Urteil des BVerfG vom 03.07.2001

BVerfG: anspruch auf rechtliches gehör, fristlose kündigung, verfassungsbeschwerde, rückwirkung, beratervertrag, aufrechnung, sorgfalt, verfahrensbeteiligter, zukunft, prozessbeteiligter

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 1043/00 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn B...
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Gottfried Bach und Koll.,
Karl-Liebknecht-Straße 11, 06114 Halle -
gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Naumburg vom 16. Mai 2000 - 9 U 99/99 -
hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten Papier
und die Richter Steiner,
Hoffmann-Riem
am 3. Juli 2001 einstimmig beschlossen:
1. Das Urteil des Oberlandesgerichts Naumburg vom 16. Mai 2000 - 9 U 99/99 - verletzt den Beschwerdeführer in
seinem grundrechtsgleichen Recht aus Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Es wird aufgehoben. Die
Sache wird an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.
2. Das Land Sachsen-Anhalt hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
3. Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 16.000 DM (in Worten: sechzehntausend
Deutsche Mark) festgesetzt.
Gründe:
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft Fragen des rechtlichen Gehörs in einem zivilgerichtlichen Verfahren.
I.
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1. Der Beschwerdeführer, ein Rechtsanwalt, bildete zusammen mit Rechtsanwalt L. eine Sozietät. Im Mai 1994
schloss die Sozietät mit der Klägerin des Ausgangsverfahrens einen Beratervertrag, in dem sie sich gegen Zahlung
eines monatlichen Pauschalhonorars in Höhe von 5.750 DM zur Beratung und Vertretung der Klägerin in allen
außergerichtlichen Rechtsangelegenheiten verpflichtete.
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Am 6. März 1996 vereinbarten der Beschwerdeführer und Rechtsanwalt L. rückwirkend zum 26. Januar 1996 die
Auflösung der Sozietät und den Übergang des Gesellschaftsvermögens auf den Beschwerdeführer. Mit Schreiben
vom 10. April 1996 kündigte die Klägerin den Beratervertrag gemäß § 627 BGB fristlos mit der Begründung, durch das
Ausscheiden von Rechtsanwalt L. bestünden die Voraussetzungen, die dem Vertrag zu Grunde gelegen hätten, nicht
mehr.
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2. Im Ausgangsverfahren machte die Klägerin gegen den Beschwerdeführer aus abgetretenem Recht
Mietzinsansprüche in Höhe von zuletzt 93.628,30 DM geltend. Der Beschwerdeführer verteidigte sich unter anderem
damit, ihm stünden gegen die Klägerin für den Zeitraum von Mai 1995 bis Dezember 1996 nicht beglichene
Honoraransprüche aus dem Beratervertrag zu, mit denen er die Aufrechnung erklärt habe. Die von der Klägerin
ausgesprochene Kündigung des Beratervertrags sei unwirksam.
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In der Berufungsinstanz verurteilte das Oberlandesgericht den Beschwerdeführer unter Abänderung des
klageabweisenden erstinstanzlichen Urteils zur Zahlung von 38.616,68 DM nebst Zinsen. Die Klageforderung - die das
Oberlandesgericht als solche für begründet erachtete - sei durch die vom Beschwerdeführer erklärte Aufrechnung in
Höhe von 55.011,62 DM erloschen. Dem Beschwerdeführer stünden Honoraransprüche aus dem Beratervertrag nur für
den Zeitraum von Mai 1995 bis zum 26. Januar 1996 zu. Mit dem 27. Januar 1996 sei die Sozietät beendet gewesen.
Damit habe zwar nicht automatisch auch das Mandatsverhältnis aus dem Beratervertrag geendet. Dieser Vertrag sei
vielmehr erst durch die Kündigung vom 10. April 1996 beendet worden. Die Kündigung wirke jedoch auf den 27.
Januar 1996 zurück. Die Klägerin habe zunächst Kenntnis von dem Kündigungsgrund, dem Ausscheiden von
Rechtsanwalt L., erlangen müssen. Auch müsse ihr eine Überlegungsfrist hinsichtlich des Kündigungsrechts
eingeräumt werden. Zwar sei nicht dargelegt, wann die Klägerin insoweit Kenntnis erlangt habe. Einschließlich der
Überlegungsfrist sei aber anzunehmen, dass sie mit dem Schreiben vom 10. April 1996 noch rückwirkend bezogen
auf den Zeitpunkt des Eintritts des Ereignisses habe kündigen können.
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3. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung von Art. 103 Abs. 1 und Art. 3 Abs.
1 GG. Hierzu trägt er unter anderem vor:
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Das angegriffene Urteil des Oberlandesgerichts stelle eine nach Art. 103 Abs. 1 GG unzulässige
Überraschungsentscheidung dar. Das Gericht hätte vor seiner Entscheidung darauf hinweisen müssen, dass es von
der Anwendbarkeit des § 627 BGB und einer Rückwirkung der Kündigung ausgehe. Hiermit hätte auch ein
gewissenhafter Prozessbeteiligter nicht rechnen können, da das Gericht insoweit von fundamentalen
Rechtsgrundsätzen abgewichen sei. Es herrsche Übereinstimmung darüber, dass die Kündigung ein Schuldverhältnis
lediglich mit Wirkung für die Zukunft beenden könne, nicht aber mit Wirkung für die Vergangenheit. Die
Rechtsauffassung des Oberlandesgerichts hinsichtlich der Rückwirkung der Kündigung sei unter keinem denkbaren
rechtlichen Aspekt vertretbar und daher willkürlich.
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4. Über das Vermögen der Klägerin des Ausgangsverfahrens ist mittlerweile das Insolvenzverfahren eröffnet worden.
Der Insolvenzverwalter sowie die Landesregierung Sachsen-Anhalt haben jeweils von einer Stellungnahme zu der
Verfassungsbeschwerde abgesehen.
II.
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Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Anspruchs
des Beschwerdeführers auf Gewährung rechtlichen Gehörs angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die
Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93 c Abs. 1 BVerfGG). Die für die
Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden
(vgl. insbesondere BVerfGE 84, 188 <189 ff.>; 86, 133 <144 ff.>).
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1. Die angegriffene Entscheidung verletzt den Beschwerdeführer in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 103
Abs. 1 GG.
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a) Der in Art. 103 Abs. 1 GG verbürgte Anspruch auf rechtliches Gehör ist eine Folgerung aus dem
Rechtsstaatsgedanken für das gerichtliche Verfahren. Der Einzelne soll nicht bloßes Objekt des Verfahrens sein,
sondern soll vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen, um Einfluss auf das Verfahren und
sein Ergebnis nehmen zu können. Da dies nicht nur durch tatsächliches Vorbringen, sondern auch durch
Rechtsausführungen geschehen kann, gewährleistet Art. 103 Abs. 1 GG dem Verfahrensbeteiligten das Recht, sich
nicht nur zu dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt, sondern auch zur Rechtslage zu äußern
(BVerfGE 86, 133 <144> m.w.N.).
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Zwar ist das Gericht grundsätzlich weder zu einem Rechtsgespräch noch zu einem Hinweis auf seine
Rechtsauffassung verpflichtet. Ein Verfahrensbeteiligter muss daher prinzipiell alle vertretbaren rechtlichen
Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und seinen Vortrag darauf einstellen (vgl. BVerfGE 86, 133 <145>).
Eine dem verfassungsrechtlichen Anspruch genügende Gewährleistung rechtlichen Gehörs setzt aber voraus, dass
ein Verfahrensbeteiligter bei Anwendung der von ihm zu verlangenden Sorgfalt zu erkennen vermag, auf welche
Gesichtspunkte es für die Entscheidung ankommen kann (vgl. BVerfGE 84, 188 <190>). Es kann daher im Ergebnis
der Verhinderung eines Vortrags zur Rechtslage gleichkommen, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis auf einen
rechtlichen Gesichtspunkt abstellt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter
Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen brauchte (vgl. BVerfGE 86, 133
<144 f.>).
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b) Gemessen an diesen Grundsätzen hält die angegriffene Entscheidung einer verfassungsrechtlichen Überprüfung
nicht stand. Die Auffassung des Oberlandesgerichts, die Kündigung vom 10. April 1996 habe das Vertragsverhältnis
nicht erst mit dem Zugang der Kündigungserklärung beim Beschwerdeführer beendet, sondern wirke auf den 27.
Januar 1996 zurück, war für den Beschwerdeführer nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht voraussehbar.
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Ausweislich der beigezogenen Akten des Ausgangsverfahrens ist die Frage einer möglichen Rückwirkung der
Kündigung des Beratervertrags im Laufe des Prozesses zu keinem Zeitpunkt problematisiert worden. Die Klägerin hat
diese Rechtsansicht ebenso wenig vertreten wie der Beschwerdeführer. Das Landgericht ist in der erstinstanzlichen
Entscheidung auf die Fragen im Zusammenhang mit der Kündigung des Beratervertrags nicht eingegangen, weil es
anders als das Oberlandesgericht bereits den Klageanspruch als solchen verneinte und damit über die zur
Aufrechnung gestellte Forderung nicht zu entscheiden brauchte. Schließlich kann auch dem Protokoll über die
mündliche Verhandlung in der Berufungsinstanz nicht entnommen werden, dass das Oberlandesgericht seine
Auffassung über den Zeitpunkt der Wirksamkeit der Kündigung vor Erlass der Entscheidung zu erkennen gegeben
hat.
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Der Beschwerdeführer konnte auch bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt und Berücksichtigung der Vielzahl
vertretbarer Rechtsauffassungen von sich aus nicht damit rechnen, dass das Oberlandesgericht der Kündigung eine
Rückwirkung beimessen würde. Denn nach - soweit ersichtlich - einhelliger Ansicht in der fachgerichtlichen
Rechtsprechung und Literatur bewirkt eine Kündigung anders als der Rücktritt und die Anfechtung grundsätzlich nur
eine Beendigung des Vertragsverhältnisses für die Zukunft (vgl. RGZ 90, 328 <330>; BGHZ 73, 350 <354>;
Heinrichs, in: Palandt, BGB, 60. Aufl. 2001, Einf. vor § 346 Rn. 8; Hadding, in: Soergel, BGB, 12. Aufl. 1990, Vor
§ 346 Rn. 12; Westermann, in: Erman, BGB, 10. Aufl. 2000, Vor § 346 Rn. 5; Neumann, in: Staudinger, BGB, 13.
Bearb. 1995, Vorbem. zu §§ 620 ff. Rn. 85; Schwerdtner, in: Münchener Kommentar zum BGB, 3. Aufl. 1997, Vor
§ 620 Rn. 63). Für das außerordentliche Kündigungsrecht nach § 627 BGB gilt nichts anderes (vgl. Schlechtriem, in:
Jauernig, BGB, 9. Aufl. 1999, § 627 Rn. 3). Eine fristlose Kündigung kann danach nicht rückwirkend für den Zeitpunkt
ausgesprochen werden, zu dem der Kündigungsanlass eingetreten ist (vgl. LAG Bremen, BB 1961, S. 532;
Schwerdtner, a.a.O., § 626 Rn. 38; Stahlhacke u.a., Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis, 7. Aufl.
1999, Rn. 430; Hillebrecht, in: Becker u.a., Gemeinschaftskommentar zum Kündigungsschutzgesetz und zu
sonstigen kündigungsschutzrechtlichen Vorschriften, 4. Aufl. 1996, § 626 BGB Rn. 25).
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Wollte das Oberlandesgericht von dieser allgemein vertretenen Rechtsauffassung abweichen, hätte es zur
Vermeidung einer mit Art. 103 Abs. 1 GG nicht zu vereinbarenden Überraschungsentscheidung dem
Beschwerdeführer durch einen entsprechenden Hinweis Gelegenheit geben müssen, sich zu dieser Rechtsfrage zu
äußern. Das ist jedoch nicht geschehen.
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c) Die angegriffene Entscheidung beruht auch auf dem dargelegten Verfassungsverstoß. Es lässt sich nicht
ausschließen, dass das Oberlandesgericht seine Auffassung hinsichtlich der Rückwirkung der Kündigungserklärung
noch einmal überdacht hätte und insoweit letztlich zu einem anderen, für den Beschwerdeführer günstigeren Ergebnis
gelangt wäre, wenn es ihm Gelegenheit gegeben hätte, auch zu diesem Aspekt seinen gegenteiligen, mit der übrigen
Rechtsprechung und dem Schrifttum in Einklang stehenden Rechtsstandpunkt darzulegen.
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2. Da das angegriffene Urteil schon wegen Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 1 GG aufzuheben ist, bedarf es keiner
Entscheidung, ob die nicht näher begründete Auffassung des Gerichts, der genannten Kündigung komme
Rückwirkung zu, gegen Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Bedeutung als Willkürverbot verstößt.
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3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG, die Festsetzung des
Gegenstandswerts auf § 113 Abs. 2 Satz 3 BRAGO.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Papier
Steiner
Hoffmann-Riem