Urteil des BVerfG vom 12.10.2009

BVerfG: einverständliche ehescheidung, einverständliche scheidung, verfassungsbeschwerde, nettoeinkommen, ermessen, willkürverbot, einkünfte, ehescheidungsverfahren, rüge, vermietung

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 735/09 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Rechtsanwalts B...
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Naraschewski,
Adalbertstraße 2, 26382 Wilhelmshaven -
gegen
a)
den Beschluss des Oberlandesgerichts Oldenburg vom 20. Februar 2009 - 14 WF
42/09 -,
b)
den Beschluss des Amtsgerichts Jever vom 29. Oktober 2008 - 3 F 510/07 S -
hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterin Hohmann-Dennhardt
und die Richter Gaier,
Kirchhof
am 12. Oktober 2009 einstimmig beschlossen:
1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Oldenburg vom 20. Februar 2009 - 14 WF 42/09 - und der Beschluss
des Amtsgerichts Jever vom 29. Oktober 2008 - 3 F 510/07 S - verletzen den Beschwerdeführer in seinem
Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes. Die Beschlüsse werden aufgehoben. Die Sache wird an
das Amtsgericht Jever zurückverwiesen.
2. Das Land Niedersachsen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe:
I.
1
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Streitwertfestsetzung in einem Ehescheidungsverfahren.
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1. Der Beschwerdeführer ist Rechtsanwalt. In einem Ehescheidungsverfahren wurde er dem Ehemann, dem
Prozesskostenhilfe mit monatlicher Ratenzahlung von 115 € gewährt wurde, als Prozessvertreter beigeordnet. Der
Ehefrau wurde die Gewährung von Prozesskostenhilfe unter Hinweis auf deren nicht unerhebliche Einkünfte und
vorhandenes Immobiliarvermögen - die Ehefrau ist Eigentümerin eines Einfamilienhauses und mehrerer Wohnungen -
verweigert. Die Parteien des Scheidungsverfahrens, die Eltern zweier Kinder sind, verfügten zusammen über ein
monatliches Nettoeinkommen von mindestens 3.350 € sowie über weitere monatliche Mieteinkünfte in Höhe von etwa
1.250 €.
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2. Das Amtsgericht setzte den Geschäftswert für die - einverständliche - Ehescheidung ohne Begründung auf 3.000
€ fest und half der hiergegen gerichteten Beschwerde des Beschwerdeführers „aus den Gründen des angefochtenen
Beschlusses“ nicht ab.
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Das Oberlandesgericht wies die Beschwerde des Beschwerdeführers in der Folge mit der Begründung zurück, das
Vorbringen des Beschwerdeführers rechtfertige keine abweichende Entscheidung; das Amtsgericht habe unter
Berücksichtigung der im Beschluss des Oberlandesgerichts vom 26. Januar 2009 (14 WF 236/08 -, FamRZ 2009,
S. 1173) genannten Kriterien „sein ihm gegebenes Ermessen nicht fehlerhaft ausgeübt“.
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3. Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Bedeutung als Willkürverbot sowie die
Verletzung von Art. 12 Abs. 1 GG.
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Die angegriffenen Entscheidungen seien unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar und damit willkürlich.
Sowohl der amtsgerichtlichen Streitwertfestsetzung als auch der diesbezüglichen Beschwerdeentscheidung des
Oberlandesgerichts fehle es an einer nachvollziehbaren Begründung. Während die Entscheidung des Amtsgerichts
überhaupt keine Begründung aufweise, habe das Oberlandesgericht lediglich pauschal auf die in seinem Beschluss
vom 26. Januar 2009 (14 WF 236/08) genannten Kriterien verwiesen. Ob und inwieweit die dort genannten
Gesichtspunkte auch im vorliegenden - völlig anders gelagerten - Fall zum Tragen kämen und warum vorliegend die
Festsetzung des Streitwerts auf weniger als ein Drittel des dreifachen monatlichen Nettoeinkommens angemessen
sein könnte, habe das Oberlandesgericht nicht ausgeführt. Das Oberlandesgericht habe die konkreten Umstände des
Einzelfalls überhaupt nicht berücksichtigt; angesichts der Dauer des Scheidungsverfahrens (einschließlich des
Prozesskostenhilfeverfahrens) von insgesamt 11 Monaten, des vom Oberlandesgericht zugrunde gelegten
monatlichen Nettoeinkommens in Höhe von mindestens 3.550 € und der zusätzlichen Einkünfte aus Vermietung und
Verpachtung, des erheblichen Vermögens der Ehefrau sowie der schon wegen der beiden Kinder der Parteien hohen
Bedeutung des Scheidungsverfahrens sei die Festsetzung eines Streitwerts von nur 3.000 € nicht nachvollziehbar und
damit willkürlich.
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4. Das Niedersächsische Justizministerium, die Bundesrechtsanwaltskammer, der Deutsche Anwaltverein und die
Parteien des Ausgangsverfahrens hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.
II.
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Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung
des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 3 Abs. 1 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).
Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor. Das Bundesverfassungsgericht hat
die für die Entscheidung maßgeblichen Fragen bereits entschieden (vgl. BVerfGE 89, 1 <13 f.>; 96, 189 <203>). Die
Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet.
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1. Die fachgerichtliche Wertfestsetzung verletzt das aus Art. 3 Abs. 1 GG folgende Willkürverbot.
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Objektiv willkürlich ist ein Richterspruch nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dann,
wenn er unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass er auf
sachfremden Erwägungen beruht. Fehlerhafte Rechtsanwendung allein macht eine Gerichtsentscheidung jedoch nicht
willkürlich. Willkür liegt vielmehr erst dann vor, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt, der
Inhalt einer Norm in krasser Weise missverstanden oder sonst in nicht mehr nachvollziehbarer Weise angewendet
wird (vgl. BVerfGE 89, 1 <13 f.>; 96, 189 <203>).
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Daran gemessen ist Art. 3 Abs. 1 GG verletzt. Die angegriffenen Entscheidungen werden der - hier weiterhin
maßgeblichen (vgl. § 63 Abs. 1 FamGKG) - gesetzlichen Regelung in § 48 Abs. 2 und 3 des Gerichtskostengesetzes
in der Fassung vor Inkrafttreten des FGG-Reformgesetzes vom 17. Dezember 2008 (BGBl I S. 2586; im Folgenden:
GKG a.F.) in keiner Weise gerecht und sind unter keinem denkbaren rechtlichen Aspekt vertretbar. Die Fachgerichte
haben den Streitwert für die vom Beschwerdeführer auf Seiten des Antragstellers vertretene Scheidungssache auf
einen mit 3.000 € nur knapp über dem gesetzlichen Mindestwert liegenden Streitwert festgesetzt, ohne die von § 48
Abs. 2 GKG a.F. geforderte einzelfallbezogene Abwägung der für die Streitwertbemessung maßgeblichen Umstände
vorzunehmen und dabei die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Parteien des Scheidungsverfahrens zu
berücksichtigen.
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a) Die von den Fachgerichten gegebenen Begründungen machen die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene
Festsetzung des Streitwerts auf 3.000 € nicht nachvollziehbar. Tragfähige Erwägungen für diese Wertfestsetzung
lassen sich weder dem Beschluss des Amtsgerichts noch der Beschwerdeentscheidung des Oberlandesgerichts
entnehmen.
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Während der Beschluss des Amtsgerichts über die Streitwertfestsetzung ohne jede Begründung ergangen ist,
erschöpft sich der nach Beschwerdeeinlegung ergangene Nichtabhilfebeschluss des Amtsgerichts in dem Hinweis auf
angebliche - aber tatsächlich nicht vorhandene - Gründe der angefochtenen Entscheidung.
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Das Oberlandesgericht stellt wiederum ohne tragfähige Begründung fest, dass das Amtsgericht den Streitwert unter
fehlerfreier Ausübung seines Ermessens zutreffend auf 3.000 € festgesetzt habe. Der zur Begründung gegebene
alleinige Verweis des Oberlandesgerichts auf seine Entscheidung vom 26. Januar 2009 (14 WF 236/08) betrifft zwar
einen Fall mit vergleichbaren Einkommensverhältnissen der Eheleute, der Streitwert wurde indessen in mehr als
doppelter Höhe auf 6.600 € festgesetzt. Schon deshalb vermag der pauschale Verweis auf diesen - auch im Übrigen
grundlegend anders gelagerten - Fall weder zu erklären, dass das Amtsgericht sein Ermessen fehlerfrei ausgeübt
habe, noch lässt sich der Bezugnahme auf die im zitierten Beschluss aufgeführten Gesichtspunkte eine
nachvollziehbare und vertretbare eigene Begründung für die bestätigte Streitwertbemessung entnehmen. Die im
Beschluss vom 26. Januar 2009 genannten Kriterien werden auf den vorliegenden Einzelfall nicht zur Anwendung
gebracht, so dass eine Auseinandersetzung mit den Besonderheiten des konkreten Falles unterblieben ist.
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b) Nachvollziehbare Gründe für die angegriffene Streitwertfestsetzung sind auch den Umständen nach nicht
erkennbar.
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Nach § 48 Abs. 2 Satz 1 GKG a.F. (jetzt § 43 Abs. 1 Satz 1 FamGKG) ist der Streitwert in
nichtvermögensrechtlichen Angelegenheiten unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere des
Umfangs und der Bedeutung der Sache und der Vermögens- und Einkommensverhältnisse der Parteien, nach
Ermessen zu bestimmen; in Ehesachen ist dabei für die Einkommensverhältnisse das im Zeitraum von drei Monaten
erzielte Nettoeinkommen der Eheleute einzusetzen (§ 48 Abs. 3 Satz 1 GKG a.F., jetzt § 43 Abs. 2 FamGKG) und
ein Streitwert von mindestens 2.000 € zu bestimmen (§ 48 Abs. 3 Satz 2 GKG a.F., jetzt § 43 Abs. 1 Satz 2
FamGKG). Hiernach bestehen zwar keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen ein Abweichen vom
einzusetzenden dreifachen Nettoeinkommen, wenn der Streitwert für eine einverständliche Scheidung (§ 630 a.F. der
Zivilprozessordnung ) mit deswegen geringem Umfang festzusetzen ist (vgl. BVerfG, Beschluss der
2. Kammer des Ersten Senats vom 17. Dezember 2008 - 1 BvR 177/08 -, NJW 2009, S. 1197). Insbesondere ist es
aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden, wenn unter Abwägung aller Umstände mit vertretbarer
Begründung angenommen wird, dass eine Festsetzung des Streitwerts auf das dreifache monatliche Nettoeinkommen
im konkreten Fall nicht berechtigt ist; der Streitwertbemessung darf es jedoch nicht an einer nachvollziehbaren
Grundlage fehlen.
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Hiernach sind die angegriffenen Entscheidungen unter keinem Gesichtspunkt vertretbar und damit objektiv
willkürlich. Das Bundesverfassungsgericht hat unter anderem bereits in den Beschlüssen vom 24. Juli 2007 (1 BvR
1678/07), vom 11. Dezember 2007 (1 BvR 3032/07) und vom 17. Dezember 2008 (1 BvR 177/08, NJW 2009, S. 1197)
deutlich gemacht, dass eine Festsetzung des Streitwerts auf den gesetzlichen Mindestwert oder - wie bei 3.000 € -
nur knapp darüber bei einem deutlich höheren Dreimonatsnettoeinkommen der Eheleute verfassungsrechtlichen
Bedenken begegnen kann. Im vorliegenden Fall beläuft sich nicht nur das in drei Monaten erzielte Nettoeinkommen
der Eheleute auf über 13.000 €, es ist daneben auch Immobiliarvermögen der Ehefrau vorhanden, das nach § 48
Abs. 2 GKG a.F. ebenfalls zu berücksichtigen ist. Schon angesichts der 13-jährigen Dauer der Ehe und der
gemeinsamen Kinder ist die Scheidungssache auch nicht von einer nur unerheblichen Bedeutung. Unter diesen
Umständen ist die Festsetzung eines Streitwerts von lediglich 3.000 € auch in Anbetracht einer kurzen
Verfahrensdauer und eines nur geringen Umfangs des Scheidungsverfahrens nicht nachvollziehbar und unter keinem
denkbaren rechtlichen Aspekt vertretbar. Das Oberlandesgericht selbst hat in der von ihm in Bezug genommenen
Entscheidung vom 26. Januar 2009 (14 WF 236/08) bei vergleichbaren Einkommensverhältnissen der Eheleute
festgestellt, dass das Amtsgericht mit der Festsetzung des Streitwerts auf 6.600 € „sein Ermessen in jeder Hinsicht
zutreffend“ ausgeübt habe. Dabei war - im Unterschied zum vorliegenden Fall – weder „besonderes“ Vermögen der
Eheleute vorhanden noch waren aus der Ehe Kinder hervorgegangen; zudem war das gerichtliche Verfahren von
kürzerer Dauer. Dies macht deutlich, dass die Fachgerichte zu dem vorliegend festgesetzten Streitwert nur deshalb
gelangen konnten, weil sie den Einkommens- und Vermögensverhältnissen der Parteien des Scheidungsverfahrens
entgegen der gesetzlichen Regelung in § 48 Abs. 2 und 3 GKG a.F., entgegen der eigenen Rechtsprechung des
Oberlandesgerichts im Beschluss vom 26. Januar 2009 (14 WF 236/08) und entgegen der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts keinerlei Gewicht beigemessen haben.
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2. Nachdem die angegriffenen Entscheidungen jedenfalls das Willkürverbot gemäß Art. 3 Abs. 1 GG verletzen, kann
offen bleiben, ob auch die vom Beschwerdeführer erhobene Rüge zu Art. 12 Abs. 1 GG durchgreift.
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3. Die Beschlüsse des Amtsgerichts und des Oberlandesgerichts sind hiernach gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung
mit § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben, ohne dass es noch auf die weiter erhobene Rüge ankommt. Die Sache selbst
ist an das Amtsgericht zurückzuverweisen.
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4. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Hohmann-Dennhardt
Gaier
Kirchhof