheitsstrafe oder der
Maßregel kann wegen deren unterschiedlicher Zwecke jedenfalls bei einer Umkehrung des Vollzugs nicht
ausgegangen werden.
31
dd) Eine gesetzeswidrige und dem zu vollstreckenden Urteil widersprechende Umkehrung der
Vollstreckungsreihenfolge liegt bei der "Organisationshaft" aber dann vor, wenn die Vollstreckungsbehörde in
Umsetzung des gerichtlichen Rechtsfolgenausspruchs nicht unverzüglich die Überstellung des Verurteilten in den
Maßregelvollzug einleitet und herbeiführt (vgl. hierzu Brandenburgisches OLG, StV 2001, S. 23 <25>).
32
(1) In der Strafprozessordnung ist aus rechtlichen und tatsächlichen Gründen eine durch Anrechnung
auszugleichende zeitliche Verzögerung der Vollstreckung eines Strafurteils angelegt. Der Beginn der Vollstreckung
setzt neben der Rechtskraft des Urteils die vom hierfür zuständigen Vollsteckungsrechtspfleger (vgl. § 31 Abs. 2
RPflG) zu erstellende Bescheinigung der Vollstreckbarkeit voraus. Etwaige Vollstreckungshindernisse gemäß
§§ 455 ff. StPO müssen geprüft werden. Ungeachtet der Frage, ob zum Zeitpunkt des Vollstreckungsbeginns
überhaupt ein für den Verurteilten geeigneter Therapieplatz vorhanden ist, bedarf es zudem eines
verwaltungstechnischen Vollzugs der Überstellung des Verurteilten in die Maßregeleinrichtung. Bei den hierfür
erforderlichen Abläufen ist in Rechnung zu stellen, dass die Maßregeleinrichtungen nicht der für die Strafvollstreckung
zuständigen Justizverwaltung unterstellt sind. In Nordrhein-Westfalen sind die der Aufsicht des Ministeriums für
Arbeit, Gesundheit und Soziales unterworfenen Landschaftsverbände zuständig.
33
(2) Da die durch die Maßregelanordnung bezweckte, sowohl der Resozialisierung des Verurteilten als auch der
Sicherheit der Allgemeinheit dienende Behandlung des Verurteilten (vgl. § 137 StVollzG) in der Justizvollzugsanstalt
nicht gewährt werden kann, kann die "Organisationshaft" mit wachsender Dauer einer der Gesetzeslage und der
richterlichen Anordnung widersprechenden Umkehrung der Vollstreckungsreihenfolge mit dem Risiko von deren
Zweckverfehlung nahe kommen. Die von Verfassungs wegen noch vertretbare Organisationsfrist kann daher nur im
jeweiligen Einzelfall unter Berücksichtigung der Bemühungen der Strafvollstreckungsbehörde um eine beschleunigte
Unterbringung des Verurteilten im Maßregelvollzug bestimmt werden.
34
(3) Einem eindeutigen Gesetzesbefehl darf die Gefolgschaft nicht deshalb versagt werden, weil die Exekutive nicht
die zu seiner Durchführung erforderlichen Mittel bereit hält (vgl. BGHSt 28, 327 <329>). Von Verfassungs wegen
geboten ist es aber im Hinblick auf das Freiheitsgrundrecht nicht, dass bereits zum Zeitpunkt des im Einzelfall nicht
vorhersehbaren Vollstreckungsbeginns ein für den jeweiligen Verurteilten geeigneter Platz in einer Maßregeleinrichtung
vorgehalten wird. Von den Vollstreckungsbehörden sowie den Landschaftsverbänden kann der auf den konkreten
Einzelfall bezogene Behandlungsbedarf nicht ohne weiteres antizipiert werden.
35
(4) Verfassungsrechtlich geboten ist es indes, dass die Vollstreckungsbehörden auf den konkreten, von der
Rechtskraft des jeweiligen Urteils abhängigen Behandlungsbedarf unverzüglich reagieren und in beschleunigter Weise
die Überstellung des Verurteilten in eine geeignete Einrichtung, welche sich unter Umständen auch außerhalb des
jeweiligen Bundeslandes befinden kann, herbeiführen (zur restriktiven, auf das Beschleunigungsgebot und den
Einzelfall abstellenden Tendenz in der obergerichtlichen Rechtsprechung vgl. OLG Dresden, NStZ 1993, S. 511 f.;
Brandenburgisches OLG, StV 2001, S. 23 ff.; OLG Celle, StV 2003, S. 32 f.; OLG Celle, NStZ-RR 2003, S. 316 f.;
OLG Hamm, NStZ-RR 2004, S. 381 ff.).
36
(5) Diesen Anforderungen haben die angegriffenen Entscheidungen nicht Rechnung getragen. Die Fachgerichte
haben die ersichtlich auf eine dreimonatige Organisationsfrist ausgerichtete Praxis der Staatsanwaltschaft Köln
bestätigt. Die Gerichte haben nicht in hinreichender Weise in den Blick genommen, dass die Vollstreckungsbehörde
unverzüglich die Überstellung des Beschwerdeführers in den Maßregelvollzug hätte herbeiführen müssen. Auf die
Überstellung gerichtete Tätigkeiten der Staatsanwaltschaft haben die Fachgerichte daher nicht gewürdigt. Auf der
Grundlage der Annahme einer festen Zeitspanne für die Organisation der Unterbringung haben die Gerichte im
Ergebnis lediglich deren Einhaltung, nicht aber die Umstände für das Zustandekommen einer nahezu dreimonatigen
Organisationsfrist geprüft. Die fachgerichtliche Behauptung, die Vollstreckungsbehörde habe sich in der gebotenen
Zeit und mit der gebotenen Intensität um einen Unterbringungsplatz gekümmert, wird in den Beschlussgründen nicht
erläutert und deckt sich nicht mit dem tatsächlichen Ablauf der Organisation der Unterbringung des
Beschwerdeführers.
37
Bei der erforderlichen Einzelfallprüfung hätten die Fachgerichte feststellen müssen, dass die Vollstreckungsbehörde
erst knapp drei Wochen nach Rechtskraft des Urteils das Aufnahmeersuchen verfügte. Ein von Verfassungs wegen
vertretbarer Grund für diese Verzögerung ist schon deswegen nicht erkennbar, weil der zum Zeitpunkt des Urteils
absehbare Zeitpunkt der Rechtskraft von der Staatsanwaltschaft spätestens nach Ablauf der Rechtsmittelfrist beim
Landgericht
hätte
erfragt
werden
können.
Ungeachtet
der
erforderlichen
Prüfung
sämtlicher
Vollstreckungsvoraussetzungen hätte die Staatsanwaltschaft schon mit dem Zeitpunkt der Rechtskraft bei den für
den Maßregelvollzug zuständigen Stellen den konkreten Unterbringungsbedarf - auch fernmündlich oder per Telefax -
anmelden können.
38
Zudem hätten die Fachgerichte feststellen müssen, dass auch für weitere Verzögerungen keine nachvollziehbaren
Umstände erkennbar waren. Es ist offen, weswegen das Aufnahmeersuchen erst mehr als einen Monat nach
Rechtskraft der Entscheidung in der Kanzlei gefertigt wurde. Erst eine weitere Woche später datiert der Eingang des
Ersuchens bei dem Landschaftsverband. Eine Sachstandnachfrage der Staatsanwaltschaft vom 18. April 2001 diente,
als Reaktion auf den Antrag des Beschwerdeführers auf sofortige Haftentlassung, ersichtlich alleine dem Zweck, die
Unterbringung binnen eines Dreimonatszeitraums vom Landschaftsverband Rheinland bestätigt zu bekommen. Auch
aus den Wiedervorlagefristen ergibt sich, dass die Tätigkeit der Staatsanwaltschaft nur auf die Unterbringung des
Beschwerdeführers binnen der genannten Frist gerichtet war. Von Verfassungs wegen gebotene Bemühungen der
Staatsanwaltschaft, eine frühzeitige Unterbringung des Beschwerdeführers im Maßregelvollzug - unter Umständen
auch in Maßregeleinrichtungen außerhalb des Landschaftsverbands Rheinland - herbeizuführen, sind nicht ersichtlich.
IV.
39
Die Entscheidung über die Erstattung der Auslagen folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.
40
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Hassemer
Osterloh
Mellinghoff