Urteil des BVerfG vom 31.05.2006

BVerfG: wiedereinsetzung in den vorigen stand, schule, anspruch auf rechtliches gehör, schutz der familie, verfassungsbeschwerde, staat, schulpflicht, gesellschaft, toleranz, behandlung

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1693/04 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
1. des Herrn B...,
2. der Frau B...,
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwältin Gabriele Eckermann,
Wienandstraße 2, 63303 Dreieich -
gegen
a)
den Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 15. Juli 2004 - 2 Ss
139/04 -,
b)
das Urteil des Landgerichts Gießen vom 5. November 2003 - 3 Ns 102 Js 20927/01 -
Ds -
und Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten Hassemer,
die Richter Di Fabio
und Landau
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I
S. 1473) am 31. Mai 2006 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird abgelehnt.
Gründe:
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die strafrechtliche Verfolgbarkeit von Verstößen gegen die Schulpflicht aus
religiösen Gründen. Sie ist nicht zur Entscheidung anzunehmen. Der Verfassungsbeschwerde kommt weder eine
grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu (§ 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG), da die maßgeblichen
verfassungsrechtlichen Fragen vom Bundesverfassungsgericht schon entschieden sind (vgl. BVerfGE 23, 191 <202>;
45, 434 <435>; 56, 22 <27 ff.>), noch ist ihre Annahme zur Entscheidung zur Durchsetzung der Rechte der
Beschwerdeführer angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG); sie hat keine Aussicht auf Erfolg.
I.
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1. Die Beschwerdeführer, die sich aufgrund ihres Glaubens verpflichtet sehen, bei der Kindererziehung den
Maßstäben und Vorgaben der Bibel wortgetreu zu folgen und ihre Kinder von Einflüssen fernzuhalten, die den Geboten
Gottes zuwiderlaufen, hielten drei Töchter seit Beginn des Schuljahres 2001/2002 vom weiteren Besuch der örtlichen
Gesamtschule ab. Seither werden die Kinder zu Hause von der Beschwerdeführerin zu 2) unterrichtet. Die Kinder sind
zugleich bei der Philadelphia-Schule in Siegen angemeldet, die nach Art einer Fernschule Unterrichtsmaterialien und
andere Hilfestellungen für die Eltern zur Verfügung stellt, von der Schulverwaltung aber nicht als Ersatzschule
anerkannt ist.
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2. Nachdem das Amtsgericht die Beschwerdeführer freigesprochen hatte, sprach das Landgericht sie auf die
Berufung der Staatsanwaltschaft des dauernden Entziehens anderer von der Schulpflicht gemäß § 182 Abs. 1
HessSchulG für schuldig und erkannte jeweils auf eine Verwarnung mit Strafvorbehalt in Höhe von 80 Tagessätzen zu
je 10 Euro. Die Revision der Beschwerdeführer verwarf das Oberlandesgericht gemäß § 349 Abs. 2 StPO.
II.
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Mit ihrer nachträglich ergänzten Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführer die Verletzung ihrer
Grundrechte aus Art. 4 Abs. 1 GG, Art. 6 Abs. 1 und 2 GG sowie Art. 103 Abs. 1 GG. Sie tragen vor, sie hätten sich
in einem Gewissenkonflikt befunden und allein aufgrund ihrer Glaubensüberzeugung gehandelt; daher ließen die
Religionsfreiheit, das Elternrecht sowie der besondere Schutz der Familie ihre strafrechtliche Verurteilung nicht zu.
Sowohl die Behandlung einzelner Unterrichtsthemen, namentlich der am Bild sexueller Freizügigkeit orientierte
Sexualkundeunterricht, die Vermittlung der Evolutionstheorie und die Vornahme "hypnotischer, buddhistischer und
esoterischer (New Age) Praktiken" als auch die Ausrichtung der Schule auf einen Werte- und Meinungspluralismus sei
mit ihrem Erziehungsziel der Beachtung fundamentaler Glaubensgrundlagen und zwingender göttlicher Normen
unvereinbar. Ihre Religionsfreiheit und ihr Erziehungsrecht träten hier nicht hinter den staatlichen Erziehungsauftrag
zurück, zumal den Kindern ein soziales Verhalten in gleicher Weise durch den Heimunterricht vermittelt werden
könne.
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Außerdem habe das Landgericht ihren Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt, weil es
rechtsfehlerhaft Beweisanträgen nicht nachgegangen sei.
III.
6
Soweit die Beschwerdeführer die Gehörsrüge geltend machen, ist die Verfassungsbeschwerde unzulässig. Insoweit
genügt sie - unabhängig von dem ergänzenden Vorbringen und dem (hilfsweise) gestellten Wiedereinsetzungsantrag -
nicht den Begründungsanforderungen der §§ 23 Abs. 1 Satz 2, 92 BVerfGG. Die Beschwerdeführer haben weder ihre
Revisionsrechtfertigung noch die Antragsschrift der Staatsanwaltschaft beim Revisionsgericht vorgelegt oder ihrem
wesentlichen Inhalt nach mitgeteilt. Das Bundesverfassungsgericht kann daher nicht prüfen, ob sie die behaupteten
Verfahrensverletzungen in einer den Förmlichkeiten des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO entsprechenden Weise im
Revisionsverfahren geltend gemacht und damit den Grundsatz der materiellen Subsidiarität der
Verfassungsbeschwerde beachtet haben, der gebietet, im Verfahren vor den Fachgerichten alle zumutbaren
prozessualen Möglichkeiten zu ergreifen, um die vermeintliche Grundrechtsverletzung abzuwenden (vgl. BVerfGE 68,
384 <389>; 112, 50 <60>).
IV.
7
Im Übrigen ist die Verfassungsbeschwerde jedenfalls unbegründet, weil eine Verletzung von Grundrechten der
Beschwerdeführer nicht gegeben ist.
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1. a) Die in Art. 4 Abs. 1 GG verbürgte Glaubensfreiheit umfasst auch den Anspruch, nach eigenen
Glaubensüberzeugungen leben und handeln zu dürfen (vgl. BVerfGE 32, 98 <106>; 93, 1 <15>). In Verbindung mit
Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, der den Eltern das Recht zur Pflege und Erziehung ihrer Kinder garantiert, gewährt Art. 4
Abs. 1 GG das Recht zur Kindererziehung in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht. Danach ist es Sache der
Eltern, ihren Kindern Überzeugungen in Glaubens- und Weltanschauungsfragen zu vermitteln (vgl. BVerfGE 41, 29
<44, 47 f.>) und nicht geteilte Ansichten von ihnen fernzuhalten (vgl. BVerfGE 93, 1 <17>).
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aa) Auch wenn dieses Grundrecht keinem Gesetzesvorbehalt unterliegt, ist es Einschränkungen zugänglich, die sich
aus der Verfassung selbst ergeben. Hierzu gehört der dem Staat in Art. 7 Abs. 1 GG erteilte Erziehungsauftrag (vgl.
BVerfGE 34, 165 <181>; 93, 1 <21>). Infolge dessen erfährt das elterliche Erziehungsrecht durch die zur
Konkretisierung dieses staatlichen Auftrags erlassene allgemeine Schulpflicht in grundsätzlich zulässiger Weise eine
Beschränkung (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 21. April
1989, - 1 BvR 235/89 -, juris). Im Einzelfall sind Konflikte zwischen dem Erziehungsrecht der Eltern und dem
Erziehungsauftrag des Staates im Wege einer Abwägung nach den Grundsätzen der praktischen Konkordanz zu lösen
(vgl. BVerfGE 93, 1 <21>).
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bb) Zwar darf der Staat auch unabhängig von den Eltern eigene Erziehungsziele verfolgen (BVerfGE 34, 165 <182>;
47, 46 <71>), dabei muss er aber Neutralität und Toleranz gegenüber den erzieherischen Vorstellungen der Eltern
47, 46 <71>), dabei muss er aber Neutralität und Toleranz gegenüber den erzieherischen Vorstellungen der Eltern
aufbringen (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 21. April 1989, - 1
BvR 235/89 -, juris). Der Staat darf keine gezielte Beeinflussung im Dienste einer bestimmten politischen,
ideologischen oder weltanschaulichen Richtung betreiben; er darf sich auch nicht durch von ihm ausgehende oder ihm
zuzurechnende Maßnahmen ausdrücklich oder konkludent mit einem bestimmten Glauben oder einer bestimmten
Weltanschauung identifizieren und dadurch den religiösen Frieden in einer Gesellschaft von sich aus gefährden (vgl.
BVerfGE 93, 1 <16 f.>; 108, 282 <300>). Danach sind christliche Bezüge bei der Gestaltung der öffentlichen Schule
nicht schlechthin verboten; die Schule muss aber für andere weltanschauliche und religiöse Inhalte und Werte offen
sein (vgl. BVerfGE 108, 282 <300>).
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b) Stellt der Staat bestimmte Handlungen unter Strafe, kann die Ausstrahlungswirkung des Grundrechts aus Art. 4
Abs. 1 GG auch die Art und das Maß der zulässigen Sanktionen beeinflussen.
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aa) Die Glaubensfreiheit ist als Teil des grundrechtlichen Wertsystems dem Gebot der Toleranz zugeordnet und
insbesondere auf die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Würde des Menschen bezogen, die als oberster Wert das
gesamte grundrechtliche Wertsystem beherrscht (vgl. BVerfGE 6, 32 <41>; 27, 1 <6>; 30, 173 <193>). Betätigungen
und Verhaltensweisen, die aus einer bestimmten Glaubenshaltung fließen, sind daher nicht ohne Weiteres jenen
Sanktionen zu unterwerfen, die der Staat für ein solches Verhalten bei Fehlen einer religiösen Motivation vorsieht.
Vielmehr ist jeweils zu fragen, ob unter den besonderen Umständen des Falles eine Bestrafung den Sinn staatlichen
Strafens erfüllt. Daran fehlt es, wenn der Täter sich nicht aus mangelnder Rechtsgesinnung gegen die staatliche
Rechtsordnung auflehnt, sondern sich in eine Grenzsituation gestellt sieht, in der die allgemeine Rechtsordnung mit
dem persönlichen Glaubensgebot in Widerstreit tritt und er die Verpflichtung fühlt, hier dem höheren Gebot des
Glaubens zu folgen. Die Pflicht aller öffentlichen Gewalt, die ernste Glaubensüberzeugung zu respektieren, muss
jedenfalls dann zu einem Zurückweichen des Strafrechts führen, wenn der konkrete Konflikt zwischen einer nach
allgemeinen Anschauungen bestehenden Rechtspflicht und einem Glaubensgebot den Täter in eine seelische
Bedrängnis bringt, der gegenüber sich die Bestrafung, die ihn zum Rechtsbrecher stempelt, als eine übermäßige,
seine Menschenwürde verletzende soziale Reaktion darstellen würde (vgl. BVerfGE 32, 98 <108 f.>).
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bb) Der bewusste Verstoß gegen Strafnormen ist jedoch auch im Lichte von Art. 4 Abs. 1 GG nicht als Mittel der
Wahl, sondern nur als letzter Ausweg aus einem ansonsten unauflöslichen Konflikt zwischen staatlichen und
religiösen Verhaltensanforderungen hinzunehmen. An einer den Gewährleistungsgehalt der Menschenwürdegarantie im
genannten Sinne berührenden seelischen Bedrängnis wird es etwa regelmäßig fehlen, wenn sich der
Gewissenskonflikt in zumutbarer Weise durch nahe liegende andere Handlungsalternativen lösen lässt, die eine
Strafbarkeit vermeiden. Wer solche Möglichkeiten, seiner religiösen Überzeugung im Einklang mit der Rechtsordnung
zu folgen, bewusst nicht wahrnimmt, kann sich regelmäßig nicht darauf berufen, sich aus einer seelischen
Zwangslage heraus allein wegen eines subjektiv höherrangigen und unausweichlichen Glaubensgebots gegen die
Rechtsordnung auflehnen zu dürfen. In diesem Fall ist dem Staat die Feststellung strafrechtlicher Schuld nicht von
vornherein verwehrt; einer von Art. 4 Abs. 1 GG geschützten religiösen Motivation kann dann im Einzelfall bei der
Bestimmung der Sanktion, auch durch Einstellungen des Verfahrens nach §§ 153, 153 a StPO oder die Anwendung
des § 59 StGB, angemessen Rechnung getragen werden.
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2. Hieran gemessen halten die angegriffenen Entscheidungen verfassungsrechtlicher Prüfung stand.
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a) Die Verpflichtung der Beschwerdeführer, ihre Kinder an dem Unterricht einer nach dem Hessischen Schulgesetz
anerkannten Schule teilnehmen zu lassen, stellt eine zulässige Beschränkung ihres Erziehungsrechts dar.
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aa) Die allgemeine Schulpflicht dient als geeignetes und erforderliches Instrument dem legitimen Ziel der
Durchsetzung des staatlichen Erziehungsauftrags. Dieser Auftrag richtet sich nicht nur auf die Vermittlung von
Wissen und die Erziehung zu einer selbstverantwortlichen Persönlichkeit. Er richtet sich auch auf die Heranbildung
verantwortlicher Staatsbürger, die gleichberechtigt und verantwortungsbewusst an den demokratischen Prozessen in
einer pluralistischen Gesellschaft teilhaben. Soziale Kompetenz im Umgang auch mit Andersdenkenden, gelebte
Toleranz, Durchsetzungsvermögen und Selbstbehauptung einer von der Mehrheit abweichenden Überzeugung können
effektiver eingeübt werden, wenn Kontakte mit der Gesellschaft und den in ihr vertretenen unterschiedlichen
Auffassungen nicht nur gelegentlich stattfinden, sondern Teil einer mit dem regelmäßigen Schulbesuch verbundenen
Alltagserfahrung sind (vgl. BVerfG-K 1, 141 <143>).
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bb) Die Schulpflicht steht zudem in einem angemessenen Verhältnis zu dem Gewinn, den die Erfüllung dieser Pflicht
für den staatlichen Erziehungsauftrag und die hinter ihm stehenden Gemeinwohlinteressen erwarten lassen.
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Die Allgemeinheit hat ein berechtigtes Interesse daran, der Entstehung von religiös oder weltanschaulich motivierten
"Parallelgesellschaften" entgegenzuwirken und Minderheiten zu integrieren. Integration setzt dabei nicht nur voraus,
dass die Mehrheit der Bevölkerung religiöse oder weltanschauliche Minderheiten nicht ausgrenzt; sie verlangt auch,
dass diese sich selbst nicht abgrenzen und sich einem Dialog mit Andersdenkenden und -gläubigen nicht
verschließen. Für eine offene pluralistische Gesellschaft bedeutet der Dialog mit solchen Minderheiten eine
Bereicherung. Dies im Sinne gelebter Toleranz einzuüben und zu praktizieren, ist eine wichtige Aufgabe der
öffentlichen Schule. Das Vorhandensein eines breiten Spektrums von Überzeugungen in einer Klassengemeinschaft
kann die Fähigkeit aller Schüler zu Toleranz und Dialog als einer Grundvoraussetzung demokratischer
Willensbildungsprozesse nachhaltig fördern (vgl. BVerfG-K 1, 141 <143 f.>).
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b) Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführer ist von Verfassungs wegen nichts dagegen zu erinnern, dass der
Schulunterricht meinungs- und wertepluralistisch ausgerichtet ist. Die Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität
untersagt die Privilegierung bestimmter Bekenntnisse ebenso wie die Ausgrenzung Andersgläubiger (vgl. BVerfGE
108, 282 <299>). Die Offenheit für ein breites Spektrum von Meinungen und Auffassungen ist konstitutive
Voraussetzung einer öffentlichen Schule in einem freiheitlich-demokratisch ausgestalteten Gemeinwesen. Hiermit
stünden weder ein einseitig an den Überzeugungen der Beschwerdeführer orientierter Schulunterricht, durch welchen
der Staat vielmehr Gefahr liefe, das Gebot weltanschaulicher und religiöser Neutralität zu Lasten anderer
Anschauungen zu verletzen, noch eine völlige Abschottung der Schulkinder von dem breiten Spektrum der
gesellschaftlich vertretenen naturwissenschaftlichen und moralisch-ethischen Positionen in Einklang. Überdies wäre
eine solche Auffassung mit dem Erfordernis eines schonenden Ausgleichs zwischen den Rechten der
Beschwerdeführer aus Art. 4 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 GG und dem Erziehungsauftrag des Staates aus
Art. 7 Abs. 1 GG im Wege der praktischen Konkordanz nicht zu vereinbaren (vgl. BVerfGE 93, 1 <21>). Daher ist den
Beschwerdeführern die mit dem Besuch der Schule verbundene Konfrontation ihrer Kinder mit den Auffassungen und
Wertvorstellungen einer überwiegend säkular geprägten pluralistischen Gesellschaft trotz des Widerspruchs zu ihren
eigenen religiösen Überzeugungen grundsätzlich zuzumuten (vgl. BVerfG-K 1, 141 <144>).
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c) Der Vortrag der Beschwerdeführer lässt eine Missachtung des Gebots staatlicher Neutralität und Toleranz in
Fragen der Erziehung nicht erkennen.
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Mit der Vermittlung von Kenntnissen über geschlechtlich übertragbare Krankheiten und über Methoden der
Empfängnisverhütung im Rahmen des Sexualkundeunterrichts hat die Schule das ihr obliegende Neutralitätsgebot
nicht verletzt. Es ist auch sonst nicht ersichtlich, dass die Schule den Versuch unternommen hätte, die Schüler mit
dem Ziel zu indoktrinieren, ein bestimmtes Sexualverhalten zu befürworten oder abzulehnen. Dies gilt umso mehr, als
die Eltern eingeladen waren, in Kooperation mit den Lehrern bei Elternabenden auf die Vermittlung dieser Thematik
Einfluss zu nehmen und deren Behandlung in der häuslichen Erziehung zu begleiten. Es ist ebenfalls nicht zu
beanstanden, dass nach den Lehrplänen die Evolutionstheorie im Rahmen des Biologieunterrichts vermittelt und die
Behandlung der Schöpfungsgeschichte auf den Religionsunterricht beschränkt bleibt.
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d) Die Verhängung einer strafrechtlichen Sanktion war im Lichte des Art. 4 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2
GG nicht unverhältnismäßig. Die Beschwerdeführer können sich nicht darauf berufen, es liege ein - den Grad einer
seelischen Bedrängnis erreichender - unauflöslicher Konflikt zwischen einer ernsten Glaubensüberzeugung und der
staatlich auferlegten Schulpflicht vor. Der Widerspruch zwischen dem strafbewehrten Handlungsgebot - der Teilnahme
ihrer Kinder am Unterricht einer anerkannten Schule - und den eigenen Glaubensüberzeugungen erweist sich hier nicht
als derart ausweglos, dass sie berechtigt gewesen wären, dem Verbotsgesetz zuwiderzuhandeln.
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aa) Die Beschwerdeführer sehen ihre Glaubensüberzeugungen weniger durch die Schulpflicht als solche vielmehr
durch einzelne Unterrichtsinhalte und die meinungs- und wertepluralistische Ausrichtung der Schule verletzt. Soweit
sie die Behandlung bestimmter Inhalte des Lehrplans zu dulden hatten, waren sie objektiv nicht in unzumutbarer
Weise daran gehindert, ihre Kinder in Glaubensfragen nach eigenen Vorstellungen zu erziehen. Die Schule hat ihnen
nicht verwehrt, den Kindern bestimmte eigene Überzeugungen in religiösen und weltanschaulichen Fragen zu
vermitteln. Die Beschwerdeführer können nicht beanspruchen, dass ihre Kinder vollständig von fremden
Glaubensbekundungen oder Ansichten verschont bleiben; in einer Gesellschaft, die unterschiedlichen
Glaubensüberzeugungen Raum gibt, gewährt Art. 4 Abs. 1 GG ein solches Recht nicht (vgl. BVerfGE 93, 1 <15>).
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bb) Zudem haben die Beschwerdeführer nahe liegende Möglichkeiten ungenutzt gelassen, den subjektiv
empfundenen Konflikt zwischen Glaubens- und Rechtsgeboten aufzulösen, ohne gegen die für alle Mitglieder der
staatlichen Gemeinschaft gleichermaßen geltenden Verhaltensanforderungen zu verstoßen.
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Nach den insoweit maßgeblichen Feststellungen des Landgerichts haben es die Beschwerdeführer unterlassen, an
Elternabenden teilzunehmen oder sonst ihre Besorgnisse um die Erziehung ihrer Kinder in der Schule vorzutragen, um
so in stärkerem Maße auf die Gestaltung von Unterricht und schulischen Sonderveranstaltungen Einfluss zu nehmen.
Dabei hätten sie, wie das Entgegenkommen der Schule in Einzelfällen belegt, ihr Begehren nicht ohne jede
Erfolgsaussicht den Verantwortlichen der Schule vortragen können. Ihr Verhalten lässt insgesamt nicht erkennen,
dass sie sich in der bei Vorliegen eines schwerwiegenden Gewissenskonflikts zu erwartenden Weise konsequent
darum bemüht hätten, ihren Standpunkt gegenüber der Schule zur Geltung zu bringen.
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cc) Es kommt hinzu, dass in dem vollständigen Fernhalten der drei ältesten Töchter vom Schulunterricht ein
unverhältnismäßiges Mittel lag.
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So haben die Beschwerdeführer hinsichtlich der Erziehung ihrer Tochter S. keine Konflikte mit der Schule angeführt,
deren weiteren Schulbesuch aber dennoch unterbunden. Im Übrigen betrafen die Beanstandungen der
Beschwerdeführer lediglich einzelne, zeitlich begrenzte Ereignisse, welche teilweise bereits länger zurücklagen. Die
von ihnen beanstandeten einzelnen Vorgänge vermögen ihre Schlussfolgerung, eine weitere Teilnahme ihrer Kinder
am Schulunterricht sei ihnen insgesamt nicht mehr zumutbar gewesen, nicht zu tragen. Die Beschwerdeführer haben
nicht dargelegt, weshalb nicht ein - der Schule nachvollziehbar zu begründendes - gezieltes Fernbleiben ihrer Kinder
von bestimmten Unterrichtseinheiten als milderes Mittel zur Sicherung ihres elterlichen Erziehungsrechts ausgereicht
hätte. Auch sonst ist nicht erkennbar, weshalb es Glaubensgründe erfordert haben, ihre Kinder von weltanschaulich
neutralen Unterrichtsfächern wie etwa Mathematik und Fremdsprachen abzumelden.
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dd) Außerdem haben die Beschwerdeführer nicht näher dargetan, dass sie sich um die vorrangige Alternative, ihre
Kinder an einer anderen - anerkannten - öffentlichen oder privaten Schule unterrichten zu lassen, ernsthaft bemüht
haben.
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ee) Ebenso wäre es den Beschwerdeführern zuzumuten gewesen, sowohl hinsichtlich der behaupteten Verstöße
gegen geltendes Schulrecht als auch wegen der von ihnen begehrten Erteilung einer Ausnahmebewilligung nach § 60
Abs. 2 Satz 2 HessSchulG die ihnen zu Gebote stehenden Rechtsbehelfe auszuschöpfen.
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e) Schließlich ist auch die Festsetzung der konkreten Sanktion gegen die Beschwerdeführer verfassungsrechtlich
nicht zu beanstanden. Das Landgericht hat der Motivation der Beschwerdeführer durch die Anwendung des § 59 StGB
unter Androhung einer maßvollen Geldstrafe Rechnung getragen.
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Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).
V.
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Wegen der Unerheblichkeit des verspätet vorgebrachten, ergänzenden Vorbringens war der insoweit (hilfsweise)
gestellte Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand abzulehnen.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Hassemer
Di Fabio
Landau