Urteil des BVerfG vom 18.12.2002

BVerfG: verfassungskonforme auslegung, geschäftsfähigkeit, erfüllung, papier, grundrecht, rechtsnorm, zustand, kreis, gefahr, einwilligung

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvL 14/02 -
In dem Verfahren
zur verfassungsrechtlichen Prüfung
des § 1304 BGB,
- Aussetzungs- und Vorlagebeschluss des Amtsgerichts Köln vom 30. August 2002 (378 III 64/01) -
hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Präsidenten Papier
und die Richterinnen Haas,
Hohmann-Dennhardt
gemäß § 81 a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 18.
Dezember 2002 einstimmig beschlossen:
Die Vorlage ist unzulässig.
Gründe:
A.
1
Das Vorlageverfahren betrifft die Frage, ob § 1304 BGB mit Art. 6 Abs. 1 GG vereinbar ist.
I.
2
§ 1304 BGB, der mit dem Eheschließungsrechtsgesetz vom 4. Mai 1998 in das Bürgerliche Gesetzbuch eingefügt
worden ist (BGBl I S. 833), hat folgenden Wortlaut:
3
"Wer geschäftsunfähig ist, kann eine Ehe nicht eingehen."
II.
4
Die Beteiligten zu 1 und zu 2 des Ausgangsverfahrens wollen die Ehe miteinander schließen. Der Standesbeamte
lehnte seine Mitwirkung bei der Eheschließung mit der Begründung ab, die Beteiligte zu 1, die seit 1996 unter
Betreuung steht, sei ausweislich eines psychiatrischen Gutachtens aus dem Jahre 2000 geschäftsunfähig und könne
die Ehe deshalb nicht eingehen.
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Die Beteiligten zu 1 und zu 2 beantragten daraufhin beim Amtsgericht Köln, den Standesbeamten gemäß § 45
Personenstandsgesetz anzuweisen, die Eheschließung vorzunehmen. Der Betreuer der Beteiligen zu 1 schloss sich
dem an. In dem vom Gericht eingeholten ergänzenden psychiatrischen Gutachten vom 20. Februar 2002 stellte der
Sachverständige erneut die Geschäftsunfähigkeit der Beteiligten zu 1 fest. Sie verfüge allerdings über
lebenspraktische Fertigkeiten zur Selbstversorgung und zur Versorgung ihres Haushaltes. Auch sei sie in der Lage,
im Rahmen einer natürlichen Willensbildung dezidiert Wünsche zu äußern oder auf die Erfüllung von Bedürfnissen
hinzuwirken. So äußere sie schon seit geraumer Zeit den Wunsch, eine langjährig bestehende Partnerschaft in die
Rechtsform der Ehe überführen zu wollen. Ihrem Wunsch sollte Rechnung getragen werden.
6
Das Amtsgericht Köln hat daraufhin das Verfahren mit Beschluss vom 30. August 2002 ausgesetzt und dem
Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung darüber vorgelegt, ob § 1304 BGB mit Art. 6 Abs. 1 GG und mit dem
aus dieser Bestimmung resultierenden Grundrecht auf Eingehung einer Ehe vereinbar ist. Nach Ansicht des Gerichts
ist § 1304 BGB verfassungswidrig. Die Regelung widerspreche dem durch Art. 6 Abs. 1 GG gewährleisteten
Grundrecht der Beteiligten zu 1 auf Eingehung einer Ehe. Das Gericht sehe sich an der beabsichtigten stattgebenden
Sachentscheidung durch § 1304 BGB gehindert, da nach seiner Überzeugung die Beteiligte zu 1 geschäftsunfähig sei.
Eine verfassungskonforme Auslegung der Vorschrift des § 1304 BGB dahin, dass ein Betreuter oder
Geschäftsunfähiger eine Ehe dann eingehen könne, wenn eine Ehegeschäftsfähigkeit - die Einsichtsfähigkeit in das
Wesen der Ehe - beziehungsweise eine partielle Geschäftsfähigkeit vorhanden sei, sei ausgeschlossen. Zwar werde
diese Ansicht in der neueren Rechtsprechung vertreten. Diese Auslegung verstoße jedoch gegen die in Art. 20 Abs. 2
GG normierte Bindung der Gerichte an das Gesetz und letztlich auch gegen das in Art. 20 Abs. 3 GG verankerte
Gewaltenteilungsprinzip.
B.
7
Die Vorlage ist unzulässig.
I.
8
Gemäß Art. 100 Abs. 1 GG in Verbindung mit § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG muss das vorlegende Gericht darlegen,
inwiefern seine Entscheidung von der Gültigkeit der zur Prüfung gestellten Norm abhängt (seit BVerfGE 7, 171
<173 f.> stRspr, vgl. zuletzt BVerfGE 89, 329 <336>; 94, 315 <323>; 97, 49 <60>). Das Gericht muss sich dabei
eingehend mit der Rechtslage auseinander setzen und die in Literatur und Rechtsprechung entwickelten
Rechtsauffassungen berücksichtigen, die für die Auslegung der zur Prüfung vorgelegten Norm von Bedeutung sind
(BVerfGE 65, 308 <316>; stRspr, vgl. zuletzt BVerfGE 97, 49 <60>). Solange die Möglichkeit besteht, dass das
vorlegende Gericht den Rechtsstreit in dem von ihm gewünschten Sinne entscheiden kann, ohne die für
verfassungswidrig gehaltene Rechtsnorm anzuwenden, fehlt es an der Entscheidungserheblichkeit der zu prüfenden
Norm. Dabei muss das vorlegende Gericht den Sachverhalt so weit aufklären, dass die Entscheidungserheblichkeit
der zu prüfenden Vorschrift feststeht (BVerfGE 25, 269 <276> m.w.N.) und die Vorlage deshalb unerlässlich ist
(BVerfGE 42, 42 <50>, vgl. auch BVerfGE 11, 330 <335>; 58, 153 <157 f.>).
II.
9
Diesen Anforderungen wird der Vorlagebeschluss nicht gerecht.
10
Es fehlt an der Entscheidungserheblichkeit der zu prüfenden Norm und damit an der Zulässigkeit des
Vorlagebeschlusses. Denn es ist nicht auszuschließen, dass das vorlegende Gericht bei zutreffender Würdigung des
§ 104 Ziff. 2 BGB den Rechtsstreit in dem von ihm gewünschten Sinne hätte entscheiden können, ohne sich daran
durch § 1304 BGB gehindert zu sehen.
11
Zwar hat das vorlegende Gericht dargelegt, dass es bei der von ihm zu treffenden Entscheidung nach seiner
Auffassung auf die Gültigkeit des § 1304 BGB ankomme, da die Beteiligte zu 1 geschäftsunfähig sei. Ferner hat es
erörtert, wieso seiner Auffassung nach § 1304 BGB - im Gegensatz zu der in der Rechtsprechung und Literatur
vertretenen Auffassung (vgl. BayObLG, FamRZ 1997, S. 294 <295>; LG Osnabrück, FPR 2002, S. 90; Hellmann,
BtPrax 1997, S. 173 <174>; Finger, StAZ 1996, S. 225 <228 f.>; Böhmer, StAZ 1992, S. 65 <67>;
Staudinger/Hübner, BGB, Bearbeitung 2000, § 1304 BGB Rz. 4; Münchener Kommentar/Müller-Gindullis, BGB, 4.
Aufl., § 1304 Rz. 4; BGB-RGRK/Lohmann, 12. Aufl., 1999, § 1304 Rz. 7) - nicht verfassungskonform in dem Sinne
ausgelegt werden könne, dass sich die dort genannte Geschäftsunfähigkeit - anders als bei § 104 BGB - lediglich auf
eine "Ehegeschäftsfähigkeit" beziehe.
12
Das Gericht hat sich jedoch nicht hinreichend mit der Frage auseinander gesetzt, ob die Beteiligte zu 1
möglicherweise nach § 104 Ziff. 2 BGB hinsichtlich der Eingehung einer Ehe partiell geschäftsfähig ist, sodass § 1304
BGB nicht zur Anwendung käme.
13
Gemäß § 104 Ziff. 2 BGB ist geschäftsunfähig, wer sich in einem die freie Willensbildung ausschließenden
Zustande krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein
vorübergehender ist. Nach einhelliger Auffassung in Rechtsprechung und Literatur kann die Geschäftsfähigkeit auch
nur für einen bestimmten Kreis von Angelegenheiten ausgeschlossen sein (BGH, ZIP 1999, S. 2073 <2075>; BGH,
NJW 1970, S. 1680 <1681>; BGHZ 30, 112 <117 f.>; BGHZ 18, 184 <186 f.>; BPatGE 32, 167 <168 f.>; BayObLG,
FamRZ 1997, S. 294 <295>; BayObLG, NJW 1992, S. 2100 f.; BayObLG, RPfleger, 1991, S. 504; Münchener
Kommentar/Schmitt, BGB, 4. Aufl., § 104 Rz. 15; Erman/Palm, BGB, 10. Aufl., 2000, § 104 Rz. 5;
Soergel/Hefermehl, BGB, 13. Aufl., § 104 Rz. 7; BGB-RGRK/Lohmann, 12. Aufl., 1999, § 1304 Rz. 7; Palandt/
Heinrichs, BGB, 61. Aufl., § 104 Rz. 6). Dies ist der Fall, wenn es der betreffenden Person infolge einer krankhaften
Störung der Geistestätigkeit nicht möglich ist, in bestimmten Lebensbereichen ihren Willen frei und unbeeinflusst von
der vorliegenden Störung zu bilden oder nach einer zutreffend gewonnenen Einsicht zu handeln, während das für
andere Lebensbereiche nicht zutrifft (vgl. u.a. BGH, NJW 1970, S. 1680 <1681>; BGB-RGRK/Lohmann, 12. Aufl.,
1999, § 1304 Rz. 7). Trotz erheblicher Zweifel an der Geschäftsfähigkeit im Übrigen kann nach der in Rechtsprechung
und Literatur vertretenen Auffassung eine partielle Geschäftsfähigkeit im Sinne des § 104 Ziff. 2 BGB für die
Eheschließung gegeben sein (vgl. BayObLG FamRZ 1997, S. 294 <295>; Palandt/Heinrichs, BGB, 61. Aufl., § 104
Rz. 6; BGB-RGRK/Lohmann, 12. Aufl., 1999, § 1304 Rz. 7​).
14
Dieser - im Lichte der von Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Eheschließungsfreiheit (vgl. zur Eheschließungsfreiheit:
BVerfGE 31, 58 <68>; 36, 146 <163>) gebotenen - Auslegung des § 104 Ziff. 2 BGB steht ein etwaiges
Schutzbedürfnis des Eheschließenden nicht entgegen. Denn sofern ein Heiratswilliger zwar hinsichtlich der
Eheschließung geschäftsfähig, im Übrigen aber geschäftsunfähig sein sollte, kann für ihn insoweit gemäß §§ 1896 ff.
BGB - wie im Ausgangsfall bereits geschehen - eine Betreuung eingerichtet werden. Gemäß § 1903 Abs. 1 BGB kann
das Vormundschaftsgericht anordnen, dass der Betreute zu bestimmten Willenserklärungen der Einwilligung des
Betreuers bedarf (Einwilligungsvorbehalt), sofern dies zur Abwendung einer erheblichen Gefahr für die Person oder
das Vermögen des Betreuten erforderlich ist.
15
Für die Prüfung, ob die Beteiligte zu 1 hinsichtlich der Eheschließung im Sinne von § 104 Ziff. 2 BGB partiell
geschäftsfähig ist, hat auch das Sachverständigengutachten ausreichend Anlass gegeben. Denn der Sachverständige
hat die Beteiligte zu 1 für befähigt gehalten, im Rahmen einer natürlichen Willensbildung dezidiert Wünsche zu äußern
und auf die Erfüllung von Bedürfnissen hinzuwirken. In diese Befähigung hat er auch den Wunsch der Beteiligten zu 1
einbezogen, die Ehe mit ihrem langjährigen Partner zu schließen, und diesen Wunsch ausdrücklich befürwortet. Es
lässt sich nicht ausschließen, dass der Sachverständige die Beteiligte zu 1 bezogen auf den Eheschließungswunsch
partiell für geschäftsfähig hält. Erst wenn eine weitere Sachverhaltsaufklärung ergibt, dass die Beteiligte zu 1 im
Hinblick auf die Eheschließung nicht partiell geschäftsfähig im Sinne von § 104 Ziff. 2 BGB ist, kommt die zur
Prüfung gestellte Vorschrift zur Anwendung.
16
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Papier
Haas
Hohmann-Dennhardt