Urteil des BVerfG vom 04.09.2006
BVerfG: verfassungsbeschwerde, unzumutbarkeit, verfügung, beratungsstelle, staat, rechtspflege, dringlichkeit, unabhängigkeit, vergütung, copyright
Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 1911/06 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
der Frau M...,
- Bevollmächtigter:
Rechtsanwalt Gustav Reuter,
Alte Weseler Straße 77, 47475 Kamp Lintfort -
gegen
a)
den Beschluss des Landgerichts Kleve vom 29. Juni 2006 – 4 T 169/06 -,
b)
den Beschluss des Landgerichts Kleve vom 22. Mai 2006 – 4 T 169/06 -,
c)
den Beschluss des Amtsgerichts Emmerich am Rhein vom 20. April 2006 – 8 II
69/06 – B -,
d)
den Beschluss des Amtsgerichts Emmerich am Rhein vom 18. April 2006 – 8 II
69/06 – B -,
e)
den Beschluss des Amtsgerichts Emmerich am Rhein vom 20. März 2006 – 8 II
69/06 – B -,
hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Präsidenten Papier
und die Richter Steiner,
Gaier
gemäß § 93 b in Verbindung mit § 93 a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I
S. 1473) am 4. September 2006 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe:
1
Die  Verfassungsbeschwerde  betrifft  die  Versagung  von  Beratungshilfe  für  einen  außergerichtlichen
Schuldenbereinigungsversuch nach § 305 Abs. 1 Nr. 1 InsO.
I.
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Das  Amtsgericht  wies  den  Antrag  der  Beschwerdeführerin,  ihr  Beratungshilfe  für  die  Durchführung  des
außergerichtlichen Einigungsversuchs gemäß § 305 Abs. 1 Nr. 1 InsO zu gewähren, zurück. Als andere Möglichkeit
für eine Hilfe im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 BerHG komme die Inanspruchnahme einer Schuldnerberatungsstelle in
Betracht. Unzumutbar lange Wartezeiten seien weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Hiergegen wendet sich die
Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin, mit der sie die Verletzung von Art. 3 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 1 GG
rügt.
II.
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Die  Verfassungsbeschwerde  ist  nicht  zur  Entscheidung  anzunehmen,  weil  die  Voraussetzungen  hierfür  nicht
vorliegen (vgl. BVerfGE 90, 22 <24 ff.>).
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1.  Grundsätzliche  Bedeutung  im  Sinn  des  §  93  a  Abs.  2  Buchstabe  a  BVerfGG  ist  nicht  gegeben.  Ob  und  unter
welchen
Voraussetzungen
Beratungshilfe
für
die
Durchführung
eines
außergerichtlichen
Schuldenbereinigungsversuchs  nach  §  305  Abs.  1  Nr.  1  InsO  zu  gewähren  ist,  ist  ein  zwar  streitiges,  aber  rein
einfachrechtliches Problem. Ungeklärte verfassungsrechtliche Fragen werden dabei nicht aufgeworfen.
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2.  Die  Annahme  der  Verfassungsbeschwerde  ist  auch  nicht  zur  Durchsetzung  der  in  §  90  Abs.  1  BVerfGG
genannten Rechte angezeigt (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG), weil es ihr an der Erfolgsaussicht fehlt.
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a)  Die  angegriffenen  Entscheidungen  verstoßen  nicht  gegen  das  Willkürverbot  des  Art.  3  Abs.  1  GG.  Ein
Richterspruch  ist  nur  willkürlich,  wenn  er  unter  keinem  denkbaren  Aspekt  rechtlich  vertretbar  ist  und  sich  daher  der
Schluss aufdrängt, dass er auf sachfremden Erwägungen beruht (vgl. BVerfGE 4, 1 <7>; 80, 48 <51>; stRspr). Das
ist hier nicht der Fall.
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aa) Die Gewährung von Beratungshilfe für den außergerichtlichen Schuldenbereinigungsversuch gemäß § 305 Abs. 1
Nr. 1 InsO ist dem Grundsatz nach möglich (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 18. März
2003 – 1 BvR 329/03 – NJW 2003, S. 2668; Schoreit/Dehn, BerH/PKH, 8. Aufl., 2004, § 1 BerHG Rn. 12a m.w.N.;
Kalthoener/Büttner/Wrobel-Sachs, PKH/BerH, 4. Aufl., 2005, Rn. 917a, 952a; a.A.: Landmann, Rpfleger 2000, S. 196
<198>;  AG  Duisburg-Ruhrort,  Beschluss  vom  16.  September  2005  –  13  II  814/05).  Davon  geht  ersichtlich  auch  der
Gesetzgeber  aus,  nachdem  er  mit  §  132  Abs.  4  BRAGO  bzw.  Ziffern  2502  ff.  RVG-VV  die  Gebührenberechnung
hierfür  ermöglicht  und  mit  Gesetz  zur  Änderung  der  Insolvenzordnung  und  anderer  Gesetze  vom  26.  Oktober  2001
(BGBl I S. 2710) die Gebührensätze erhöht hat, um das Engagement der Rechtsanwälte in diesem Bereich zu fördern
(vgl. BTDrucks. 14/5680, S. 17). Auch in den angegriffenen Entscheidungen wird keine andere Auffassung vertreten.
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bb)  Die  vom  Amtsgericht  gewählte  Auslegung  des  §  1  Abs.  1  Nr.  2  BerHG,  wonach  das  Aufsuchen  einer
Schuldnerberatungsstelle grundsätzlich eine andere Möglichkeit für eine Hilfe darstellt, deren Inanspruchnahme dem
Rechtsuchenden zuzumuten ist, ist einfachrechtlich gut vertretbar (vgl. z.B. AG Schwerte, VuR 2005, S. 31 <32>; AG
Schwelm,  Beschluss  vom  19.  März  1999  –  19  UR  II  7/99  –  juris;  Schoreit/Dehn,  a.a.O.,  Rn.  47;
Kalthoener/Büttner/Wrobel-Sachs, a.a.O., Rn. 952a; a.A. z.B. AG Köln, Rpfleger 1999, S. 497; AG Bochum, Rpfleger
2000, S. 461; Vallender, MDR 1999, S. 598 <599>; Fuchs/Bayer, Rpfleger 1999, S. 1 <3 f.>; Braun/Buck, InsO, 2.
Aufl., 2004, § 305 Rn. 6) und daher keineswegs willkürlich.
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Aus der gesetzlich vorgesehenen Vergütung der Tätigkeit eines Rechtsanwalts im Rahmen des außergerichtlichen
Schuldenbereinigungsversuchs  folgt  nicht,  dass  es  unzulässig  ist,  den  Schuldner  zunächst  an
Schuldnerberatungsstellen zu verweisen und Beratungshilfe erst zu gewähren, wenn diese wegen Überlastung keine
Hilfe  leisten  können.  So  hat  der  Gesetzgeber  angenommen,  dass  in  70  Prozent  der  außergerichtlichen
Einigungsversuche nach § 305 Abs. 1 Nr. 1 InsO der Schuldner von einer Schuldnerberatungsstelle unterstützt wird
(vgl.  BTDrucks.  14/5680,  S.  18).  Generell  sollte  die  Beratungshilfe  nicht  die  von  anderen,  meist  über  besondere
Sachkunde  verfügenden  Einrichtungen  kostenfrei  geleistete  Beratung  ersetzen,  sondern  diese  ergänzen  (vgl.
BRDrucks. 404/79, S. 14).
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Dem  den  angegriffenen  Entscheidungen  zugrunde  liegenden  Verständnis  der  Norm  steht  ebenfalls  nicht  entgegen,
dass gemeinnützige Schuldnerberatungsstellen staatliche Mittel erhalten und diese Art der Hilfeleistung für den Staat
mithin  nicht  zwingend  kostengünstiger  als  die  Gewährung  von  Beratungshilfe  ist.  Ein  derartiges  Erfordernis  ist  §  1
Abs.  1  Nr.  2  BerHG  nämlich  nicht  zu  entnehmen.  Zudem  sind  die  Schuldnerberatungsstellen  wegen  ihres
umfassenden Ansatzes für die Durchführung des außergerichtlichen Schuldenbereinigungsversuchs nach § 305 Abs.
1 Nr. 1 InsO nicht nur geeignet, sondern regelmäßig auch besonders qualifiziert (vgl. Schoreit/Dehn, a.a.O., § 1 Rn.
12a).
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Die  Beschwerdeführerin  kann  auch  nicht  mit  Erfolg  geltend  machen,  Schuldnerberatungsstellen  seien  generell
überlastet und damit keine andere Hilfemöglichkeit im Sinn von § 1 Abs. 1 Nr. 2 BerHG. Solange nicht im konkreten
Einzelfall  dargetan  ist,  dass  die  Gewährung  von  Beratungshilfe  mit  dem  Verweis  auf  eine  tatsächlich  nicht  zur
Verfügung stehende Hilfemöglichkeit abgelehnt wurde, kommt die Annahme von Willkür nicht in Betracht.
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cc) Schließlich ist auch die konkrete Rechtsanwendung durch das Amtsgericht nicht als willkürlich zu beanstanden.
Insbesondere  war  es  Sache  der  Beschwerdeführerin,  darzulegen  und  gegebenenfalls  glaubhaft  zu  machen,  dass  ihr
die Inanspruchnahme einer Schuldnerberatungsstelle, beispielsweise wegen zu langer Wartezeiten, nicht zuzumuten
war.  Ohne  Belang  ist  dabei  vorliegend,  ab  welchem  Zeitraum  Unzumutbarkeit  anzunehmen  ist  und  ob  –  was
zumindest fraglich erscheint – insoweit überhaupt starre Fristen in Betracht kommen.
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Denn  das  Amtsgericht  hat  zutreffend  ausgeführt,  dass  konkreter  Vortrag  der  Beschwerdeführerin  unterblieben  ist.
Soweit  sie  darauf  abhebt,  dass  bei  einer  bestimmten  Beratungsstelle  Wartezeiten  zwischen  15  und  24  Monaten
bestünden, konnte dieser Vortrag bei den amtsgerichtlichen Entscheidungen schon deswegen keine Berücksichtigung
mehr  finden,  weil  er  nach  dem  die  Erinnerung  zurückweisenden  Richterbeschluss  erfolgte.  Im  Übrigen  war  er  auch
nicht  geeignet,  eine  Unzumutbarkeit  plausibel  darzutun;  deshalb  kann  dahinstehen,  ob  dem  Amtsgericht  dieser
Umstand  aus  anderen  Verfahren  bekannt  war.  Denn  zum  einen  ist  damit  nichts  darüber  ausgesagt,  ob  nicht  der
Einzelfall der Beschwerdeführerin – die für sich eine besondere Dringlichkeit reklamiert – eine schnellere Bearbeitung
erführe. Zum anderen lässt sich den Ausführungen nicht entnehmen, dass keine anderen, für die Beschwerdeführerin
zumutbar erreichbaren Schuldnerberatungsstellen existieren, bei denen derartig lange Wartezeiten nicht bestehen.
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b)  Auch  die  weiteren  Rügen  der  Beschwerdeführerin  greifen  nicht  durch.  Die  unsubstanziierte  Behauptung,  andere
Bedürftige  in  anderen  Rechtsgebieten  erhielten  Beratungshilfe,  ist  bereits  im  Ansatz  nicht  geeignet,  den  geltend
gemachten  Verstoß  gegen  den  Gleichheitssatz  darzutun.  Gleiches  gilt  für  das  ebenfalls  substanzlose  Monitum,  in
anderen  Amtsgerichtsbezirken  werde  Beratungshilfe  gewährt.  Zum  einen  lässt  das  völlig  offen,  ob  es  sich  auch  um
vergleichbare  Sachverhalte  handelt.  Zum  anderen  ist  die  Rechtspflege  wegen  der  Unabhängigkeit  der  Richter
konstitutionell uneinheitlich (vgl. BVerfGE 78, 123 <126>).
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Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Papier
Steiner
Gaier