Urteil des BVerfG vom 14.08.2010

BVerfG: verfassungsbeschwerde, erlass, verfahrensrechte, zulage, selbsthilfe, beratungspflicht, behörde, fremder, kopie, bibliothek

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 432/10 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn W...
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Natho,
Jahnstraße 31, 06766 Bitterfeld-Wolfen -
gegen den Beschluss des Amtsgerichts Bitterfeld-Wolfen vom 22. Dezember 2009 - 3 II
912/09 -
hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten Kirchhof
und die Richter Bryde,
Schluckebier
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S.
1473) am 14. August 2010 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe:
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Versagung von Beratungshilfe nach dem Gesetz über Rechtsberatung und
Vertretung für Bürger mit geringem Einkommen (Beratungshilfegesetz - BerHG).
I.
2
Der Beschwerdeführer beantragte beim Amtsgericht erfolglos Beratungshilfe für seinen Widerspruch wegen „falscher
Einkommensanrechnung“ bei den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch
Sozialgesetzbuch (SGB II).
3
Auf Nachfrage des Amtsgerichts zu den näheren Umständen reichte die Rechtsanwältin des Beschwerdeführers
eine Kopie des Bescheids ein, woraus sich ohne nähere Begründung ein Anrechnungsbetrag für sonstiges
Einkommen in Höhe von 63,50 € für die Monate November 2008 bis März 2009 ergab. Zusätzlich führte die
Rechtsanwältin aus, dass sich der Widerspruch gegen die Anrechnung der Eigenheimzulage als Einkommen richte.
Der Antragsteller hätte im Jahr 2009 keine Eigenheimzulage erhalten. Diese Tatsache sei vor Erlass des Bescheids
mitgeteilt worden.
4
Gegen die Zurückweisung des Antrags durch die Rechtspflegerin mit der Begründung, dass der Antragsteller die
Fakten selbst hätte vortragen können, legte der Beschwerdeführer Erinnerung durch seine Rechtsanwältin ein. Sie
wies erneut darauf hin, dass der Beschwerdeführer vor Erlass des Bescheids eine Mitteilung über die
Eigenheimzulage abgegeben habe. Selbst bei ausgezahlter Eigenheimzulage sei höchst umstritten, in welchem
Umfang diese anrechenbar sei.
5
Mit richterlichem Beschluss wurde die Erinnerung zurückgewiesen. Der Richter entschied, dass ein Bemittelter die
Einschaltung eines Anwalts vernünftigerweise nicht in Betracht gezogen hätte, weil die Einwendungen hier einfache
Tatsachenfragen darstellten, nämlich die Frage der Berücksichtigung einer im Jahre 2009 nicht gezahlten
Eigenheimzulage. Sei die Zulage nicht gezahlt worden, was der Antragsteller vortrage, so komme es auf die
Rechtsfrage der Anrechnung nicht an.
6
Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung der Rechtswahrnehmungsgleichheit
(Art. 3 Abs.1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und 3 GG). Die Anrechenbarkeit von Einkommen sei ein konkretes rechtliches
Problem. Es sei inhaltlich um die Frage gegangen, ob Beträge, die dem Beschwerdeführer nicht zugeflossen sind, als
Einkommen anzurechnen sind und auf welche Monate eine im Vorjahr ausgezahlte Eigenheimzulage als Einkommen
anrechenbar sei.
II.
7
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Annahmegründe nach § 93a Abs. 2
BVerfGG liegen nicht vor.
8
Die Rechtswahrnehmungsgleichheit fordert eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und
Unbemittelten im Bereich des gerichtlichen wie außergerichtlichen Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 122, 39 <48 f.>;
BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 11. Mai 2009 - 1 BvR 1517/08 -, NJW 2009, S. 3417).
Dabei ist der Unbemittelte einem solchen Bemittelten gleichzustellen, der bei seiner Entscheidung für die
Inanspruchnahme von Rechtsrat auch die hierdurch entstehenden Kosten berücksichtigt und vernünftig abwägt. Ein
kostenbewusster Rechtsuchender wird dabei insbesondere prüfen, inwieweit er fremde Hilfe zur effektiven Ausübung
seiner Verfahrensrechte braucht oder selbst dazu in der Lage ist.
9
Die Frage nach der Selbsthilfe mag einfachrechtlich im Rahmen des Beratungshilfegesetzes umstritten sein
(generell ablehnend Schoreit, in: Schoreit/Groß, Beratungshilfe und Prozesskostenhilfe, 9. Aufl. 2008, § 1 Rn. 52; für
Berücksichtigung im Rahmen eines allgemeinen Rechtsschutzinteresses: Kalthoener/Büttner/Wrobel-Sachs,
Prozesskostenhilfe und Beratungshilfe, 4. Aufl. 2005, Rn. 954, 960). Unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten
ist aber jedenfalls kein Verstoß gegen das Gebot der Rechtswahrnehmungsgleichheit erkennbar, wenn ein Bemittelter
deshalb die Einschaltung eines Anwalts vernünftigerweise nicht in Betracht ziehen würde.
10
Bei der Bewertung dieser Frage hat das Amtsgericht eine Abwägung im Einzelfall zu treffen. Pauschale Verweise
auf die Beratungspflicht der Behörde sind insbesondere dann verfassungsrechtlich zu beanstanden, wenn die
behördliche Beratung wegen Identität von Ausgangs- und Widerspruchsbehörde unzumutbar ist (vgl. BVerfG, NJW
2009, S. 3417).
11
Betrifft der Widerspruch jedoch nach dem Vortrag des Beschwerdeführers lediglich einen - gegebenenfalls
wiederholten - Hinweis auf eine einfach gelagerte Frage zum Sachverhalt, so widerspricht die Wertung des
Amtsgerichts, dass ein Bemittelter die Einwände selbst vorgetragen hätte, der Rechtswahrnehmungsgleichheit nicht.
12
Das Bundesverfassungsgericht kann die Wertung des Amtsgerichts nur daraufhin überprüfen, ob es die Bedeutung
oder Reichweite der Rechtswahrnehmungsgleichheit verkannt hat. Dabei ist von dem Vortrag auszugehen, den das
Amtsgericht seiner Entscheidung zugrunde legen konnte. Geht aus dem rechtlichen und tatsächlichen Vortrag eines
vertretenen Beschwerdeführers vor dem Amtsgericht auch nach dessen Nachfrage nicht hinreichend hervor, dass der
Antragsteller für seine Rechtswahrnehmung fremder Hilfe bedarf, so kommt es auf weitergehenden Vortrag in der
Verfassungsbeschwerde nicht mehr an. Der Beschwerdeführer hat dann die Anforderungen des
Subsidiaritätsgrundsatzes nicht erfüllt. Dieser erfordert, dass der Beschwerdeführer alles getan hat, um Abhilfe im
fachgerichtlichen Verfahren zu erhalten (vgl. BVerfGE 66, 337 <364>; 81, 22 <27 f.>).
13
Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
14
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Kirchhof
Bryde
Schluckebier