Urteil des BVerfG vom 14.02.2005

BVerfG: verfassungsbeschwerde, existenzminimum, haushalt, papier, alter, vertragsfreiheit, verfügung, sozialstaatsprinzip, verwaltungsakt, rechtsschutz

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 199/05 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn C...
gegen § 2 Abs. 1, § 5 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 20 Abs. 4 Satz 2, § 9 Abs. 1 Nr. 1, § 10 Abs. 1
Nr. 3, § 10 Abs. 2 Nr. 1 und 2, § 15, § 16 Abs. 3 i.V.m. § 31 Abs. 1 Nr. 1 Buchstaben
c und d, § 21 Abs. 3, §§ 27, 28, § 31 Abs. 1 Satz 2, § 31 Abs. 6, § 35 des Zweiten
Buchs Sozialgesetzbuch, zuletzt geändert durch Art. 2 des Vierten Gesetzes zur
Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom
19. November 2004 (BGBl I S. 2902)
hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Präsidenten Papier
und die Richter Steiner,
Gaier
gemäß § 93 b in Verbindung mit § 93 a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I
S. 1473) am 14. Februar 2005 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe:
I.
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Sozialgesetzbuch Zweites
Buch (SGB II), die durch das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt ("Hartz IV") vom 24.
Dezember 2003 (BGBl I S. 2954) zum 1. Januar 2005 eingeführt worden ist.
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Der Beschwerdeführer ist geschieden und hat das Recht zum Umgang mit seinem minderjährigen Sohn. Er ist
arbeitslos und bezieht Leistungen nach dem SGB II. Gegen den ersten Bescheid hat er Widerspruch erhoben. Weitere
Angaben macht er im vorliegenden Verfahren nicht.
3
Der Beschwerdeführer hält zahlreiche Regelungen des SGB II für verfassungswidrig. Der mit Leistungskürzungen
sanktionierte Zwang zur Annahme einer Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung nach § 16 Abs. 3 SGB II
("1-€-Job") verletze das Verbot von Arbeitszwang und Zwangsarbeit aus Art. 12 Abs. 2 und 3 GG. Die Leistungen der
Grundsicherung für Arbeitsuchende (§§ 19 ff. SGB II) seien zu niedrig, um das verfassungsrechtlich gewährleistete
Existenzminimum zu decken. Die Obliegenheit zur Annahme jeder zumutbaren Arbeit nach § 10 SGB II verletze sein
Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 GG, denn sie führe dazu, dass er sein Umgangsrecht mit seinem Sohn nicht
wahrnehmen könne, und verstoße gegen sein Grundrecht auf Freizügigkeit aus Art. 11 Abs. 1 GG, da er einer
bundesweiten Vermittlung zur Verfügung stehen müsse. Der Zwang zum Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung
(§§ 15, 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchstabe a SGB II) verletze die Vertragsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG. Es verstoße
gegen Art. 3 Abs. 1 GG, dass der Mehrbedarf alleinerziehender Eltern nach § 21 Abs. 3 SGB II nach dem Alter des
Kindes gestaffelt sei. Ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 2 und 3 GG liege darin, dass er in der Zeit, in der er seinen Sohn
zur Ausübung des Umgangs in seinen Haushalt aufnehme, kein Sozialgeld für ihn beziehen könne. Es verstoße
gegen das Sozialstaatsprinzip, dass nach § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II die Beweislast für den wichtigen Grund zur
Ablehnung einer Arbeit beim Arbeitslosen liege und dass die Kürzung von Geldleistungen nach § 31 Abs. 6 SGB II
auch dann drei Monate dauere, wenn der Arbeitsuchende sein obliegenheitswidriges Verhalten zuvor aufgebe.
Letztlich verletze die Erbenhaftung nach § 35 Abs. 1 SGB II die Erbrechtsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 Var. 2
GG.
II.
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Die Verfassungsbeschwerde ist nach § 93 a Abs. 2 BVerfGG nicht zur Entscheidung anzunehmen. Sie hat keine
Aussicht auf Erfolg, denn sie ist unzulässig.
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1. Einige Vorschriften, deren Verfassungswidrigkeit der Beschwerdeführer rügt, beschweren ihn nicht selbst,
gegenwärtig und unmittelbar im Sinne des § 90 Abs. 1 BVerfGG; jedenfalls hat er dies nicht ausreichend vorgetragen
(§ 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG). So steht nicht fest, ob er zu einer Arbeitsgelegenheit mit
Mehraufwandsentschädigung herangezogen und zum Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung verpflichtet wird
und welche Sanktionen verhängt werden, sollte er sich weigern. Da er seinen Sohn nicht allein pflegt und erzieht,
berührt ihn die im Gesetz vorgesehene Differenzierung beim Mehrbedarf für Alleinerziehende nicht. Letztlich hat er
nicht dargelegt, warum ihn die Erbenhaftung nach § 35 Abs. 1 SGB II konkret betrifft.
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2. Auch im Übrigen genügt die Verfassungsbeschwerde nicht den Begründungsanforderungen des § 23 Abs. 1 Satz
2, § 92 BVerfGG. Vor allem hat der Beschwerdeführer nicht vorgetragen und belegt, wie hoch die von ihm bezogenen
Leistungen sind, welche Leistungen in welcher Höhe er zuvor erhalten hat und welche konkreten Ausgaben und
Verpflichtungen in treffen. Deshalb kann nicht beurteilt werden, ob ihn die Einführung der Grundsicherung für
Arbeitsuchende schlechter stellt als zuvor und ob sein Existenzminimum gefährdet ist.
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3. Unabhängig davon ist die Verfassungsbeschwerde unzulässig, weil der Beschwerdeführer entgegen § 90 Abs. 2
Satz 1 BVerfGG den Rechtsweg nicht erschöpft hat.
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a) Der Beschwerdeführer ist darauf zu verweisen, die Entscheidung über den bereits eingelegten Widerspruch gegen
den ersten Leistungsbescheid abzuwarten und bei einer Ablehnung die Sozialgerichte anzurufen, wenn er sich hiervon
Erfolg verspricht (vgl. BVerfGE 69, 122 <125>; BVerfG, 3. Kammer des Ersten Senats, 1 BvR 2323/04 vom 29.
Oktober 2004,
http://www.bverfg.de/entscheidungen/rk20041029_1bvr232304.html
).
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b) Eine Vorabentscheidung nach § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG scheidet aus. Hierbei kann offen bleiben, ob die von
der Verfassungsbeschwerde aufgeworfenen Fragen von allgemeiner Bedeutung sind oder dem Beschwerdeführer
durch die Verweisung auf den Rechtsweg ein schwerer und unabwendbarer Nachteil entstände. Selbst wenn diese
Voraussetzungen vorliegen, ist das Bundesverfassungsgericht zu einer Vorabentscheidung nicht verpflichtet. Es hat
vielmehr alle für und gegen eine vorzeitige Entscheidung sprechenden Umstände abzuwägen (vgl. BVerfGE 8, 222
<226 f.>). Gegen eine Vorabentscheidung spricht es, wenn die einfachrechtliche Lage und die tatsächlichen
Auswirkungen einer gesetzlichen Regelung noch nicht ausreichend vorgeklärt sind, und das
Bundesverfassungsgericht daher genötigt wäre, auf ungesicherten Grundlagen weitreichende Entscheidungen zu
treffen (vgl. BVerfGE 86, 15 <26 f.>). Eine solche rechtliche und tatsächlichen Klärung ist Aufgabe der Fachgerichte
(v gl . BVerfGE 69, 122 <125>). Außerdem obliegt nach der grundgesetzlichen Zuständigkeitsverteilung und
Aufgabenzuweisung auch der Rechtsschutz gegen Verfassungsverletzungen vorrangig ihnen (vgl. BVerfGE 77, 381
<401>).
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Aus diesen Gründen ist es auch bei der Grundsicherung für Arbeitsuchende unabdingbar, dass die fachnahen
Sozialgerichte die relevanten tatsächlichen und rechtlichen Fragen klären und die einzelnen Regelungen
verfassungsrechtlich überprüfen (vgl. BVerfG, 3. Kammer des Ersten Senats, a.a.O.). Dazu zählt es zum Beispiel, ob
bei der Weigerung, eine Eingliederungsvereinbarung abzuschließen, die Geldleistungen gekürzt werden dürfen (§ 31
Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe a SGB II) oder ob es ausreicht, an Stelle der Vereinbarung einen Verwaltungsakt zu erlassen
(§ 15 Abs. 1 Satz 6 SGB II). Ebenso bedarf es tatsächlicher Feststellungen über den finanziellen Bedarf zur
Sicherung des Existenzminimums, um beurteilen zu können, ob die Leistungen nach dem SGB II ausreichen, ihn zu
decken. Zu klären ist außerdem, ob nach § 31 Abs. 6 Satz 2 SGB II die Geldleistungen auch dann für drei Monate
gekürzt oder gestrichen werden können, wenn der Betroffene sich nicht mehr weigert, eine Eingliederungsvereinbarung
abzuschließen oder eine Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung anzunehmen; hierbei wird zu
berücksichtigen sein, dass diese Leistungen das Existenzminimum sichern sollen und ein Betroffener nach § 21 SGB
XII in dieser Zeit keine anderweitigen existenzsichernden Leistungen erhält. Alle derartigen Maßnahmen kann der
Beschwerdeführer sozialgerichtlich überprüfen lassen, wenn sie ihn betreffen. Dies gilt letztlich auch für die Frage, ob
sein Sohn in der Zeit, in der er in seinen Haushalt aufgenommen ist, zu seiner Bedarfsgemeinschaft (§ 7 Abs. 3 Nr. 4
SGB II) zählt und daher nach § 28 Abs. 1 Satz 1 SGB II Sozialgeld beziehen kann.
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4. Von einer weiteren Begründung wird nach § 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
12
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Papier
Steiner
Gaier