Urteil des BVerfG vom 25.11.2008

BVerfG: wiedereinsetzung in den vorigen stand, verfassungsbeschwerde, rechtliches gehör, rüge, beginn der frist, gefahr im verzuge, grundsatz der prozessökonomie, berufliche tätigkeit, berufsausübung

Entscheidungen
L e i t s a t z
zum Beschluss des Ersten Senats vom 25. November 2008
- 1 BvR 848/07 -
1. Durch die Einlegung einer Gegenvorstellung und die darauf ergehende gerichtliche Entscheidung wird die
Monatsfrist zur Einlegung und Begründung der Verfassungsbeschwerde (§ 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG) nicht
erneut in Lauf gesetzt.
2. Zur Verfassungsmäßigkeit des an Rechtsanwälte gerichteten Verbots der Umgehung des Gegenanwalts (§ 12
BORA) und der berufsrechtlichen Ahndung von Verstößen gegen dieses Verbot.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 848/07 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Rechtsanwalts K...
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Brehm, Zimmerling,
Berliner Promenade 15, 66111 Saarbrücken -
gegen
a)
den Beschluss des Anwaltsgerichts im Bezirk der Rechtsanwaltskammer des
Saarlandes vom 23. Februar 2007 - AnwG 03/06 -,
b)
den aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 12. Juli 2006 ergangenen Beschluss
des Anwaltsgerichts im Bezirk der Rechts- anwaltskammer des Saarlandes - AnwG
03/06 -,
c)
den Einspruchsbescheid der Rechtsanwaltskammer des Saarlandes vom 20. Oktober
2005 - B 2/05 -,
d)
den Rügebescheid der Rechtsanwaltskammer des Saarlandes vom 17. Februar 2005 -
B 2/05 -
hat das Bundesverfassungsgericht - Erster Senat - unter Mitwirkung der Richterin und Richter
Präsident Papier,
Hohmann-Dennhardt,
Bryde,
Gaier,
Eichberger,
Schluckebier,
Kirchhof,
Masing
am 25. November 2008 beschlossen:
Dem Beschwerdeführer wird wegen der Versäumung der Frist zur Einlegung und Begründung der
Verfassungsbeschwerde Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.
Der aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 12. Juli 2006 ergangene Beschluss des Anwaltsgerichts im Bezirk der
Rechtsanwaltskammer des Saarlandes - AnwG 03/06 -, der Einspruchsbescheid der Rechtsanwaltskammer des
Saarlandes vom 20. Oktober 2005 - B 2/05 - und der Rügebescheid der Rechtsanwaltskammer des Saarlandes vom
17. Februar 2005 - B 2/05 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 12 Absatz 1 des
Grundgesetzes. Der Beschluss des Anwaltsgerichts wird aufgehoben. Damit wird der Beschluss des Anwaltsgerichts
vom 23. Februar 2007 - AnwG 03/06 - gegenstandslos. Die Sache wird an das Anwaltsgericht im Bezirk der
Rechtsanwaltskammer des Saarlandes zurückverwiesen.
Das Saarland hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe:
A.
1
Der Beschwerdeführer, ein Rechtsanwalt, wendet sich gegen eine Rüge der Rechtsanwaltskammer, die ihm wegen
der Umgehung des Gegenanwalts erteilt worden ist. Hierbei wird die Frage aufgeworfen, ob eine vom Fachgericht in
der Sache beschiedene Gegenvorstellung die Monatsfrist zur Einlegung und Begründung einer
Verfassungsbeschwerde erneut in Gang setzt.
I.
2
Durch § 12 der Berufsordnung für Rechtsanwälte (im Folgenden: BORA) wird Rechtsanwälten untersagt, unter
Umgehung des Gegenanwalts unmittelbar mit dessen Mandanten in Kontakt zu treten. Die Bestimmung lautet wie
folgt:
3
Umgehung des Gegenanwalts
4
(1) Der Rechtsanwalt darf nicht ohne Einwilligung des Rechtsanwalts eines anderen Beteiligten
mit diesem unmittelbar Verbindung aufnehmen oder verhandeln.
5
(2) Dieses Verbot gilt nicht bei Gefahr im Verzuge. Der Rechtsanwalt des anderen Beteiligten
ist unverzüglich zu unterrichten; von schriftlichen Mitteilungen ist ihm eine Abschrift
unverzüglich zu übersenden.
II.
6
1. Der Beschwerdeführer ist seit vielen Jahrzehnten als Rechtsanwalt tätig. Er vertrat den Antragsteller in einer
Wohnungseigentumssache gegen eine andere Wohnungseigentümerin (im Folgenden: Antragsgegnerin), die ebenfalls
einen Rechtsanwalt beauftragt hatte.
7
Zur Teilnahme an dem in dieser Sache bestimmten Verhandlungstermin hatte sich der von der Antragsgegnerin
mandatierte Rechtsanwalt zum Amtsgericht begeben, war jedoch von der Richterin weggeschickt worden, weil sie -
wie die Antragsgegnerin - den Rechtsanwalt nicht kannte und davon ausging, er wäre zu einem der Verfahren
gekommen, deren Verhandlungstermine aufgehoben worden waren. Bei der gleichwohl durchgeführten mündlichen
Verhandlung war daher zwar der Antragsteller durch den Beschwerdeführer, nicht aber auch die Antragsgegnerin
anwaltlich vertreten. Auf Vorschlag des Gerichts wurde ein Prozessvergleich geschlossen, in dem sich die
Antragsgegnerin verpflichtete, die Entfernung der zwei streitgegenständlichen Bäume zu dulden, während der
Antragsteller die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten übernahm. Nur für den
Antragsteller wurde ein befristetes Widerrufsrecht vereinbart, das in der Folgezeit nicht ausgeübt wurde.
8
2. Nach einer Beschwerde des von der Antragsgegnerin beauftragten Rechtsanwalts erteilte der Vorstand der
Rechtsanwaltskammer dem Beschwerdeführer wegen eines Verstoßes gegen das Umgehungsverbot aus § 12 Abs. 1
BORA eine Rüge. Auch wenn das Gericht den Bevollmächtigten der Antragsgegnerin irrtümlich weggeschickt habe
BORA eine Rüge. Auch wenn das Gericht den Bevollmächtigten der Antragsgegnerin irrtümlich weggeschickt habe
und deshalb von sich aus auf eine Vertagung hätte hinwirken müssen, hätte der Beschwerdeführer nicht mit der
Antragsgegnerin in Abwesenheit ihres Prozessbevollmächtigten Vergleichsverhandlungen führen dürfen, ohne zuvor
mit der Kanzlei des gegnerischen Rechtsanwalts Rücksprache zu halten.
9
Nachdem der Beschwerdeführer gegen die Erteilung der Rüge Einspruch eingelegt hatte, wandte sich der Vorstand
der Rechtsanwaltskammer an den gegnerischen Rechtsanwalt und bat ihn um eine Stellungnahme zu den
Behauptungen des Beschwerdeführers, die Antragsgegnerin sei prozesserfahren und habe ein ihr mehrmals
angebotenes Recht zum Widerruf des Vergleichs abgelehnt. Der Gegenanwalt widersprach dieser Darstellung.
Daraufhin wies der Vorstand der Rechtsanwaltskammer den Einspruch zurück, ohne dem Beschwerdeführer das
Anschreiben an den Gegenanwalt und dessen Stellungnahme mitgeteilt zu haben. In der Begründung des
Einspruchsbescheids, die sich auf die Stellungnahme des Gegenanwalts stützt, wird ausgeführt, der Schutzgedanke
des Umgehungsverbots sei insbesondere deshalb berührt, weil der abgeschlossene Vergleich keinen
Widerrufsvorbehalt zugunsten der Antragsgegnerin enthalte.
10
Den daraufhin vom Beschwerdeführer gestellten Antrag auf gerichtliche Entscheidung wies das Anwaltsgericht
zurück. Unabhängig von der Situation der Antragsgegnerin, zu der sich der gegnerische Rechtsanwalt auf Anfrage der
Rechtsanwaltskammer geäußert habe, liege zumindest im unkollegialen Verhalten gegenüber dem Gegenanwalt ein
Verstoß gegen § 12 Abs. 1 BORA. Deshalb komme es nicht darauf an, ob auch der Normzweck des Schutzes des
gegnerischen Mandanten verletzt worden sei. Dies möge allenfalls für die Beurteilung der Schwere des Verstoßes von
Bedeutung gewesen sein. Diese Ermessensausübung der Rechtsanwaltskammer, die sich zur Ahndung der
Pflichtwidrigkeit lediglich für eine Rüge entschieden habe, sei im anwaltsgerichtlichen Verfahren nicht zu überprüfen.
Das Einspruchsverfahren leide auch nicht an einem Verfahrensfehler. Der Rechtsanwalt sei vor Erteilung der Rüge
anzuhören, diese Anhörung sei auch unstreitig erfolgt. Seine erneute Anhörung im Einspruchsverfahren sei nicht
notwendig gewesen.
11
3. Gegen die ihm am 9. Oktober 2006 zugestellte Entscheidung des Anwaltsgerichts hat der Beschwerdeführer mit
Schriftsatz vom 6. November 2006 Gegenvorstellung erhoben. Das Anwaltsgericht hätte die Verletzung von Art. 103
Abs. 1 GG durch die Rechtsanwaltskammer nicht in der geschehenen Weise „korrigieren“ dürfen. Allein aus dem
unstreitigen Sachverhalt lasse sich ebenfalls keine Pflichtverletzung wegen unkollegialen Verhaltens nach § 12 Abs. 1
BORA herleiten, weil es dem Vorstand der Rechtsanwaltskammer im Rahmen der Einspruchsentscheidung auch
wesentlich auf die - unter Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör festgestellte - Beeinträchtigung der
Belange der Antragsgegnerin angekommen sei und ihm anderenfalls keine Rüge erteilt worden wäre. Bei einem so
schwerwiegenden Verfahrensverstoß müsse der Rügebescheid aufgehoben werden.
12
Das Anwaltsgericht hat die Gegenvorstellung des Beschwerdeführers zurückgewiesen. Da die Pflichtverletzung nur
mit einer Rüge als der mildesten Maßnahme sanktioniert worden sei, habe die Rechtsanwaltskammer auch im
Einspruchsverfahren nicht unrichtig zum Nachteil des Beschwerdeführers entschieden.
13
4. Mit seiner Verfassungsbeschwerde, die sich gegen alle angeführten Entscheidungen richtet, rügt der
Beschwerdeführer die Verletzung von Art. 12 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 1 GG.
14
Seine Berufsfreiheit sei verletzt, weil die Befolgung einer richterlichen Terminsladung sowie die Teilnahme an der
von der Richterin geführten Erörterung mit abschließender Protokollierung eines Vergleichs als berufsrechtlich
pflichtwidrig beurteilt worden sei. Die in den angegriffenen Entscheidungen vorgenommene Auslegung des § 12 Abs. 1
BORA habe - was das Bundesverfassungsgericht bereits in anderem Zusammenhang (Hinweis auf BVerfGE 101, 312)
beanstandet habe - zur Folge, dass die gesetzlichen Bestimmungen über den Vergleichsabschluss in einer
mündlichen Verhandlung außer Kraft gesetzt würden, wenn der Gegenanwalt nicht erscheine.
15
Auch Art. 103 Abs. 1 GG sei verletzt; denn das Anwaltsgericht habe den im Einspruchsverfahren vor der
Rechtsanwaltskammer erfolgten Gehörsverstoß zu Unrecht für unbeachtlich gehalten. Die Auffassung, jedenfalls sei
als mildeste Sanktion eine Rüge auszusprechen gewesen, verkenne, dass das Vorliegen der Voraussetzungen für
eine Rüge noch nicht besage, dass sie auch ausgesprochen werden müsse. Auch sei offen, ob die
Rechtsanwaltskammer in Kenntnis der Ausführungen des Beschwerdeführers tatsächlich eine Rüge verhängt oder
aber davon abgesehen hätte.
III.
16
1. Zur Zulässigkeit der Gegenvorstellung gegen gerichtliche Entscheidungen haben der Präsident des
Bundesgerichtshofs, die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts, der Präsident des Bundesfinanzhofs, der Präsident
des Bundessozialgerichts und die Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Stellung genommen.
17
a) Der Präsident des Bundesgerichtshofs teilt mit, die Zulässigkeit einer Gegenvorstellung werde von den einzelnen
Zivilsenaten verschieden beurteilt. Teilweise werde auf Gegenvorstellungen in der Sache entschieden, ohne auf
Zulässigkeitsfragen
einzugehen,
teilweise
werde
die
Zulässigkeit
auch
nach
Inkrafttreten
des
Anhörungsrügengesetzes jedenfalls dann bejaht, wenn das Gericht nach der maßgeblichen gesetzlichen Regelung
befugt sei, seine eigene Entscheidung abzuändern. Andere Zivilsenate hielten die Gegenvorstellung hingegen für
einen unstatthaften Rechtsbehelf, weil mit ihr gegen die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die
Rechtsmittelklarheit verstoßen werde.
18
b) Das Bundesarbeitsgericht hat nach Mitteilung seiner Präsidentin bislang noch keine Aussagen zur generellen
Statthaftigkeit von Gegenvorstellungen getroffen.
19
c) Demgegenüber teilt der Präsident des Bundesfinanzhofs mit, die Senate dieses Gerichts seien einhellig der
Ansicht, dass eine Gegenvorstellung generell nicht statthaft sei.
20
d) Nach Mitteilung des Präsidenten des Bundessozialgerichts besteht unter den Senaten dieses Gerichts keine
Einigkeit. Einige Senate gingen davon aus, dass außerordentliche Rechtsbehelfe gegen nicht mehr anfechtbare
gerichtliche Entscheidungen jedenfalls seit Inkrafttreten der Vorschriften über die Anhörungsrüge generell nicht mehr
in Betracht kämen. Demgegenüber bejahten andere Senate weiterhin die Zulässigkeit der Gegenvorstellung zur Rüge
der Verletzung anderer Verfahrensgrundrechte als der Garantie des rechtlichen Gehörs.
21
e) Auch nach Mitteilung der Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts ist die Zulässigkeit der Gegenvorstellung
unter den verschiedenen Senaten dieses Gerichts umstritten. Es gebe Senate, die Gegenvorstellungen seit Einfügung
des § 152a VwGO durch das Anhörungsrügengesetz als unstatthaft behandelten, während eine Gegenvorstellung von
anderen Senaten außerhalb des Anwendungsbereichs der Anhörungsrüge weiterhin zugelassen werde.
22
2. Zur Begründetheit der Verfassungsbeschwerde haben die Rechtsanwaltskammer des Saarlandes und der
Deutsche Anwaltverein Stellung genommen.
23
a) Nach Auffassung der Rechtsanwaltskammer des Saarlandes beruhen weder der Rügebescheid noch der
Einspruchsbescheid auf einer Verletzung des Anspruchs des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör. Darüber
hinaus fehle es bereits an einem besonders schweren Nachteil für den Beschwerdeführer, weil die
Rechtsanwaltskammer mit der Rüge zu dem mildesten Mittel gegriffen habe, obwohl eine Verletzung des § 12 Abs. 1
BORA regelmäßig die Vorlage der Sache beim Generalstaatsanwalt zur Folge habe. Bei einer Verletzung des
Umgehungsverbots sei es im Grundsatz auch ohne Belang, ob die betroffene Partei prozesserfahren sei und ob sie
über rechtliche Kenntnisse verfüge oder nicht. Dies könne allenfalls für die Gewichtung des Verstoßes von Bedeutung
sein. § 12
BORA diene in erster Linie dem Schutz des gegnerischen Mandanten, demgegenüber stehe der Schutz des
gegnerischen Anwalts vor Eingriffen in sein Mandatsverhältnis im Hintergrund, weswegen der Aspekt der Kollegialität
nur nachrangig zu würdigen sei.
24
b) Der Deutsche Anwaltverein hält die Verfassungsbeschwerde für begründet. Es sei bereits zweifelhaft, ob ein
Verstoß gegen das Umgehungsverbot des § 12 Abs. 1 BORA vorliege. Die Teilnahme an einer Gerichtsverhandlung
stelle unter Berücksichtigung des Schutzzwecks der Norm kein „Verhandeln“ mit der Gegenseite dar. Die Verhängung
einer Rüge sei aber jedenfalls wegen des lediglich formalen Verstoßes gegen das Umgehungsverbot
unverhältnismäßig.
B.
25
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet.
I.
26
Der Zulässigkeit steht nicht entgegen, dass die Verfassungsbeschwerde nicht innerhalb der in § 93 Abs. 1 BVerfGG
geregelten Monatsfrist eingelegt und begründet worden ist; denn der Senat gewährt dem Beschwerdeführer
hinsichtlich der versäumten Frist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
27
1. Die einmonatige Frist zur Einlegung und Begründung einer Verfassungsbeschwerde beginnt gemäß § 93 Abs. 1
Satz 2 und Satz 3 BVerfGG mit der - der Form nach im jeweils einschlägigen Verfahrensrecht geregelten -
Bekanntgabe der Entscheidung, die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen wird. Ist der Beschwerdeführer - wie
im Regelfall nach § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG - gehalten, vor Einlegung der Verfassungsbeschwerde den Rechtsweg
zu erschöpfen, so wird der Lauf der Monatsfrist mit der Bekanntgabe der nach der jeweiligen Verfahrensordnung
letztinstanzlichen Entscheidung in Gang gesetzt. Muss der Beschwerdeführer aus Gründen der Subsidiarität der
Verfassungsbeschwerde über die Erschöpfung des Rechtswegs hinaus von einer Möglichkeit zur Beseitigung der von
ihm gerügten Grundrechtsverletzung Gebrauch machen, dann ist erst die Entscheidung über diesen Rechtsbehelf für
den Beginn der Monatsfrist maßgebend. Dagegen hindert die Einlegung eines offensichtlich unzulässigen
Rechtsbehelfs den Ablauf der Monatsfrist nicht.
28
a) Im vorliegenden Fall wurde der Lauf der Monatsfrist am 9. Oktober 2006 mit der Zustellung des undatierten
Beschlusses in Gang gesetzt, mit dem das Anwaltsgericht den Antrag des Beschwerdeführers auf gerichtliche
Entscheidung zurückgewiesen hat. Mit diesem Beschluss war der Rechtsweg erschöpft, weil Entscheidungen der
Anwaltsgerichte über Rügebescheide nach § 74a Abs. 3 Satz 4 BRAO unanfechtbar sind. Bei Einlegung der
Verfassungsbeschwerde am 30. März 2007 war demnach die durch § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG bestimmte Frist
bereits verstrichen.
29
b) Die Entscheidung des Anwaltsgerichts über die von dem Beschwerdeführer erhobene Gegenvorstellung ist
hingegen für den Beginn der Frist zur Einlegung und Begründung der Verfassungsbeschwerde nicht maßgebend.
30
aa) Das Anwaltsgericht hat mit diesem Beschluss nicht über eine Anhörungsrüge des Beschwerdeführers
entschieden. Wird mit der Verfassungsbeschwerde eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103
Abs. 1 GG) geltend gemacht, so zählt allerdings eine Anhörungsrüge an das Fachgericht ebenfalls zu dem
Rechtsweg, von dessen Erschöpfung die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde gemäß § 90 Abs. 2 Satz 1
BVerfGG im Regelfall abhängig ist (vgl. BVerfGE 42, 243 <245>; 74, 358 <380> jeweils zu § 33a StPO). In diesen
Fällen beginnt daher die Frist zur Einlegung und Begründung einer Verfassungsbeschwerde erst mit der Bekanntgabe
der Entscheidung über die Anhörungsrüge. Eine Anhörungsrüge ist auch für das anwaltsgerichtliche Verfahren zur
Überprüfung eines Rügebescheids aufgrund der Verweisung auf die Beschwerdevorschriften der Strafprozessordnung
in § 74a Abs. 2 Satz 2 BRAO, die auch die allgemeinen Bestimmungen aus den §§ 22 ff. StPO (vgl. Weyland, in:
Feuerich/Weyland, BRAO, 7. Aufl. 2008, § 74a Rn. 7) und damit auch § 33a StPO umfasst, im Gesetz geregelt.
31
In der vom Beschwerdeführer erhobenen Gegenvorstellung kann eine Anhörungsrüge jedoch nicht gesehen werden.
Eine solche Auslegung wäre nicht nur mit dem erkennbaren Willen des rechtskundigen Beschwerdeführers, der seine
Eingabe ausdrücklich als Gegenvorstellung bezeichnet hat, unvereinbar. Sie würde vielmehr hier auch zu einem
unzulässigen Rechtsbehelf führen und daher dem Grundsatz widersprechen, dass sich die Auslegung von
Verfahrenserklärungen an der recht verstandenen Interessenlage des Erklärenden zu orientieren hat. Die
Anhörungsrüge dient der fachgerichtlichen Überprüfung und Abhilfe bei Verletzungen des vom Grundgesetz
garantierten Anspruchs auf rechtliches Gehör. Eine Verletzung dieses Anspruchs durch das Anwaltsgericht hat der
Beschwerdeführer mit seiner Gegenvorstellung indessen nicht geltend gemacht. Er hat vielmehr beanstandet, dass
der Vorstand der Rechtsanwaltskammer bei der Entscheidung über den Einspruch die Stellungnahme des
gegnerischen Rechtsanwalts berücksichtigt habe, ohne ihm diese zuvor zur Kenntnis zu bringen und ohne ihm zuvor
Gelegenheit zur Äußerung zu geben. Der Beschwerdeführer hat sich damit gegen das Verfahren des Vorstandes der
Rechtsanwaltskammer als einer Behörde der mittelbaren Staatsverwaltung (§ 62 Abs. 1, § 63 BRAO) gewandt,
während Art. 103 Abs. 1 GG seinem eindeutigen Wortlaut nach nur für Verfahren „vor Gericht“ Anwendung findet (vgl.
BVerfGE 101, 397 <404>). Für ein solches Gesuch findet sich im hier maßgeblichen Verfahrensrecht der
Bundesrechtsanwaltsordnung keine Grundlage. Der Beschwerdeführer hat sich demnach außerhalb der einschlägigen
Verfahrensordnung an das Anwaltsgericht gewandt, um eine Überprüfung der ergangenen gerichtlichen Entscheidung
durch dieselbe Instanz und denselben Spruchkörper zu erreichen. Dies kennzeichnet seine Eingabe an das
Anwaltsgericht als Gegenvorstellung (vgl. BGH, Beschluss vom 17. März 1982
- IVa ZB 5/82 -, VersR 1982, S. 598).
32
bb) Die Gegenvorstellung des Beschwerdeführers war nicht geeignet, die Frist zur Einlegung und Begründung der
Verfassungsbeschwerde offen zu halten. Zwar ist die Gegenvorstellung nicht offensichtlich unzulässig (1), sie gehört
aber weder zum Rechtsweg (2) noch ist ihre Einlegung aus Gründen der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde
erforderlich (3). Für den Beginn der Monatsfrist aus § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ist daher nicht an die Entscheidung
des Anwaltsgerichts über die Gegenvorstellung des Beschwerdeführers anzuknüpfen.
33
(1) Die Einlegung eines offensichtlich unzulässigen Rechtsbehelfs ist für die Monatsfrist aus § 93 Abs. 1 Satz 1
BVerfGG ohne Bedeutung, weshalb die hierauf ergangene gerichtliche Entscheidung die Frist nicht erneut in Lauf
setzt (vgl. BVerfGE 5, 17 <19>; 63, 80 <85>; 91, 93 <106>; stRspr). Eine Gegenvorstellung ist jedoch weder aus
verfassungsrechtlichen Gründen als generell unzulässig anzusehen (a), noch folgt eine offensichtliche Unzulässigkeit
auf der Grundlage des einfachen Rechts aus der Rechtsprechung der Fachgerichte (b).
34
(a) Aus den Erwägungen des Plenums des Bundesverfassungsgerichts in seinem Beschluss vom 30. April 2003
(BVerfGE 107, 395) lässt sich nicht herleiten, dass eine Gegenvorstellung gegen gerichtliche Entscheidungen von
Verfassungs wegen unzulässig ist. Das Bundesverfassungsgericht macht zwar seit dieser Entscheidung die
Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde nicht länger von der vorherigen Einlegung außerordentlicher Rechtsbehelfe
abhängig, die die Rechtsprechung teilweise außerhalb des geschriebenen Rechts geschaffen hatte (vgl. BVerfGE 107,
395 <417>). Obgleich auch die Gegenvorstellung zu den damit angesprochenen „Rechtsbehelfen“ zählt (vgl. BVerfGE
107, 395 <397, 416>), ergibt sich hieraus jedoch nicht, dass eine Gegenvorstellung aus verfassungsrechtlichen
Gründen unstatthaft ist. Der Plenarbeschluss nimmt zu außerordentlichen Rechtsbehelfen lediglich unter den
Gesichtspunkten der Erschöpfung des Rechtswegs (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) sowie des
Subsidiaritätsgrundsatzes Stellung. Insoweit verweist das Plenum darauf, dass mangels einer zuverlässigen
gesetzlichen Regelung die rechtsstaatlichen Anforderungen an die Rechtsmittelklarheit nicht erfüllt sind. Die hieraus
folgenden rechtsstaatlichen Defizite außerordentlicher Rechtsbehelfe schließen es aus, ihre vorherige erfolglose
Einlegung zur Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde zu machen (vgl. BVerfGE 107, 395
<416 f.>).
35
Von dem Verzicht auf die vorherige Einlegung der Gegenvorstellung als Voraussetzung einer zulässigen
Verfassungsbeschwerde kann nicht auf die verfassungsrechtliche Unzulässigkeit der Gegenvorstellung selbst
geschlossen werden. Es gibt vielmehr auch zulässige Abhilfemöglichkeiten, denen gegenüber die
Verfassungsbeschwerde nicht subsidiär ist. So kann etwa ein Beschwerdeführer, der sich mit seiner
Verfassungsbeschwerde an das Bundesverfassungsgericht wendet, nicht auf die im Einzelfall gegebene Möglichkeit
verwiesen werden, sich mit einer Verfassungsbeschwerde an ein Landesverfassungsgericht zu wenden (vgl. BVerfGE
32, 157 <162>). Insoweit besteht wegen der grundsätzlich getrennten Verfassungsbereiche (vgl. BVerfGE 60, 175
<208>) kein Subsidiaritätsverhältnis. Darüber hinaus ist eine Ausnahme vom Subsidiaritätsgrundsatz auch dann
gerechtfertigt, wenn es dem Beschwerdeführer im konkreten Fall unzumutbar ist, dass vor Einlegung der
Verfassungsbeschwerde auf eine andere an sich gegebene Möglichkeit zur Beseitigung der geltend gemachten
Grundrechtsverletzung verwiesen wird (vgl. BVerfGE 22, 349 <355>; 71, 305 <336>).
36
Dass die Gegenvorstellung den rechtsstaatlichen Anforderungen an die Rechtsmittelklarheit nicht genügt, führt zu
erheblichen Unsicherheiten bei der Entscheidung über die Frage, ob erst Gegenvorstellung oder sogleich
Verfassungsbeschwerde einzulegen ist. Zur Vermeidung von Rechtsverlusten werden daher in der Praxis zum Teil
auch beide Rechtsbehelfe parallel eingelegt (vgl. BVerfGE 107, 395 <417>). Diese Unsicherheiten sind den
Rechtsuchenden bei Einlegung einer Verfassungsbeschwerde nicht zuzumuten. Durch ein Absehen von dem
Erfordernis der vorherigen Einlegung einer Gegenvorstellung werden sie vor solchen Nachteilen geschützt. Dieser aus
Gründen des Rechtsstaatsprinzips gebotene Schutz des Einzelnen bei der Einlegung von Rechtsbehelfen zwingt
jedoch nicht weitergehend dazu, von Verfassungs wegen bereits die Zulässigkeit der Gegenvorstellung als einer
Abhilfemöglichkeit zu verneinen. Soweit die Rechtsprechung der Fachgerichte die Gegenvorstellung als statthaft
behandelt, führt dies nicht zu einer Beeinträchtigung der Interessen der Rechtsuchenden, vielmehr wird im Gegenteil
der Schutz ihrer Rechte erweitert, wenn das Fachgericht nach der maßgebenden gesetzlichen Regelung zu einer
Abänderung seiner vorangegangenen Entscheidung befugt ist und ihm die Gegenvorstellung Anlass zu einer
dahingehenden Prüfung gibt.
37
(b) Auch einfachrechtlich ist die Gegenvorstellung nach der Rechtsprechung der Fachgerichte nicht als offensichtlich
unzulässig anzusehen. Offensichtlich unzulässig ist ein Rechtsbehelf nur dann, wenn über seine Unzulässigkeit nach
dem Stand der Rechtsprechung und Lehre zum Zeitpunkt der Einlegung keine Ungewissheit bestehen konnte (vgl.
BVerfGE 28, 1 <6>; 91, 93 <106>; 107, 299 <308>; stRspr). Dies lässt sich für die Gegenvorstellung nicht erkennen.
Vielmehr zeigen die vom Senat eingeholten Stellungnahmen der obersten Gerichtshöfe des Bundes, dass im
Anschluss an den Plenarbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 30. April 2003 (BVerfGE 107, 395) und das
Inkrafttreten des Gesetzes über die Rechtsbehelfe bei Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör
(Anhörungsrügengesetz) vom 9. Dezember 2004 (BGBl I S. 3220) am 1. Januar 2005 die Frage nach der Zulässigkeit
einer Gegenvorstellung gegen gerichtliche Entscheidungen unterschiedlich beantwortet wird. Während beim
Bundesgerichtshof, beim Bundessozialgericht und beim Bundesverwaltungsgericht einzelne Senate die Statthaftigkeit
weiterhin bejahen, sehen andere Senate eine Gegenvorstellung inzwischen als unzulässig an. Auch das
Bundesarbeitsgericht hat zur Zulässigkeit einer Gegenvorstellung noch keine abschließende Entscheidung getroffen.
Allein die Senate des Bundesfinanzhofs sind übereinstimmend der Ansicht, eine Gegenvorstellung sei generell nicht
mehr statthaft. Dass die maßgebliche Rechtsfrage noch nicht geklärt ist, wird ferner durch den Vorlagebeschluss des
Bundesfinanzhofs vom 26. September 2007 belegt, mit dem der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des
Bundes zur Entscheidung über die Statthaftigkeit einer Gegenvorstellung im Prozesskostenhilfeverfahren angerufen
worden ist (BFHE 219, 27). Auch in der Rechtsprechung der Anwaltsgerichte ist die maßgebliche Rechtsfrage
zumindest nicht im Sinne einer zweifelsfreien Unzulässigkeit der Gegenvorstellung geklärt. So hat das Anwaltsgericht
im vorliegenden Fall die Gegenvorstellung des Beschwerdeführers nicht etwa als unstatthaft angesehen, sondern auf
diese in der Sache selbst entschieden.
38
(2) Die Gegenvorstellung zählt nicht zu dem Rechtsweg, dessen Erschöpfung § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG
grundsätzlich als Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde bestimmt und dessen
rechtzeitiges Beschreiten folgerichtig die Frist zur Einlegung und Begründung der Verfassungsbeschwerde offen hält.
39
Rechtsweg im Sinne des § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG ist jede gesetzlich normierte Möglichkeit der Anrufung eines
Gerichts (vgl. BVerfGE 67, 157 <170>). Die Gegenvorstellung ist aber kein gesetzlich geregelter Rechtsbehelf. Mit
der Gegenvorstellung wendet sich der Betroffene vielmehr außerhalb der einschlägigen Verfahrensordnung und
außerhalb förmlicher Verfahrensrechte an das Gericht mit dem Ziel der Überprüfung seiner Entscheidung. Ob dieser
Weg des Zugangs zum Staat dem Schutz des Petitionsgrundrechts aus Art. 17 GG unterliegt, oder ob dieses
Grundrecht im durch Rechtsmittel geregelten Bereich richterlicher Tätigkeit generell nicht greift, bedarf vorliegend
keiner Entscheidung. Auch bei Anwendbarkeit des Art. 17 GG in diesen Fällen wären die Gerichte bei der sachlichen
Entscheidung über eine Gegenvorstellung von der Beachtung der einschlägigen gesetzlichen Regelungen namentlich
des Verfahrensrechts nicht befreit (vgl. BVerfGE 2, 225 <230>; 13, 54 <90>). So ist es ausgeschlossen, gesetzlich
geregelte Bindungen des Gerichts an seine eigenen Entscheidungen, wie insbesondere die Innenbindung während des
laufenden Verfahrens nach § 318 ZPO, ohne gegenläufige gesetzliche Grundlage zu übergehen. Vor allem aber ist
dann, wenn ein Gericht auf eine Gegenvorstellung an seiner eigenen, von ihm selbst als fehlerhaft erkannten
Entscheidung nicht festhalten will, zu beachten, dass die Lösung des hier zu Tage tretenden Konflikts zwischen
materieller Gerechtigkeit und Rechtssicherheit in erster Linie dem Gesetzgeber übertragen ist (vgl. BVerfGE 3, 225
<237 f.>; 15, 313 <319 f.>; 35, 41 <47>). Auch insoweit können sich die Gerichte mithin nicht von der maßgeblichen
gesetzlichen Regelung lösen. Dies gilt insbesondere für gerichtliche Entscheidungen, die ungeachtet etwaiger
Rechtsfehler nach dem jeweiligen Verfahrensrecht in Rechtskraft erwachsen und deshalb weder mit ordentlichen
Rechtsbehelfen angegriffen noch vom erkennenden Gericht selbst abgeändert werden können. Die Bindung der
Gerichte ist hier von besonderer Bedeutung, weil der materiellen Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen auch
wesentliche rechtsstaatliche Funktionen zukommt, indem sie Rechtssicherheit und Rechtsfrieden zwischen den
Beteiligten herstellt (vgl. BVerfGE 22, 322 <329>; 47, 146 <161>).
40
(3) Schließlich konnte die Entscheidung des Anwaltsgerichts über die Gegenvorstellung des Beschwerdeführers die
Frist zur Einlegung und Begründung der Verfassungsbeschwerde auch nicht deshalb neu in Gang setzen, weil der
Beschwerdeführer durch den Subsidiaritätsgrundsatz gezwungen gewesen wäre, zunächst diese Möglichkeit zur
Abhilfe zu nutzen. Das Bundesverfassungsgericht macht nämlich seit dem Plenarbeschluss vom 30. April 2003 die
Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde nicht länger von der vorherigen erfolglosen Einlegung insbesondere einer
Gegenvorstellung abhängig (BVerfGE 107, 395 <417>).
41
2. Gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung und Begründung der Verfassungsbeschwerde ist dem
Beschwerdeführer allerdings von Amts wegen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (§ 93 Abs. 2 Satz
4 BVerfGG). Sämtliche Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung liegen vor, insbesondere hat der
Beschwerdeführer die verspätete Einlegung der Verfassungsbeschwerde nicht verschuldet.
42
a) In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts war im Anschluss an den Plenarbeschluss vom 30. April
2003 (BVerfGE 107, 395) bislang nicht geklärt, welche Folgen aus der geänderten Rechtsprechung zur Subsidiarität
der Verfassungsbeschwerde gegenüber außerordentlichen Rechtsbehelfen für das Offenhalten der Monatsfrist des
§ 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG bei Einlegung einer Gegenvorstellung zu ziehen sind. Einschlägige
Senatsentscheidungen sind nicht ergangen. Auch der Rechtsprechung der Kammern des Bundesverfassungsgerichts
lassen sich keine zweifelsfreien Hinweise entnehmen. So ist etwa die Einlegung einer Gegenvorstellung für die Rüge
der Verletzung von Prozessgrundrechten weiterhin als fristwahrend behandelt worden (vgl. BVerfG, Beschluss der
3. Kammer des Zweiten Senats vom 6. April 2006 - 2 BvR 619/06 -, BayVBl. 2007, S. 44), während in einer anderen
Entscheidung die Einlegung einer Gegenvorstellung nicht als geeignet angesehen wurde, die Monatsfrist des § 93
Abs. 1 Satz 1 BVerfGG erneut in Lauf zu setzen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 20.
Juli 2007 - 1 BvR 2228/06 -, NJW 2007, S. 3771 <3772>). Zwar kann bei zweifelhafter Rechtslage insbesondere von
einem Rechtsanwalt wie dem Beschwerdeführer verlangt werden, dass er seine Vorgehensweise vorsorglich an einem
aus seiner Sicht ungünstigen Ergebnis der rechtlichen Klärung ausrichtet. Hätte der Beschwerdeführer hiernach
gehandelt und sogleich Verfassungsbeschwerde eingelegt, so hätte er sich angesichts der unklaren Rechtslage
allerdings der Gefahr ausgesetzt, dass seine Verfassungsbeschwerde wegen Missachtung des
Subsidiaritätsgrundsatzes als unzulässig angesehen worden wäre. Rechtsverluste wären daher nur vermeidbar
gewesen, wenn der Beschwerdeführer beide Möglichkeiten nebeneinander genutzt und innerhalb der Monatsfrist
sowohl Verfassungsbeschwerde als auch Gegenvorstellung eingelegt hätte. Ein solches paralleles Vorgehen konnte
dem Beschwerdeführer jedoch nicht zugemutet werden (vgl. BVerfGE 107, 395 <417>) und würde überdies dem
Grundsatz der Prozessökonomie widersprechen.
43
b) Nachdem mit der vorliegenden Entscheidung eine Klärung erfolgt ist, kann in künftigen Fällen von einem Fehlen
des Verschuldens nur noch für den Zeitraum ausgegangen werden, der erforderlich ist, um den Rechtsuchenden
Gelegenheit zu geben, sich auf die nunmehr geklärte Rechtslage einzustellen und entsprechend zu reagieren (vgl.
BVerfGE 78, 123 <126 f.>). Ein Beschwerdeführer, der wegen einer von ihm erhobenen Gegenvorstellung zunächst
von der Einlegung einer Verfassungsbeschwerde abgesehen hatte, wird daher - falls auch die weiteren
Voraussetzungen des § 93 Abs. 2 BVerfGG gegeben sind - gegen die Versäumung der Monatsfrist aus § 93 Abs. 1
BVerfGG Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nur dann erlangen können, wenn die Verfassungsbeschwerde
nunmehr nachgeholt wird und bis spätestens Montag, den 2. März 2009, eingelegt worden ist.
II.
44
Die Verfassungsbeschwerde ist auch begründet.
45
Die dem Beschwerdeführer erteilte Rüge und die diese Maßnahme bestätigenden Entscheidungen des
Kammervorstandes und des Anwaltsgerichts verletzen den Beschwerdeführer in seinem durch Art. 12 Abs. 1 GG
garantierten Grundrecht auf freie Berufsausübung.
46
Die durch den Grundsatz der freien Advokatur gekennzeichnete anwaltliche Berufsausübung ist unter der Herrschaft
des Grundgesetzes der freien und unreglementierten Selbstbestimmung des Einzelnen überantwortet (vgl. BVerfGE
76, 171 <188>; 108, 150 <158>). Auch der Vorstand der Rechtsanwaltskammer darf gemäß Art. 12 Abs. 1 GG in die
freie anwaltliche Berufsausübung der Rechtsanwälte namentlich durch Erteilung einer Rüge als Reaktion auf die
Verletzung beruflicher Pflichten nur aufgrund eines Gesetzes und nur durch solche Maßnahmen eingreifen, die den
materiellrechtlichen Anforderungen an Berufsausübungsregelungen genügen (vgl. BVerfGE 50, 16 <29>).
47
1. Das Umgehungsverbot aus § 12 Abs. 1 BORA, das in Verbindung mit § 74 Abs. 1 Satz 1 BRAO die notwendige
gesetzliche Grundlage für die dem Beschwerdeführer erteilte Rüge bildet, begegnet keinen verfassungsrechtlichen
Bedenken. Zwar wird mit diesem Verbot in die Freiheit der Berufsausübung eingegriffen, weil es Rechtsanwälten den
unmittelbaren Kontakt mit anwaltlich vertretenen Gegnern grundsätzlich untersagt und damit deren berufliche Tätigkeit
reglementiert. Diese Beschränkung der Berufsfreiheit ist aber nicht nur durch vernünftige Erwägungen des
Gemeinwohls legitimiert, sondern genügt auch dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (vgl. BVerfG, Beschluss der
2. Kammer des Ersten Senats vom 12. Juli 2001 - 1 BvR 2272/00 -, NJW 2001, S. 3325 <3326>).
48
a) Das Umgehungsverbot dient einer funktionsfähigen Rechtspflege und damit einem bedeutenden
Gemeinwohlbelang (vgl. BVerfGE 117, 163 <182>). Es zielt vorrangig auf den Schutz des gegnerischen Mandanten.
Hat dieser zur Wahrung seiner Rechte die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts für notwendig erachtet, so soll er davor
geschützt sein, bei direkter Kontaktaufnahme durch den Rechtsanwalt der Gegenseite wegen fehlender eigener
Rechtskenntnisse und mangels rechtlicher Beratung übervorteilt zu werden (vgl. Feuerich, in: Feuerich/Weyland,
a.a.O., § 12 BORA Rn. 1; BGH, Urteil vom 17. Oktober 2003 - V ZR 429/02 -, NJW 2003, S. 3692 <3693>). Mit
diesem Schutz vor Überrumpelung dient die Regelung einem fairen Verfahren und damit dem Gemeinwohlinteresse an
einer geordneten Rechtspflege. Daneben liegt dem Umgehungsverbot die Überlegung zugrunde, dass durch den
unmittelbaren Kontakt zwischen Rechtsanwälten die sachgerechte und zügige Erledigung einer Rechtssache gefördert
wird (vgl. Prütting, in: Henssler/Prütting, BRAO, 2. Aufl., 2004, § 12 BORA Rn. 2 m.w.N.). Auch dies dient der
Funktionsfähigkeit der Rechtspflege. Angesichts dieses legitimen Ziels findet das Umgehungsverbot aus § 12 BORA
seine Grundlage in der Ermächtigung der Bundesrechtsanwaltsordnung, die Gewissenhaftigkeit anwaltlicher
Berufsausübung durch Satzungsrecht näher zu regeln (§ 59b Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe a BRAO).
49
b) Das Verbot der Umgehung des Gegenanwalts beachtet auch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Der Eingriff in
die Freiheit der Berufsausübung ist geeignet, das angestrebte Ziel einer geordneten Rechtspflege insbesondere durch
den Schutz der Rechtsuchenden vor Überrumpelung zu erreichen. Ein weniger belastendes, aber gleichermaßen
wirksames Mittel ist nicht ersichtlich. Wird schließlich das Gewicht des verfolgten Gemeinwohlziels der
vergleichsweise geringen Belastung gegenübergestellt, die mit dem Verbot des unmittelbaren Kontakts zum anwaltlich
vertretenen Gegner verbunden ist, so zeigt sich, dass das Umgehungsverbot den betroffenen Rechtsanwälten
grundsätzlich auch zumutbar ist.
50
2. Ungeachtet der hiernach verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden rechtlichen Grundlage verletzen die
angegriffenen Entscheidungen des Vorstandes der Rechtsanwaltskammer und des Anwaltsgerichts den
Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG. Die Auslegung des
Umgehungsverbots, die der Erteilung der Rüge zugrunde liegt, berücksichtigt nicht hinreichend Bedeutung und
Tragweite der durch Art. 12 Abs. 1 GG garantierten Freiheit der Berufsausübung. Für die daneben von dem
Beschwerdeführer gerügte Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG durch das Anwaltsgericht ist hingegen nichts
ersichtlich.
51
a) Der Zweck des Umgehungsverbots, die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege insbesondere durch den Schutz des
gegnerischen Mandanten vor Überrumpelung zu fördern, liegt sowohl der Satzungsermächtigung als auch der
Rechtfertigung des Eingriffs in die Berufsfreiheit zugrunde. Hingegen lässt sich der Bundesrechtsanwaltsordnung
keine Ermächtigung entnehmen, Berufspflichten zur Stärkung der Kollegialität unter Rechtsanwälten so
auszugestalten, dass die primären Verpflichtungen aus dem Vertragsverhältnis zum Mandanten zurückgedrängt oder
abgeschwächt werden (vgl. BVerfGE 101, 312 <328 f.>).
52
b) Das Anwaltsgericht hat seine Entscheidung damit begründet, dass die erteilte Rüge bereits durch das unkollegiale
Verhalten des Beschwerdeführers gegenüber dem gegnerischen Rechtsanwalt gerechtfertigt sei. Ob dessen
Mandantin den vom Gericht vorgeschlagenen Vergleich geschlossen habe, weil sie damit erreichte, was sie wollte,
oder ob sie das Fehlen ihres Anwalts nur hinnahm, weil sie keine Alternative sah, sei nur für die Schwere des
Verstoßes bedeutsam. Die Erteilung der Rüge, die sich nach diesen Feststellungen des Anwaltsgerichts allein auf
einen Sachverhalt stützen lässt, der eine Ahndung der Umgehung des gegnerischen Rechtsanwalts ausschließlich als
Verstoß gegen die geschuldete Kollegialität zu rechtfertigen vermag, trägt im vorliegenden Fall der wertsetzenden
Bedeutung des Grundrechts der Berufsfreiheit nicht hinreichend Rechnung.
53
aa) Soll, wie das Anwaltsgericht meint, schon allein der Vorwurf mangelnder Kollegialität für die Missbilligung des
beruflichen Verhaltens des Beschwerdeführers durch Erteilung einer Rüge genügen, so bleibt die begrenzte
Reichweite des Satzungsrechts und damit auch des § 12 Abs. 1 BORA außer Betracht. Denn die strikte Einhaltung
des Umgehungsverbots hätte von dem Beschwerdeführer verlangt, in der mündlichen Verhandlung vor Gericht keine
Vergleichsverhandlungen mit der Antragsgegnerin zu führen und insbesondere keinen Prozessvergleich
abzuschließen. Dies hätte jedoch offensichtlich dem Interesse des eigenen Mandanten an einer zügigen und
sachgerechten Beendigung des Rechtsstreits durch Abschluss eines Prozessvergleichs widersprochen. Zur Wahrung
der rechtlichen Interessen seines Mandanten war der Beschwerdeführer vertraglich verpflichtet; für ein Zurückdrängen
seiner Verpflichtungen aus dem Mandatsverhältnis kann § 12 Abs. 1 BORA keine Grundlage bieten. Unter diesen
Umständen scheidet eine berufsrechtliche Ahndung allein als Sanktion unkollegialen Verhaltens aus. Allenfalls in
Verbindung mit dem Regelungszweck der Förderung einer geordneten Rechtspflege insbesondere durch den Schutz
des gegnerischen Mandanten vor Benachteiligung könnte die Wahrung der Kollegialität unter Rechtsanwälten eine
solche Maßnahme im vorliegenden Fall rechtfertigen. Ob solcher Schutz hier geboten war, hat das Anwaltsgericht
indessen bewusst offen gelassen.
54
bb) In der gegebenen Situation lag ein Schutzbedürfnis auch nicht ohne weiteres nahe. Dem Beschwerdeführer wird
die Umgehung des Gegenanwalts bei Abschluss eines Prozessvergleichs in einer Wohnungseigentumssache
vorgeworfen. Insoweit war bereits unter der Geltung des hier maßgeblichen früheren Verfahrensrechts der freiwilligen
Gerichtsbarkeit (§ 43 WEG in der Fassung vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des
Wohnungseigentumsgesetzes und anderer Gesetze vom 26. März 2007, BGBl I S. 370) anerkannt, dass auf den
gerichtlichen Vergleich in einer Wohnungseigentumssache die Grundsätze der Zivilprozessordnung über den
Prozessvergleich entsprechende Anwendung finden (vgl. Engelhardt, in: Münchener Kommentar zum BGB, Bd. 6,
4. Aufl. 2004, § 44 WEG Rn. 3). Auch im vorliegenden Fall hatte demnach das Gericht, das am Zustandekommen des
Prozessvergleichs namentlich durch den von ihm unterbreiteten Vergleichsvorschlag und die notwendige
Protokollierung beteiligt war, darauf zu achten, dass ein unerfahrener und ungewandter Beteiligter nicht benachteiligt
wurde (vgl. Wolfsteiner, in: Münchener Kommentar zur ZPO, Bd. 3, 3. Aufl. 2007, § 794 Rn. 43). Angesichts dieser
ebenfalls auf Schutz vor Übervorteilung zielenden Obliegenheit des Gerichts und des Umstandes, dass es sich um
eine in rechtlicher wie tatsächlicher Hinsicht ersichtlich einfach gelagerte Rechtssache handelte, die auch für die
gegnerische Mandantin nicht von schwerwiegender Bedeutung war, drängt sich ein gleichwohl bestehendes
zusätzliches Schutzbedürfnis durch das Umgehungsverbot zumindest nicht auf.
III.
55
Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf dem dargestellten Verstoß gegen Art. 12 Abs. 1 GG. Es ist nicht
auszuschließen, dass die Entscheidungen anders ausgefallen wären, wenn § 12 Abs. 1 BORA im Ausgangsverfahren
grundrechtsgeleitet angewandt worden wäre. Die angegriffenen Entscheidungen sind daher aufzuheben und das
Verfahren ist an das Anwaltsgericht zurückzuverweisen.
56
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Papier
Hohmann-Dennhardt
Bryde
Gaier
Eichberger
Schluckebier
Kirchhof
Masing