Urteil des BVerfG vom 04.02.2004

BVerfG: verfassungsbeschwerde, grundrecht, papier, rechtsstaatsprinzip, zugang, geburt, einfluss, gleichbehandlung, aussetzung, befristung

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 1715/02 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
der Frau P...
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Eckhard Benkelberg und Koll.,
Steinstraße 10, 46446 Emmerich -
gegen
a)
den Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 28. August 2002 - 5 WF 299/02
-,
b)
den Beschluss des Amtsgerichts Bocholt vom 8. Juli 2002 - 15 F 172/02 -
hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Präsidenten Papier,
den Richter Steiner
und die Richterin Hohmann-Dennhardt
am 4. Februar 2004 einstimmig beschlossen:
1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 28. August 2002 - 5 WF 299/02 - und der Beschluss des
Amtsgerichts Bocholt vom 8. Juli 2002 - 15 F 172/02 - verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht
aus Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Die Beschlüsse werden
aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht Bocholt zurückverwiesen.
2. Das Land Nordrhein-Westfalen hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.
3. Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 8.000
Euro (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.
Gründe:
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Zurückweisung eines Prozesskostenhilfeantrages für eine Klage gerichtet
auf Zahlung von Betreuungsunterhalt nach § 1615 l BGB.
2
Die Beschwerdeführerin begehrt von dem Vater ihres Kindes, mit dem sie nicht verheiratet ist und war, die Zahlung
von Betreuungsunterhalt nach § 1615 l Abs. 2 BGB für die Zeit nach Vollendung des dritten Lebensjahres des Kindes.
Hierfür beantragte sie die Gewährung von Prozesskostenhilfe.
3
Das Amtsgericht Bocholt wies den Prozesskostenhilfeantrag mit Beschluss vom 8. Juli 2002 zurück. Die - außer im
Falle grober Unbilligkeit - bestehende Befristung des Unterhaltsanspruchs auf drei Jahre sei nach herrschender
Meinung verfassungskonform. Dieser Auffassung schließe sich das Gericht an.
4
Mit Beschluss vom 28. August 2002 wies das Oberlandesgericht Hamm die Beschwerde der Beschwerdeführerin mit
der Begründung zurück, dass auch seiner Auffassung nach die grundsätzliche Begrenzung des Betreuungsunterhalts
nach § 1615 l BGB auf drei Jahre ab der Geburt des Kindes nicht verfassungswidrig sei.
II.
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Die Beschwerdeführerin rügt mit ihrer gegen die Entscheidung des Amtsgerichts sowie des Oberlandesgerichts
gerichteten Verfassungsbeschwerde die Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3
GG.
III.
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Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr nach § 93 c Abs. 1 Satz 1 in
Verbindung mit § 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG statt.
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1. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts der Beschwerdeführerin aus
Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die
Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93 c BVerfGG). Die für die Beurteilung
maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen zu den Anforderungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe sind
durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beantwortet (vgl. BVerfGE 9, 124; 10, 264 <270>; 22, 83
<87>; 51, 295 <302>; 63, 380 <394>; 67, 245 <248>; 78, 104 <117 f.>; 81, 347 <357>).
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2. Die angefochtenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 in
Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
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a) Zwar rügt die Beschwerdeführerin nicht ausdrücklich einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20
Abs. 3 GG. Ihrem Begehren ist indes zu entnehmen, dass sie sich in diesem Grundrecht verletzt sieht (vgl. zur
Auslegung eines Vorbringens BVerfGE 79, 174 <201>).
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b) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gebietet Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit dem in
Art. 20 Abs. 3 GG allgemein niedergelegten Rechtsstaatsprinzip eine weitgehende Angleichung der Situation von
Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 9, 124; 10, 264 <270>; 67,
245 <248>; 81, 347 <356>). Verfassungsrechtlich ist es dabei unbedenklich, die Gewährung von Prozesskostenhilfe
davon abhängig zu machen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht
auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint (vgl. BVerfGE 81, 347 <357>). Die Fachgerichte überschreiten den
Entscheidungsspielraum, der ihnen bei der Auslegung des gesetzlichen Tatbestandsmerkmals der hinreichenden
Erfolgsaussicht verfassungsrechtlich zukommt, jedoch dann, wenn sie unter Verkennung der Bedeutung der in Art. 3
Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verbürgten Rechtsschutzgleichheit die Anforderungen an die
Erfolgsaussicht der beabsichtigten Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung überspannen und dadurch der Zweck
der Prozesskostenhilfe, dem Unbemittelten den weitgehend gleichen Zugang zu Gericht zu ermöglichen, deutlich
verfehlt wird (vgl. BVerfGE 81, 347 <358>).
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c) Bei Anwendung dieser Maßstäbe erweist sich die vorliegende Verfassungsbeschwerde als begründet. Die
Gerichte haben die Anforderungen an die Erfolgsaussicht überspannt und damit die Bedeutung des
verfassungsrechtlich verbürgten Anspruchs auf Rechtsschutzgleichheit verkannt. Sie haben die maßgebliche Frage
der Verfassungswidrigkeit des § 1615 l BGB im summarischen Prozesskostenhilfeverfahren zum Nachteil der
Beschwerdeführerin entschieden, obwohl sie erkannt hatten, dass diese Frage streitig (vgl. Schwab, FamRZ 1997, S.
521 <525>; Müller, DAVorm 2000, S. 829 ff.) und höchstrichterlich nicht entschieden ist. Die Frage der
Verfassungsmäßigkeit des § 1615 l BGB ist eine weder einfach noch eindeutig zu entscheidende Frage, die geeignet
wäre, im summarischen Verfahren entschieden zu werden. So sind die den Betreuungsunterhalt regelnden
Vorschriften des § 1615 l BGB und § 1570 BGB Ausdruck der Elternverantwortung und dienen dazu, die persönliche
Betreuung des Kindes durch einen Elternteil zu ermöglichen. Vor diesem Hintergrund erscheint die
Verfassungsmäßigkeit der unterschiedlichen Ausgestaltung des Betreuungsunterhalts im Hinblick auf das aus Art. 6
Abs. 5 GG folgenden Gebot der Gleichbehandlung von unehelichen und ehelichen Kindern jedenfalls fraglich.
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Durch die Entscheidung dieser Frage im summarischen Prozesskostenhilfeverfahren wurde der mittellosen
Beschwerdeführerin die Möglichkeit genommen, im Hauptsacheverfahren durch vertiefte Darstellung des eigenen
Rechtsstandpunktes auf die Meinungsbildung der Instanzgerichte Einfluss zu nehmen und diese zur Aussetzung und
Beantragung eines Normenkontrollverfahrens zu veranlassen; ferner blieb ihr verwehrt, nach Erschöpfung des
Rechtsweges durch Erhebung einer Verfassungsbeschwerde mittelbar die verfassungsrechtliche Überprüfung des
§ 1615 l BGB zu erreichen.
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d) Die angegriffenen Entscheidungen des Amtsgerichts sowie des Oberlandesgerichts beruhen auf dem dargelegten
Grundrechtsverstoß. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Gerichte bei Beachtung der sich aus Art. 3 Abs. 1 in
Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG ergebenden Anforderungen zu einem anderen Ergebnis gekommen wären.
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3. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin beruht auf § 34 a Abs. 2
BVerfGG. Die Entscheidung über die Festsetzung des Gegenstandswertes folgt aus § 113 Abs. 2 Satz 3 BRAGO
(vgl. auch BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Papier
Steiner
Hohmann-Dennhardt