Urteil des BVerfG vom 22.12.2009
BVerfG: verfassungsbeschwerde, erlass, mitgliedstaat, abschiebung, aeuv, hauptsache, gemeinschaftsrecht, lastenverteilung, ausschluss, rechtsverordnung
Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 2879/09 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn W...,
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwältin Ursula Schlung-Muntau,
Jahnstraße 49, 60318 Frankfurt am Main -
gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Kassel vom 4. Dezember 2009 - 3 L
1454/09.KS.A -
hier: Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richter Mellinghoff,
Gerhardt,
Landau
am 22. Dezember 2009 einstimmig beschlossen:
Dem Regierungspräsidium K. wird im Wege der einstweiligen Anordnung die Vollziehung der Abschiebung des
Antragstellers nach Griechenland vorläufig untersagt.
Das Land Hessen hat dem Antragsteller die notwendigen Auslagen für das Verfahren auf Erlass einer einstweiligen
Anordnung zu erstatten.
Gründe:
1
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 32 Abs. 1 BVerfGG in einem Verfahren betreffend die
Überstellung  eines  afghanischen  Asylantragstellers  nach  Griechenland  in  Anwendung  der  Verordnung  (EG)
Nr.  343/2003  des  Rates  vom  18.  Februar  2003  (ABl  Nr.  L  50  S.  1)  zur  Festlegung  der  Kriterien  und  Verfahren  zur
Bestimmung  des  Mitgliedstaats,  der  für  die  Prüfung  eines  von  einem  Drittstaatsangehörigen  in  einem  Mitgliedstaat
gestellten Asylantrags zuständig ist, hat Erfolg.
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1.  Nach  §  32  Abs.  1  BVerfGG  kann  das  Bundesverfassungsgericht  im  Streitfall  einen  Zustand  durch  einstweilige
Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum
gemeinen  Wohl  dringend  geboten  ist.  Dabei  haben  die  Gründe,  die  für  die  Verfassungswidrigkeit  des  angegriffenen
Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde
erwiese  sich  von  vornherein  als  unzulässig  oder  offensichtlich  unbegründet.  Bei  offenem  Ausgang  des
Verfassungsbeschwerdeverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn eine
einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegen die Nachteile abwägen, die
entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde der Erfolg aber zu
versagen wäre (vgl. BVerfGE 88, 25 <35>; 89, 109 <110 f.>; stRspr).
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2. Dem Erlass einer einstweiligen Anordnung steht nicht entgegen, dass die Verfassungsbeschwerde offensichtlich
unzulässig oder offensichtlich unbegründet wäre.
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Die  Verfassungsbeschwerde  kann  Anlass  zur  Untersuchung  geben,  ob  und  gegebenenfalls  welche  Vorgaben  das
Grundgesetz in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG und Art. 16a Abs. 2 Sätze 1 und 3 GG für die fachgerichtliche Prüfung der
Grenzen des Konzepts der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfGE 94, 49 <99 f.>) bei der Anwendung von § 34a
Abs. 2 AsylVfG trifft, wenn Gegenstand des Eilrechtsschutzantrags eine beabsichtigte Abschiebung in einen nach der
Verordnung  (EG)  Nr.  343/2003  zuständigen  anderen  Mitgliedstaat  der  Europäischen  Gemeinschaften  ist.  Es  könnte
dabei  auch  zu  klären  sein,  ob  und  welche  Vorgaben  das  Grundgesetz  zur  Gewährung  vorläufigen  Schutzes  für  den
Zeitraum  trifft,  den  die  Organe  der  Europäischen  Union  benötigen,  Erkenntnisse  über  für  Asylsuchende  bedrohliche
tatsächliche  oder  rechtliche  Defizite  des  Asylsystems  eines  Mitgliedstaats  auszuwerten  und  erforderliche
Maßnahmen durchzusetzen. Bei der Würdigung von Art. 16a Abs. 2 und Abs. 5 GG sowie Art. 19 Abs. 4 GG könnten
in diesem Zusammenhang auch die Anforderungen des Rechts der Europäischen Gemeinschaften zur Erhaltung und
Weiterentwicklung  der  Europäischen  Union  als  Raum  der  Freiheit,  der  Sicherheit  und  des  Rechts  (vgl.  Art.  2  4.
Spiegelstrich EUV; vgl. zur Rechtslage seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon ; Art. 67 
AEUV und Art. 77 - 80 AEUV) eine Rolle spielen, da der verfassungsändernde Gesetzgeber mit der Einführung von
Art.  16a  GG  die  Grundlage  für  eine  europäische  Gesamtregelung  der  Schutzgewährung  für  Flüchtlinge  mit  dem  Ziel
einer Lastenverteilung zwischen den an einem solchen System beteiligten Staaten geschaffen hat (vgl. BVerfGE 94,
49 <85>).
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Angesichts  dieser  offenen  Fragen  ist  nicht  zu  erkennen,  dass  die  Verfassungsbeschwerde  offensichtlich
unbegründet  wäre.  Auch  unter  Berücksichtigung  der  zwischenzeitlich  gerichtsbekannten,  umfangreichen
Stellungnahmen  verschiedener  Organisationen  zur  Situation  von  Asylantragstellern  in  Griechenland  können  die
Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde nicht von vornherein offensichtlich verneint werden. Allerdings sind sie
angesichts  des  Umstands,  dass  die  Mitgliedstaaten  der  Europäischen  Gemeinschaft  durch  den
verfassungsändernden  Gesetzgeber  selbst  zu  sicheren  Drittstaaten  bestimmt  worden  sind  (vgl. BVerfGE  94,  49
<88 f.>), die Vergewisserung hinsichtlich der Schutzgewährung damit durch den verfassungsändernden Gesetzgeber
selbst  erfolgt  ist  (vgl. BVerfGE 94, 49 <101>) und die  Entscheidung  nicht  durch  eine  Rechtsverordnung  nach  §  26a
Abs. 3 AsylVfG rückgängig gemacht werden kann, auch nicht offensichtlich zu bejahen.
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3.  Bliebe  dem  Antragsteller  der  begehrte  Erlass  der  einstweiligen  Anordnung  versagt,  obsiegte  er  aber  in  der
Hauptsache,  könnten  möglicherweise  bereits  mit  der  Abschiebung  oder  in  ihrer  Folge  eingetretene
Rechtsbeeinträchtigungen  nicht  mehr  verhindert  oder  rückgängig  gemacht  werden  (vgl.  BVerfG,  Beschluss  der
1. Kammer des Zweiten Senats vom 8. September 2009 - 2 BvQ 56/09 -, NVwZ 2009, S. 1281). Die Nachteile, die
entstünden,  wenn  die  einstweilige  Anordnung  erginge,  dem  Antragsteller  der  Erfolg  in  der  Hauptsache  aber  versagt
bliebe,  wiegen  dagegen  hier  weniger  schwer.  Insbesondere  widerspricht  die  Gewährung  von  einstweiligem
Rechtsschutz  im  Überstellungsverfahren  nicht  gemeinschaftsrechtlichen  Verpflichtungen  der  Bundesrepublik
Deutschland.  Eine  gemeinschaftsrechtliche  Pflicht  zum  Ausschluss  des  vorläufigen  Rechtsschutzes  bei
Überstellungen  nach  der  Verordnung  (EG)  Nr.  343/2003  besteht  nicht.  Vielmehr  sieht  das  Gemeinschaftsrecht  die
Möglichkeit  der  Gewährung  vorläufigen  fachgerichtlichen  Rechtsschutzes  gegen  Überstellungen  an  den  zuständigen
Mitgliedstaat nach Art. 19 Abs. 2 Satz 4 und Art. 20 Abs. 1 Buchstabe e Satz 4 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003
selbst vor.
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4. Die Entscheidung über die Erstattung von Auslagen folgt aus § 34a Abs. 2 und 3 BVerfGG.
Mellinghoff
Gerhardt
Landau