Urteil des BVerfG vom 10.08.1998

BVerfG: wiedereinsetzung in den vorigen stand, erheblicher grund, verfassungsbeschwerde, fristverlängerung, arbeitsüberlastung, zugang, verschulden, rechtsstaatsprinzip, entschuldigungsgrund, papier

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 10/98 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn G...
-
gegen a)
den Beschluß des Landgerichts Leipzig
vom 27. November 1997 - 12 S 8517/97 -,
b)
den Beschluß des Landgerichts Leipzig
vom 29. Oktober 1997 - 12 S 8517/97 -
hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den
Vizepräsidenten Papier,
und die Richter Grimm,
Hömig
am 10. August 1998 einstimmig beschlossen:
Der Beschluß des Landgerichts Leipzig vom 27. November 1997 - 12 S 8517/97 - verletzt
den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in
Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip. Er wird aufgehoben. Die Sache wird insoweit an
das Landgericht zurückverwiesen.
Im übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
Der Freistaat Sachsen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe:
1
I.
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Die Verfassungsbeschwerde betrifft Rechtsfragen der Verlängerung und der Wiedereinsetzung bei der
Berufungsbegründungsfrist.
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1. Der Beschwerdeführer wurde vom Amtsgericht Leipzig zur Erstattung einer Maklerprovision in Höhe von 3.519 DM
verurteilt. Die dagegen eingelegte Berufung ging beim Landgericht fristgerecht ein. Kurz vor Ablauf der einmonatigen
Begründungsfrist beantragte der Anwalt des Beschwerdeführers Fristverlängerung wegen Arbeitsüberlastung. Während
seines Urlaubs sei eine Vielzahl von Fristsachen angelaufen. Ferner müsse er einen Textbeitrag für eine
Gemeinschaftspublikation fertigstellen. Außerdem sei ein Kanzleikollege eine Woche lang krankheitsbedingt zu
vertreten gewesen. Das Landgericht lehnte die Fristverlängerung mit Beschluß vom 29. Oktober 1997 mangels
Darlegung erheblicher Gründe ab. Der ablehnende Beschluß ging dem Anwalt des Beschwerdeführers erst nach
Ablauf der Monatsfrist zu.
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2. Binnen zwei Wochen begründete der Anwalt die Berufung und beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
Er wies auf das fristgerecht eingegangene Verlängerungsgesuch hin, belegte die Erkrankung seines Kanzleikollegen
und führte aus, daß er angesichts der angeführten besonderen Umstände auf die erste Fristverlängerung vertraut
habe. Das Landgericht wies mit Beschluß vom 27. November 1997 das Wiedereinsetzungsgesuch zurück und verwarf
die Berufung als unzulässig. Der Beschwerdeführer habe nicht nach §§ 223, 236 ZPO glaubhaft gemacht, daß seine
Partei an der mangelnden Einhaltung der Berufungsbegründungsfrist kein Verschulden treffe. Dabei müsse er sich
nach § 85 Abs. 2 ZPO das Verschulden seines Anwalts zurechnen lassen. Der Anwalt habe für sein
Fristverlängerungsgesuch keinen erheblichen Grund im Sinne des § 519 Abs. 2 Satz 3 ZPO geltend gemacht. Die
Arbeitsüberlastung eines Anwalts könne nach der ständigen Rechtsprechung der Kammer nur dann als erheblicher
Grund angesehen werden, wenn sie für ihn überraschend auftrete. Die urlaubsbedingte Überlastung sei aber
regelmäßig vorhersehbar. Ein Textbeitrag für eine Publikation könne kein ausreichender Hinderungsgrund sein, da
diese Tätigkeit gegenüber der anwaltlichen Aufgabe nachrangig sei. Schließlich reiche auch die einwöchige
Erkrankung des Kanzleikollegen nicht als erheblicher Grund aus. Der Anwalt habe nicht dargelegt, inwieweit ihn die
Krankheitsbelastung über Gebühr in Anspruch genommen habe. In der Kanzlei seien zwei weitere Anwälte tätig, die
ebenso gut die krankheitsbedingte Abwesenheit hätten ausgleichen können.
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3. Mit seiner Verfassungsbeschwerde greift der Beschwerdeführer beide Beschlüsse des Landgerichts an und rügt
eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG. Das Landgericht habe das Gebot rechtsstaatlicher
Verfahrensgestaltung verletzt, indem es an die Begründung für einen Verlängerungsantrag von der höchstrichterlichen
Rechtsprechung abweichende und damit überraschende Anforderungen gestellt habe. Der Bundesgerichtshof lasse
Arbeitsüberlastung als Entschuldigungsgrund stets zu. Soweit das Landgericht darüber hinaus verlange, daß die
Arbeitsüberlastung unvorhersehbar sein müsse, sei dies für den Anwalt seinerseits unvorhersehbar gewesen. Mit der
Anwendung dieses für die Beurteilung der anwaltlichen Tätigkeit ungeeigneten Kriteriums habe er nicht rechnen
müssen. Die Versagung der Fristverlängerung und der Wiedereinsetzung widersprächen den vom
Bundesverfassungsgericht entwickelten rechtsstaatlichen Grundsätzen.
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II.
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Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluß des Landgerichts Leipzig vom 27. November
1997 zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Gebots einer rechtsstaatlichen Verfahrensgestaltung
angezeigt ist (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip). Insoweit liegen die Voraussetzungen für eine
stattgebende Kammerentscheidung nach § 93 c BVerfGG in Verbindung mit § 93 a BVerfGG vor. Im übrigen wird die
Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
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1. Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen die Zurückweisung des Fristverlängerungsgesuchs im Beschluß
vom 29. Oktober 1997 richtet, liegen die Annahmevoraussetzungen des § 93 a BVerfGG nicht vor. Es ist nicht
ersichtlich, inwieweit der Beschwerdeführer bereits durch diese Zwischenentscheidung in seinen Grundrechten verletzt
sein soll. Der Zugang zur Berufungsinstanz ist dem Beschwerdeführer erst durch die Verwerfung des Rechtsmittels
und die Versagung der Wiedereinsetzung verwehrt worden.
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2. Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluß des Landgerichts Leipzig vom 27. November 1997
richtet, ist ihre Annahme hingegen zur Durchsetzung des Gebots einer rechtsstaatlichen Verfahrensgestaltung
angezeigt. Die Versagung der Wiedereinsetzung und die Verwerfung der Berufung verletzen Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m.
dem Rechtsstaatsprinzip.
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a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dürfen bei der Auslegung und Anwendung der für
die Wiedereinsetzung maßgeblichen prozeßrechtlichen Vorschriften die Anforderungen daran nicht überspannt werden,
was der Betroffene tun muß, um Wiedereinsetzung zu erhalten (vgl. BVerfGE 41, 332 <335>; stRspr). Denn der
Zugang zu den Gerichten und zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen darf nicht in unzumutbarer,
aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 69, 381 <385>). Zwar sind
die unteren Instanzen der Fachgerichte grundsätzlich nicht gehindert, abweichende Auffassungen zu der
Rechtsprechung übergeordneter Gerichte, insbesondere der obersten Bundesgerichte, zu vertreten. Gehindert sind sie
jedoch aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit, solche Meinungsverschiedenheiten zu Lasten des Bürgers auszutragen
und es ihm zum Verschulden gereichen zu lassen, wenn er auf eine eindeutige Rechtsprechung eines obersten
Bundesgerichts vertraut. Eine solche Verfahrensgestaltung beschränkt den Anspruch des Bürgers auf berechenbaren
und gleichmäßigen Zugang zu den Gerichten unzumutbar. Nur wenn dem rechtsuchenden Bürger bekannt sein muß,
daß eine strengere Handhabung von Verfahrensvorschriften zu erwarten ist, kann eine andere Beurteilung
gerechtfertigt sein (vgl. BVerfGE 79, 372 <376 f.>).
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b) Im vorliegenden Fall mußte der Anwalt des Beschwerdeführers nicht damit rechnen, daß das Landgericht seinen
Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist zurückweisen würde. Ob ein Prozeßbevollmächtigter darauf
vertrauen darf, daß seinem Verlängerungsantrag stattgegeben wird, richtet sich zunächst nach § 519 Abs. 2 Satz 3
ZPO in der Auslegung und Anwendung, welche diese Norm durch die Rechtsprechung, insbesondere des
Bundesgerichtshofs, erfährt (vgl. BVerfGE 79, 372 <377>). Dieser hat entschieden, daß der Anwalt beim ersten
Verlängerungsgesuch regelmäßig mit großer Wahrscheinlichkeit erwarten kann, daß dem Antrag entsprochen wird,
wenn einer der Gründe des § 519 Abs. 2 Satz 3 ZPO vorgebracht wird (BGH, NJW 1983, S. 1741, VersR 1985, S.
972). Zu den Gründen, die im allgemeinen als "erheblich" im Sinne dieser Vorschrift angesehen werden, zählt auch die
- hier ebenfalls geltend gemachte - berufliche Überlastung (BGH, VersR 1985, S. 972 f.; VersR 1993, S. 771 f.). In
diesem Zusammenhang ist es anerkannt, daß urlaubsbedingte Rückstände und die Vertretung eines erkrankten
Kollegen eine berufliche Überlastung begründen und daß eine ins einzelne gehende Darlegung dieser
Überlastungsgründe beim ersten Verlängerungsantrag nicht verlangt wird (vgl. BGH, VersR 1985, S. 972 f.; NJW-RR
1989, S. 1280; NJW 1991, S. 2080 f.; VersR 1993, S. 771 f.).
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Vor dem Hintergrund dieser höchstrichterlichen Rechtsprechung konnte der Anwalt des Beschwerdeführers erwarten,
daß das Landgericht seinem erstmaligen Antrag auf Fristverlängerung entsprechen würde. Dabei kann es offen
bleiben, ob die in seinem Verlängerungsantrag zusätzlich aufgeführte Publikationsabsicht unter den
Entschuldigungsgrund der beruflichen Überlastung fällt. Denn der Prozeßbevollmächtigte hat durch den Hinweis auf
urlaubsbedingte
Rückstände
und
krankheitsbedingte Mehrarbeit in ausreichendem Maße berufliche
Überlastungsgründe geltend gemacht. Er konnte nicht vorhersehen, daß das Landgericht urlaubsbedingte Rückstände
generell nicht als Überlastungsgrund anerkennen und eine ins einzelne gehende Darlegung der Krankheitsvertretung
fordern würde. Soweit das Landgericht vorliegend verlangt hat, der Prozeßbevollmächtigte sei zur Erreichung der
Fristverlängerung auch ohne entsprechende Aufforderung des Gerichts gehalten gewesen, die erheblichen Gründe
detailliert darzustellen und glaubhaft zu machen, geht dies über die von der einschlägigen Rechtsprechung
aufgestellten Voraussetzungen hinaus (vgl. Beschluß der 1. Kammer des Ersten Senats vom 4. Dezember 1989 - 1
BvR 1395/87 -, S. 5 f.). Mit dieser unüblich strengen Praxis der Kammer des Landgerichts mußte der Anwalt des
Beschwerdeführers auch nicht aus anderen Gründen rechnen. Insbesondere hatte die erkennende Kammer des
Landgerichts nicht bereits mit der Eingangsmitteilung auf ihre restriktive Handhabung der Verlängerungsregelung
schriftlich hingewiesen. In einem solchen Fall widerspricht es dem Gebot rechtsstaatlicher Verfahrensgestaltung, dem
Beschwerdeführer die mangelnde Kenntnis der strengeren Spruchpraxis zum Verschulden gereichen zu lassen. Die
Zurückweisung des Wiedereinsetzungsgesuchs führt dazu, daß dem Beschwerdeführer der Zugang zur
Berufungsinstanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert wird.
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c) Dieser Verfassungsverstoß setzt sich in der Verwerfung der Berufung als unzulässig fort, weil sie sich auf die
Verfristung der Berufungsbegründung stützt (BVerfGE 79, 372 <378>).
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3. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34 a Abs. 2 und 3 BVerfGG. Da die
Verfassungsbeschwerde im wesentlichen Erfolg hat, entspricht es billigem Ermessen, volle Auslagenerstattung
anzuordnen.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Papier
Grimm
Hömig