Urteil des BVerfG vom 12.03.1998

BVerfG: eisenbahn, betriebsordnung, grundrecht, versammlungsfreiheit, ordnungswidrigkeit, allgemeinverfügung, blockade, gefahr, rechtsverordnung, bahnverkehr

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 2165/96 -
- 1 BvR 2168/96 -
In den Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerden
1. der Frau H...
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Christoph Bode und Partner,
Schanzenstraße 75-77, Hamburg -
gegen den Beschluß des Oberlandesgerichts Celle vom 16. September 1996 - 2 Ss (OWi)
213/96 -
- 1 BvR 2165/96 -,
2. der Frau B...
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Christoph Bode und Partner,
Schanzenstraße 75-77, Hamburg -
gegen den Beschluß des Oberlandesgerichts Celle vom 16. September 1996 - 2 Ss (OWi)
230/96 -
- 1 BvR 2168/96 -
hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den
Vizepräsidenten Papier
und die Richter Grimm,
Hömig
gemäß § 93 b in Verbindung mit § 93 a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I
S. 1473) am 12. März 1998 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerden werden nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe:
I.
1
1. Die Beschwerdeführerinnen sind Atomkraftgegnerinnen. Sie wohnen im Kreis Lüchow-Dannenberg, in dem sich
ein Lager für radioaktive Abfälle befindet. Aus Anlaß eines Transports von Castor-Behältern mit atomarem Material in
dieses Lager war für den 25. April 1995 eine Versammlung geplant, die von der zuständigen Behörde mit einer in der
örtlichen Zeitung am 21. April 1995 bekanntgemachten Allgemeinverfügung untersagt wurde. Die
Beschwerdeführerinnen nahmen dessen ungeachtet an der Versammlung teil. Sie ketteten sich dabei an die
Eisenbahnschienen der Bahnlinie Uelzen-Dannenberg an, die nur noch für Castor-Transporte benutzt wird. Das
Versammlungsverbot wurde später vom Verwaltungsgericht wegen unzureichender Gefahrenprognose für rechtswidrig
erklärt.
2
2. Mit Bußgeldbescheid wurde den Beschwerdeführerinnen wegen Verletzung des Versammlungsgesetzes und der
Eisenbahn- Bau- und Betriebsordnung eine Geldbuße von 400 DM auferlegt.
3
Auf ihren Einspruch hin setzte das Amtsgericht wegen einer Ordnungswidrigkeit gegen das Versammlungsgesetz in
Tateinheit mit einer Ordnungswidrigkeit gegen die Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung eine Geldbuße von 10 DM
fest. Das Gericht schloß sich zwar der Auffassung des Verwaltungsgerichts an, daß das Versammlungsverbot
rechtswidrig gewesen sei. Auf die Rechtmäßigkeit des Verbots komme es jedoch nicht an, weil der Ungehorsam
gegen die vollziehbare behördliche Anordnung bestraft werde. Bei der Festsetzung der Geldbuße habe es einerseits
die rechtswidrige vollziehbare Allgemeinverfügung, andererseits das Grundrecht der Beschwerdeführerinnen aus Art. 8
GG berücksichtigt. Verglichen mit den in Straßenverkehrssachen verhängten Geldbußen sei die Geldbuße hier am
untersten Rahmen anzusetzen.
4
Mit den angegriffenen Entscheidungen ließ das Oberlandesgericht die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft zu,
faßte den Schuldspruch des amtsgerichtlichen Urteils neu und änderte es im Rechtsfolgenausspruch zu einer
Geldbuße in Höhe von 500 DM ab.
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Das Rechtsmittel sei wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt. Die Feststellungen des Amtsgerichts
belegten hinreichend einen Verstoß sowohl gegen § 64 b Abs. 2 Nr. 1 EBO als auch gegen § 29 Abs. 1 Nr. 1 VersG.
Beide Regelungen seien verfassungsrechtlich unbedenklich. Das für vollziehbar erklärte Versammlungsverbot sei
auch nicht etwa nichtig gewesen. Ob es anfechtbar gewesen sei, könne offen bleiben. Da die Urteilsgründe sichere
Anhaltspunkte für vorsätzliches Handeln lieferten, könne der Senat die vom Amtsgericht unterlassene notwendige
Bezeichnung der Schuldform nachholen. Das gelte auch, wenn der Schuldspruch bereits durch die Beschränkung des
Rechtsmittels rechtskräftig geworden sei.
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Die Rechtsbeschwerde habe Erfolg. Eine Entscheidung in der Sache sei zulässig, weil keine weiteren
entscheidungserheblichen Feststellungen zu erwarten seien. Das Amtsgericht sei bei der Bemessung der Geldbuße
von einem falschen Bußgeldrahmen ausgegangen. § 64 b Abs. 1 und 2 EBO verwiesen nicht mehr auf § 8 a AEG,
sondern auf § 28 AEG. Nach § 28 Abs. 1 Nr. 6 AEG handele ordnungswidrig, wer vorsätzlich oder fahrlässig einer
Rechtsverordnung nach § 26 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe c AEG zum Schutz der Bahnanlagen zuwider handele, wenn die
Rechtsverordnung für einen bestimmten Tatbestand auf diese Bußgeldvorschrift verweise. Einen solchen Verweis
enthalte § 64 b Abs. 2 Nr. 1 EBO. Nach § 28 Abs. 2 AEG könne dieser Verstoß bei Vorsatz mit einer Geldbuße bis zu
10.000 DM geahndet werden.
7
Bei der Bemessung der Geldbuße habe sich das Gericht davon leiten lassen, daß die Ordnungswidrigkeit nach der
Eisenbahn- Bau- und Betriebsordnung im Vordergrund stehe und schwer wiege. Der reibungslose Bahnverkehr sei
durch die Handlung der Beschwerdeführerinnen gefährlich beeinträchtigt worden. Die Häufigkeit gleichartiger, in den
Medien wiederholt dargestellter Verstöße erfordere eine Abschreckung weiterer Täter. Wenn überhaupt ein
Verbotsirrtum in Erwägung zu ziehen gewesen wäre, hätte sich dieser ohne weiteres vermeiden lassen.
8
3. Mit ihren Verfassungsbeschwerden rügen die Beschwerdeführerinnen eine Verletzung von Art. 8 Abs. 1, Art. 101
Abs. 1 und Art. 103 Abs. 1 GG durch die Entscheidungen des Oberlandesgerichts.
9
Nach den Feststellungen des Amtsgerichts habe das Oberlandesgericht den Entscheidungen zugrundelegen
müssen, daß das Versammlungsverbot rechtswidrig gewesen sei. Der Verstoß gegen das Versammlungsgesetz habe
daher bei Berücksichtigung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit nicht geahndet werden dürfen. Die mangelnde
Beachtung des Grundrechts durch das Oberlandesgericht habe sich in der Auferlegung eines erheblich höheren
Bußgeldes ausgewirkt.
10
Ihrem gesetzlichen Richter seien sie dadurch entzogen worden, daß das Oberlandesgericht in der Sache selbst
entschieden habe. Zwar könne das Beschwerdegericht unter bestimmten Voraussetzungen in der Sache selbst
entscheiden. Das gelte aber nur, wenn keine neuen tatsächlichen Feststellungen zugrundegelegt würden. Gegen
diesen
Grundsatz
habe
das
Oberlandesgericht
verstoßen.
Der
in
den
Vordergrund
gerückte
Zumessungsgesichtspunkt, wonach der Bahnverkehr gefährlich beeinträchtigt worden sei, finde in den Feststellungen
des Amtsgerichts keine Stütze. Das Oberlandesgericht habe auch von sich aus nicht Medienberichte zur Erhöhung
des Bußgeldes heranziehen können. In Überschreitung seiner Befugnisse habe es ferner die Schuldform eigenmächtig
bestimmt. In diesem Zusammenhang sei überdies die Prüfung unterlassen worden, ob das Grundrecht der
Versammlungsfreiheit nicht das kurzfristige Verweilen auf den Schienen gedeckt habe. Schließlich habe das
Oberlandesgericht auch nicht selbst entscheiden dürfen, ob die Beschwerdeführerinnen nicht einem rechtlich
relevanten Irrtum unterlegen hätten.
11
Art. 103 Abs. 1 GG sei verletzt, weil sie sich zu den in der Beschlußbegründung vorgebrachten neuen
Strafzumessungstatsachen nicht hätten äußern können. Die Staatsanwaltschaft habe ihren höheren
Verurteilungsantrag lediglich mit generalpräventiven Gesichtspunkten begründet. Im Falle ausreichender Gewährung
des rechtlichen Gehörs hätten sie vorgetragen, daß die Bahnstrecke Uelzen-Dannenberg seit Jahren stillgelegt sei.
Von der Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung hätten sie keine Kenntnis gehabt.
II.
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Die Verfassungsbeschwerden werden nicht zur Entscheidung angenommen. Ihnen kommt keine grundsätzliche
verfassungsrechtliche Bedeutung im Sinn von § 93 a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG zu. Die von ihnen aufgeworfenen
Fragen sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt. Eine Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts ist auch nicht nach § 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Durchsetzung der von den
Beschwerdeführerinnen geltend gemachten Rechte angezeigt. Ihnen entsteht durch die Versagung der Entscheidung
zur Sache kein besonders schwerer Nachteil.
13
Zwar ist es mit dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit unvereinbar, daß das Oberlandesgericht einen Verstoß
der Beschwerdeführerinnen gegen § 29 Abs. 1 Nr. 1 VersG angenommen hat, ohne zu berücksichtigen, ob das
Versammlungsverbot rechtmäßig war. Insoweit gelten die vom Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom
1. Dezember 1992 (BVerfGE 87, 399 <406 ff.>) dargelegten Grundsätze.
14
Die Verletzung von Art. 8 Abs. 1 GG wirkt sich für die Beschwerdeführerinnen aber nicht besonders schwer aus, weil
das Oberlandesgericht die Verurteilung außerdem auf die eisenbahnrechtlichen Vorschriften von § 64 b Abs. 2 Nr. 1
EBO und § 28 Abs. 1 Nr. 6 und Abs. 2 AEG gestützt und den Verstoß gegen diese als schwerwiegend eingestuft und
bei der Zumessung des Bußgelds in den Vordergrund gerückt hat. Insoweit begegnet die Entscheidung keinen
verfassungsrechtlichen Bedenken. Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit wird durch die genannten Vorschriften in
verfassungsmäßiger Weise eingeschränkt. Bei ihrer Auslegung und Anwendung ist Art. 8 Abs. 1 GG nicht verkannt
worden. Da sie sich im Unterschied zu § 29 Abs. 1 Nr. 1 VersG nicht speziell auf ein Verhalten im Zusammenhang
mit verbotenen Versammlungen beziehen, sondern einer generell bestehenden Gefahr entgegenwirken, hängt ihre
Anwendung auch nicht von der Rechtmäßigkeit des Versammlungsverbots ab. Das Oberlandesgericht konnte auch in
verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise davon ausgehen, daß sich die Beschwerdeführerinnen nicht darauf
berufen konnten, die von ihnen blockierten Bahnanlagen seien stillgelegt und würden nur noch gelegentlich für Castor-
Transporte benutzt. Am Tag der Blockade wurde auf der Strecke ein die Castor-Behälter transportierender Zug
erwartet, auf dessen Blockade es den Beschwerdeführerinnen nach eigenem Bekunden gerade ankam. Angesichts
der beträchtlichen Gefahr, denen die eisenbahnrechtlichen Vorschriften begegnen wollen, verlangt Art. 8 Abs. 1 GG
auch nicht, daß ihre Anwendung bei einer kurzen Verweildauer auf den Bahnanlagen zu Blockadezwecken unterbleibt.
15
Für eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 1 GG ist nichts hervorgetreten. Insoweit wird auf eine
weitere Begründung verzichtet (§ 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).
16
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Papier
Grimm
Hömig