Urteil des BVerfG vom 11.07.2006

BVerfG: gerichtshof der europäischen gemeinschaften, vgg, vergabe von öffentlichen aufträgen, koalitionsfreiheit, allgemeinverbindlicherklärung, vergabe von aufträgen, beteiligung am verfahren

Entscheidungen
L e i t s ä t z e
zum Beschluss des Ersten Senats vom 11. Juli 2006
- 1 BvL 4/00 -
1. Bei strittiger gemeinschaftsrechtlicher und verfassungsrechtlicher Rechtslage gibt es keine feste Rangfolge
unter den vom Gericht gegebenenfalls einzuleitenden Zwischenverfahren (Vorabentscheidung nach Art. 234 EG
und Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG).
2. Die Tariftreueregelung des § 1 Abs. 1 Satz 2 VgG Bln berührt das Grundrecht der Koalitionsfreiheit aus Art. 9
Abs. 3 GG nicht und verletzt nicht das Grundrecht der Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvL 4/00 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
zur verfassungsrechtlichen Prüfung,
ob § 1 Abs. 1 Satz 2 des Berliner Vergabegesetzes vom 9. Juli 1999 (GVBl S. 369) mit dem Grundgesetz und mit
dem übrigen Bundesrecht vereinbar ist,
- Aussetzungs- und Vorlagebeschluss des Bundesgerichtshofs vom 18. Januar 2000 (KVR 23/98) -
hat das Bundesverfassungsgericht - Erster Senat - unter Mitwirkung
des Präsidenten Papier,
der Richterin Haas,
des Richters Steiner,
der Richterin Hohmann-Dennhardt
und der Richter Hoffmann-Riem,
Bryde,
Gaier,
Eichberger
am 11. Juli 2006 beschlossen:
§ 1 Absatz 1 Satz 2 des Berliner Vergabegesetzes ist mit dem Grundgesetz und mit dem übrigen Bundesrecht
vereinbar.
Gründe:
A.
1
Die Vorlage betrifft die Frage, ob die Regelung des § 1 Abs. 1 Satz 2 des Berliner Vergabegesetzes vom 9. Juli
1999 (GVBl S. 369), nach der die Vergabe öffentlicher Aufträge unter anderem im Baubereich von so genannten
Tariftreueerklärungen der Auftragnehmer abhängig gemacht wird, verfassungsgemäß ist.
I.
2
§ 1 des Berliner Vergabegesetzes (im Folgenden: VgG Bln) hat folgenden Wortlaut:
3
(1) Aufträge von Berliner Vergabestellen im Sinne des § 98 des Gesetzes gegen
Wettbewerbsbeschränkungen in der Fassung der Bekanntmachung vom 26. August 1998
(BGBl. I S. 2546) über Bauleistungen sowie über Dienstleistungen bei Gebäuden und
Immobilien werden an fachkundige, leistungsfähige und zuverlässige Unternehmen vergeben.
Die Vergabe von Bauleistungen sowie von Dienstleistungen bei Gebäuden und Immobilien soll
mit der Auflage erfolgen, dass die Unternehmen ihre Arbeitnehmer bei der Ausführung dieser
Leistungen nach den jeweils in Berlin geltenden Entgelttarifen entlohnen und dies auch von
ihren Nachunternehmern verlangen.
4
(2) Von der Teilnahme an einem Wettbewerb um einen Bauauftrag oder Dienstleistungsauftrag
im Sinne des Absatzes 1 sollen Bewerber bis zu einer Dauer von zwei Jahren ausgeschlossen
werden, die ihre Arbeitnehmer entgegen einer Auflage nach Absatz 1 Satz 2 nicht nach den
jeweils in Berlin geltenden Entgelttarifen entlohnen.
5
In der Gesetzesbegründung (Abgeordnetenhaus von Berlin, Drucks 13/3726, S. 2) ist dazu ausgeführt, dass die
klassischen Vergabekriterien Fachkunde, Leistungsfähigkeit und Zuverlässigkeit um den Aspekt der Tariftreue
ergänzt werden sollten, um die Leistungsfähigkeit der Berliner Bauunternehmen zu erhalten und zugleich ausbildende
Betriebe zu stärken. Die Ausgestaltung als Soll-Vorschrift meine eine Bindung an die in Berlin geltenden Lohn- und
Gehaltstarife. "Nur im Ausnahmefall (etwa auf Seiten Berlins Marktbeherrschung)" dürfe von dem Verlangen nach
Einhaltung der Tarife abgewichen werden. Zur Vermeidung eines Verstoßes gegen die negative Koalitionsfreiheit
werde klargestellt, dass die Unternehmen nicht allgemein, sondern nur bei der Ausführung der beauftragten Leistungen
zur Bezahlung der in Berlin geltenden Entgelttarife verpflichtet seien.
6
Die örtlichen Tarifentgelte, zu deren Zahlung sich die Unternehmen mit der Tariftreueerklärung verpflichten sollen,
liegen höher als die tariflichen Mindestlöhne nach dem Tarifvertrag zur Regelung der Mindestlöhne im Baugewerbe,
der zurzeit in der Fassung vom 29. Juli 2005 gilt und aufgrund der Fünften Verordnung über zwingende
Arbeitsbedingungen im Baugewerbe vom 29. August 2005 (BAnz Nr. 164 vom 31. August 2005, S. 13199) bundesweit
verbindlich ist.
7
Ähnliche gesetzliche Tariftreueregelungen gibt es auch in anderen Bundesländern.
II.
8
Auf Bundesebene gab der Gesetzgeber unter dem Einfluss des europäischen Gemeinschaftsrechts mit dem am 1.
Januar 1999 in Kraft getretenen Gesetz zur Änderung der Rechtsgrundlagen für die Vergabe öffentlicher Aufträge
(Vergaberechtsänderungsgesetz - VgRÄG) vom 26. August 1998 (BGBl I S. 2512) den traditionellen
verwaltungsinternen Ansatz des deutschen Vergaberechts für Aufträge ab bestimmten Schwellenwerten auf. Das
materielle Vergaberecht wurde insoweit in das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) integriert.
9
§ 97 Abs. 4 GWB enthält die für die öffentliche Auftragsvergabe maßgebenden Kriterien:
10
Aufträge werden an fachkundige, leistungsfähige und zuverlässige Unternehmen vergeben;
andere oder weitergehende Anforderungen dürfen an Auftragnehmer nur gestellt werden, wenn
dies durch Bundes- oder Landesgesetz vorgesehen ist.
11
Die Regelung des § 97 Abs. 4 2. Halbsatz GWB beruht auf einem Kompromiss zwischen Bundestag und Bundesrat.
In dem von der Bundesregierung vorgelegten Entwurf des Vergaberechtsänderungsgesetzes (BTDrucks 13/9340, S.
4) lautete die entsprechende Vorschrift noch wie folgt:
12
Aufträge werden an fachkundige, leistungsfähige und zuverlässige Unternehmen vergeben;
weitergehende Anforderungen dürfen an Auftragnehmer nur gestellt werden, wenn dies durch
Bundesgesetz vorgesehen ist.
Bundesgesetz vorgesehen ist.
13
Der Bundesrat war damit nicht einverstanden, weil die Beschränkung auf Bundesgesetze die Unzulässigkeit der von
den Ländern teilweise durch Gesetz oder Verordnung, teilweise durch Verwaltungsvorschrift eingeführten Regelungen,
insbesondere der Tariftreueerklärung, zur Folge gehabt hätte. Er schlug daher vor, den zweiten Halbsatz wie folgt neu
zu fassen (BTDrucks 13/9340, S. 35 f.):
14
...; andere oder weitergehende Anforderungen dürfen an Auftragnehmer nur gestellt werden,
wenn dies durch Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Bundes und der Länder vorgesehen
ist.
15
In der Gegenäußerung der Bundesregierung (BTDrucks 13/9340, S. 48) wurde diesem Vorschlag widersprochen, da
die gesetzliche Regelung faktisch unverbindlich würde, wenn sie durch bloße Verwaltungsvorschriften außer Kraft
gesetzt werden könnte. Das Gesetz wurde im Deutschen Bundestag entsprechend dem Entwurf der Bundesregierung
beschlossen. Der Bundesrat begründete die anschließende Anrufung des Vermittlungsausschusses wie folgt
(BTDrucks 13/10711, S. 1):
16
Die Beschränkung auf Bundesgesetze hätte u.a. die Unzulässigkeit der von den Ländern
teilweise durch Gesetz oder Verordnung, teilweise durch Verwaltungsvorschrift eingeführten
Regelungen zur Folge. Eine gesetzliche Öffnungsklausel, die etwa eine angemessene
Berücksichtigung von tarifvertragstreuen, ausbildenden und frauenfördernden Betrieben
möglich macht, ist erforderlich.
17
Bundestag und Bundesrat einigten sich im Vermittlungsausschuss schließlich darauf, dass zusätzliche
Vergabekriterien auf der Grundlage von Bundes- oder Landesgesetzen zulässig sein sollten.
III.
18
1. Bereits vor dem Inkrafttreten des Berliner Vergabegesetzes forderte das Land Berlin bei der Vergabe öffentlicher
Bauaufträge Tariftreueerklärungen von den Bietern. Das Bundeskartellamt hat dies für den Bereich des Straßenbaus
mit Beschluss vom 3. November 1997 untersagt. Die gegen die Untersagung gerichtete Beschwerde des Landes hat
das Kammergericht zurückgewiesen (Beschluss vom 20. Mai 1998 - Kart 24/97 -, ZIP 1998, S. 1600). Während des
Rechtsbeschwerdeverfahrens vor dem Bundesgerichtshof ist das Berliner Vergabegesetz in Kraft getreten.
19
2. Der Bundesgerichtshof hat das Verfahren gemäß Art. 100 Abs. 1 GG ausgesetzt und dem
Bundesverfassungsgericht die Frage zur Entscheidung vorgelegt,
20
ob § 1 Abs. 1 Satz 2 des Berliner Vergabegesetzes mit Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, mit Art. 31
GG - in Verbindung mit § 5 TVG und in Verbindung mit § 20 Abs. 1 GWB - sowie mit Art. 9
Abs. 3 GG vereinbar ist.
21
Der Bundesgerichtshof ist von der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes überzeugt. Die Entscheidung über die
Rechtsbeschwerde hänge von der Wirksamkeit der Norm ab.
22
a) Bleibe die Regelung des § 1 Abs. 1 Satz 2 VgG Bln als ungültig außer Betracht, verstoße das Verlangen nach
Abgabe einer Tariftreueerklärung bei der Vergabe öffentlicher Straßenbauaufträge durch das Land Berlin, das in
diesem Bereich eine marktbeherrschende Stellung besitze, gegen § 20 Abs. 1 GWB. Die Ungleichbehandlung der
nicht tarifgebundenen Anbieter, die keine Tariftreueerklärung abgäben, sei dann als sachlich nicht gerechtfertigt und
ihre Behinderung als unbillig zu beurteilen. Dies ergebe die Abwägung der Interessen der Beteiligten unter
Berücksichtigung der auf die Freiheit des Wettbewerbs gerichteten Zielsetzung des Gesetzes gegen
Wettbewerbsbeschränkungen.
23
Ziel der Tariftreueerklärung sei, den tarifvertraglich nicht gebundenen Arbeitgebern, die sich uneingeschränkt
rechtmäßig verhielten, wenn sie ihren Arbeitnehmern zwar den Mindestlohn, nicht aber die höheren Berliner Tariflöhne
zahlten, über die Regelungen des Mindestlohntarifvertrags hinaus die Berliner Tariflöhne vorzuschreiben. Die an die
örtlichen Entgelttarifverträge gebundenen Berliner Anbieter würden gegenüber tarifungebundener Konkurrenz
geschützt. Die beanstandete Maßnahme führe zu einer Abschottung des Berliner Marktes vor rechtmäßiger
Konkurrenz. Auf diese Weise solle - ohne das im Tarifvertragsgesetz vorgesehene Instrument der
Allgemeinverbindlicherklärung (§ 5 TVG) einsetzen zu müssen - verhindert werden, dass die Berliner Tariflöhne
aufgrund des bestehenden Wettbewerbsdrucks gesenkt werden müssten.
24
Das Interesse des Landes, die Arbeitslosigkeit in Berlin zu bekämpfen und die heimischen Anbieter zu stärken,
rechtfertige sein Verhalten nicht. Auch der im Gemeinwohl liegende Zweck der Vermeidung weiterer Arbeitslosigkeit
dürfe nicht mit einem Mittel verfolgt werden, das mit der auf die Freiheit des Wettbewerbs gerichteten Zielrichtung des
Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen unvereinbar sei. Es stelle eine klassische protektionistische
Maßnahme dar, wenn das Land die tarifgebundenen Berliner Straßenbauunternehmen dadurch vor dem Wettbewerb
meist auswärtiger tarifungebundener Wettbewerber schütze, dass es diese zwinge, ihren rechtmäßig erzielten
Kostenvorteil aufzugeben, den sie aufgrund niedrigerer Löhne genössen.
25
b) Müsste hingegen von der Gültigkeit der Regelung des § 1 Abs. 1 Satz 2 VgG Bln ausgegangen werden, so wäre
die Untersagungsverfügung des Bundeskartellamts nach Auffassung des Bundesgerichtshofs aufzuheben.
26
Da es auf die Rechtslage zum Zeitpunkt der Entscheidung ankomme, sei auch die zwischenzeitlich in Kraft
getretene landesrechtliche Bestimmung für die Beurteilung des dem Land untersagten Verhaltens heranzuziehen. § 1
Abs. 1 Satz 2 VgG Bln schreibe den Vergabestellen die Forderung einer Tariftreueerklärung vor, ohne danach zu
unterscheiden, ob das Land als Nachfrager nach Bauleistungen eine marktbeherrschende Stellung innehabe und
deswegen Normadressat des § 20 Abs. 1 GWB sei. Seien die Vergabestellen aber zu dem fraglichen Verhalten durch
ein gültiges Gesetz verpflichtet, könne hierin kein Verstoß gegen das kartellrechtliche Diskriminierungsverbot liegen.
Einem Verhalten, das gesetzlich geboten sei, fehle es niemals am sachlich gerechtfertigten Grund.
27
Die Bestimmung des § 1 Abs. 1 Satz 2 VgG Bln enthalte ein solches gesetzliches Handlungsgebot, obwohl es sich
nur um eine Soll-Vorschrift handele. Solche Normen verpflichteten die Behörden, grundsätzlich so zu verfahren, wie
es im Gesetz bestimmt sei. Im Regelfall bedeute das "Soll" daher ein "Muss". Es könne nicht davon ausgegangen
werden, dass das Berliner Vergabegesetz die Vergabestellen immer dann von dem Gebot ausnehme, wenn dem Land
wegen seiner marktbeherrschenden Stellung als Normadressaten des § 20 Abs. 1 GWB die Forderung einer
Tariftreueerklärung kartellrechtlich untersagt sei. Das Gesetz sehe eine solche Ausnahme nicht vor. Die Bemerkung
in der Begründung des Gesetzentwurfs, in Ausnahmefällen, etwa bei einer marktbeherrschenden Stellung des Landes,
dürfe von dem Verlangen nach Einhalten der Tarife abgesehen werden, habe im Gesetz keinen hinreichenden
Ausdruck gefunden.
28
Auf die Vereinbarkeit von § 1 Abs. 1 Satz 2 VgG Bln mit dem Grundgesetz oder mit Bundesrecht käme es daher nur
dann nicht an, wenn die Regelung ohnehin mit Blick auf vorrangige gemeinschaftsrechtliche Bestimmungen keine
Anwendung finden könnte. Hiervon könne indessen nicht ausgegangen werden, ohne zunächst ein
Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften zu richten. Die Frage, ob § 1
Abs. 1 Satz 2 VgG Bln mit der Dienstleistungsfreiheit des Art. 49 EG und mit den gemeinschaftsrechtlichen
Vergaberichtlinien vereinbar sei, könne der Bundesgerichtshof nicht abschließend entscheiden. Für ein
Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften bestehe jedoch im Hinblick
darauf keine Veranlassung, dass die Bestimmung des § 1 Abs. 1 Satz 2 VgG Bln nach Auffassung des
Bundesgerichtshofs ohnehin nicht gültig sei.
29
c) Die Vorschrift des § 1 Abs. 1 Satz 2 VgG Bln sei verfassungswidrig.
30
aa) Dem Land Berlin fehle für eine Regelung, die der Sache nach auf eine teilweise Allgemeinverbindlicherklärung
bestimmter Tarifverträge hinauslaufe, die Gesetzgebungszuständigkeit. Bei der Bestimmung des § 1 Abs. 1 Satz 2
VgG Bln handele es sich um eine tarifrechtliche Regelung. Sie bewirke, dass bestimmte für Berlin geltende
Tarifverträge auch von Arbeitgebern und Arbeitnehmern eingehalten werden müssten, die nicht an diese Tarifverträge
gebunden seien. Das Tarifrecht falle unter die allgemeine Kompetenzzuweisung für das Arbeitsrecht in Art. 74 Abs. 1
Nr. 12 GG; es zähle damit zur konkurrierenden Gesetzgebung. Der Bund habe, was das Tarifrecht angehe, von seiner
konkurrierenden Zuständigkeit mit der Verabschiedung des Tarifvertragsgesetzes abschließend Gebrauch gemacht.
Dieses Gesetz enthalte in § 5 gerade auch eine umfassende Regelung über die Allgemeinverbindlicherklärung von
Tarifverträgen. Aus § 97 Abs. 4 2. Halbsatz GWB lasse sich eine über die Bestimmungen des Grundgesetzes
hinausgehende Gesetzgebungskompetenz des Landes für das fragliche Gesetz nicht ableiten. Die Gesetz gewordene
Kompromissformel habe sich allein auf die Form bezogen, die für eine Regelung vergabefremder Kriterien einzuhalten
sei. Im Hinblick auf die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben und unter Berücksichtigung der im
Gesetzgebungsverfahren zutage getretenen Unterschiede in der materiell-rechtlichen Bewertung sei auszuschließen,
dass den Ländern für die Festlegung vergabefremder Kriterien eine umfassende Gesetzgebungskompetenz habe
zugebilligt werden sollen.
31
bb) Selbst wenn das Land Berlin über eine Gesetzgebungskompetenz für die Regelung in § 1 Abs. 1 Satz 2 VgG Bln
verfügen sollte, bestünden im Hinblick auf entgegenstehende bundesrechtliche Bestimmungen durchgreifende
Bedenken gegen die Gültigkeit der Norm (Art. 31 GG).
32
§ 1 Abs. 1 Satz 2 VgG Bln führe zu einer weitgehenden Allgemeinverbindlichkeit der Berliner Tariflöhne auf
bestimmten Märkten, auf denen die meisten Aufträge von der öffentlichen Hand vergeben würden. Eine derartige
Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen sei nach § 5 TVG an Voraussetzungen materieller und formeller Art
geknüpft. Insbesondere könne die entsprechende, einen Akt der Rechtsetzung darstellende Erklärung nur im
Einvernehmen mit dem Tarifausschuss und nach Anhörung der betroffenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer abgegeben
werden (§ 5 Abs. 1 und 2 TVG). Ein Landesgesetz, durch das ein bestimmter Tarifvertrag für allgemeinverbindlich
erklärt werde, verstoße gegen diese bindende bundesrechtliche Regelung.
33
Soweit die Regelung des § 1 Abs. 1 Satz 2 VgG Bln Geltung auch für den Fall beanspruche, dass das nachfragende
Land eine marktbeherrschende Stellung einnehme, verstoße sie darüber hinaus gegen kartellrechtliche
Bestimmungen, die marktbeherrschenden Unternehmen bestimmte diskriminierende oder behindernde
Verhaltensweisen untersagten (§ 20 Abs. 1 GWB). Auch wenn die Länder nach § 97 Abs. 4 2. Halbsatz GWB
vergabefremde Anforderungen vorsehen dürften, seien sie doch gehindert, ein Verhalten zu legalisieren, das
ansonsten als kartellrechtswidrig anzusehen wäre.
34
cc) Schließlich begegne die Regelung in § 1 Abs. 1 Satz 2 VgG Bln insofern durchgreifenden verfassungsrechtlichen
Bedenken, als durch das Gebot der Tariftreue in die verfassungsrechtlich geschützte negative Koalitionsfreiheit
eingegriffen werde (Art. 9 Abs. 3 GG).
35
Durch das im Berliner Vergabegesetz ausgesprochene Gebot, Aufträge der öffentlichen Hand nur an Unternehmen
zu vergeben, die ihre Arbeitnehmer nach den in Berlin geltenden Tarifen entlohnten, würden die Wirkungen
tarifvertraglicher Regelungen auch für Außenseiter verbindlich, die sich um entsprechende Aufträge bemühten. Dem
lasse sich jedenfalls für den Bereich, in dem die öffentliche Hand als Nachfrager eine marktbeherrschende Stellung
einnehme, nicht entgegen halten, § 1 Abs. 1 Satz 2 VgG Bln zwinge keinen Anbieter, sich an Ausschreibungen des
betroffenen Landes zu beteiligen. Die Marktmacht des Straßenbauleistungen nachfragenden Landes ergebe sich
gerade daraus, dass die Marktgegenseite nicht über hinreichende Möglichkeiten verfüge, auf andere Nachfrager der
angebotenen Leistungen auszuweichen. Damit greife § 1 Abs. 1 Satz 2 VgG Bln in den durch Art. 9 Abs. 3 GG
geschützten Bereich ein. Das Gesetz nötige die tarifungebundenen Anbieter, sich in einem ihre Wettbewerbsfähigkeit
maßgeblich beeinflussenden Punkt den tarifvertraglichen Bestimmungen zu unterwerfen. Die Regelung des § 1 Abs. 1
Satz 2 VgG Bln mache diese Ausdehnung der Verbindlichkeit tarifvertraglicher Bestimmungen auf ungebundene Dritte
von keinen sachlichen Voraussetzungen abhängig. Auch das Verfahren biete keine Gewähr dafür, dass die Interessen
der Außenseiter berücksichtigt würden.
IV.
36
Zu den Vorlagefragen haben der Senat von Berlin, das Abgeordnetenhaus von Berlin, die Bayerische
Staatsregierung, das Bundesverwaltungsgericht, die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, der
Bundesverband der Deutschen Industrie, der Hauptverband der Deutschen Bauindustrie, der Deutsche
Gewerkschaftsbund und die Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt Stellung genommen.
37
1. Der Senat von Berlin hält die verfassungsrechtlichen Bedenken des Bundesgerichtshofs für unbegründet.
38
§ 1 Abs. 1 Satz 2 VgG Bln sei kompetenzgemäß zustande gekommen. Das Land habe von der Ermächtigung des
§ 97 Abs. 4 2. Halbsatz GWB Gebrauch gemacht.
39
Die zur Überprüfung gestellte Norm sei nicht wegen Unvereinbarkeit mit Bundesrecht unwirksam. Sie verstoße nicht
gegen § 20 Abs. 1 GWB. Durch § 1 Abs. 1 Satz 2 VgG Bln würden alle Auftragnehmer lediglich verpflichtet, für den
Zeitraum der Auftragsdurchführung die mit dem Auftrag beschäftigten Mitarbeiter nach den in Berlin gültigen
Entgelttarifen zu bezahlen, um eine Gleichheit der Ausgangsvoraussetzungen und Wettbewerbsbedingungen zu
schaffen. Es sei nicht zu erkennen, dass dies irgendwelche Bieter unangemessen benachteilige oder zu einer
einseitigen Bevorzugung der einheimischen Bauwirtschaft führe. Durch die Zulassung eines möglichen
"Lohndumpings" auswärtiger Bieter würden hingegen die Einkommensverhältnisse der Bevölkerung in der
Bundesrepublik Deutschland nachhaltig verschlechtert werden. Der Regelung des § 20 GWB könne
gesetzessystematisch ohnehin keine Einschränkung der Ermächtigungsnorm des § 97 Abs. 4 2. Halbsatz GWB
entnommen werden. Der vergaberechtliche Teil des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen besitze einen
eigenständigen Charakter und stelle eine geschlossene Regelung dar, die den allgemeinen Vorschriften des Gesetzes
vorgehe.
40
Mit einer Allgemeinverbindlicherklärung im Sinne des § 5 TVG sei das Tariftreueverlangen nicht vergleichbar. Die
landesrechtliche Forderung einer Tariftreueerklärung verletze auch nicht die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte
Koalitionsfreiheit. Durch § 1 Abs. 1 Satz 2 VgG Bln werde weder eine Mitgliedschaft in einer Koalition erzwungen noch
ein erheblicher Beitrittsdruck erzeugt. Wenn nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Hinweis auf
BVerfGE 55, 7 <22>) schon eine vollständige rechtliche Unterstellung unter einen Tarifvertrag durch dessen
Allgemeinverbindlicherklärung die negative Koalitionsfreiheit nicht berühre, müsse dies erst recht für die weniger
belastende Forderung einer Tariftreueerklärung gelten.
41
2. Das Abgeordnetenhaus von Berlin hat sich dieser Stellungnahme angeschlossen und ergänzend ausgeführt, dass
schon im Ansatz Bedenken gegen die Auffassung des Bundesgerichtshofs bestünden, § 1 Abs. 1 Satz 2 VgG Bln
verstoße gegen Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, weil der Bundesgesetzgeber das Tarifrecht abschließend geregelt habe. Die
Tariftreueregelung habe ihren eigentlichen normativen Gehalt vielmehr im Bereich des Vergaberechts. Jedenfalls habe
der Bundesgesetzgeber in § 97 Abs. 4 2. Halbsatz GWB einen Vorbehalt zugunsten der Landesgesetzgeber
aufgenommen.
42
Wegen des eigenständigen Charakters der vergaberechtlichen Vorschriften des Gesetzes gegen
Wettbewerbsbeschränkungen erscheine es problematisch, vergaberechtliche Vorschriften der Länder, die auf § 97
Abs. 4 GWB beruhten, am Maßstab des § 20 Abs. 1 GWB zu prüfen. Selbst wenn man § 20 Abs. 1 GWB anwende,
sei kein Verstoß gegen diese Vorschrift erkennbar. Das Land Berlin versuche, mit der vergaberechtlichen Regelung
des § 1 Abs. 1 Satz 2 VgG Bln die sozialpolitisch bedeutsame Aufgabe der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu
erfüllen. Die unterschiedliche Behandlung von Unternehmen sei unter diesem Gesichtspunkt als sachlich
gerechtfertigt anzusehen. Eine unbillige Behinderung liege darin nicht.
43
Die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte negative Koalitionsfreiheit werde durch § 1 Abs. 1 Satz 2 VgG Bln nicht
verletzt. Diese Vorschrift wirke sich nur mittelbar aus und bleibe in der Intensität ihrer Einwirkung auf die Unternehmen
hinter § 5 TVG zurück. Zudem könne die Koalitionsfreiheit zum Schutz von Gemeinwohlbelangen, denen
verfassungsrechtlicher Rang gebühre, eingeschränkt werden. Dazu gehöre das Ziel, Massenarbeitslosigkeit zu
bekämpfen.
44
3. Die Bayerische Staatsregierung hat Bedenken gegen die Zulässigkeit der Vorlage geäußert. Bei Zweifeln an der
Vereinbarkeit einer Norm mit europäischem Gemeinschaftsrecht habe der Bundesgerichtshof vorrangig eine
Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften einholen müssen.
45
Die Auffassung des Bundesgerichtshofs zur Verfassungswidrigkeit des § 1 Abs. 1 Satz 2 VgG Bln werde nicht
geteilt. Der Bund habe mit § 97 Abs. 4 GWB eine Ermächtigungsgrundlage geschaffen, die es erlaube, vergabefremde
Kriterien durch Landesgesetze zu regeln. Bundesrechtliche Bestimmungen stünden der Tariftreueregelung nicht
entgegen. Ebenso wenig werde in die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Koalitionsfreiheit eingegriffen. Ein Eingriff in
den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG wäre jedenfalls durch verfassungsrechtlich legitimierte, überwiegende
Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt. Das Ziel, tarifliche Regelungen zu stützen und die Massenarbeitslosigkeit zu
bekämpfen, habe Verfassungsrang. Demgegenüber habe das Interesse der tarifungebundenen Anbieter an der
Wahrung ihrer Unternehmens- und Wettbewerbsfreiheit geringeres Gewicht.
46
4. Für das Bundesverwaltungsgericht hat der 1. Revisionssenat mitgeteilt, er neige zu der Auffassung, das Land sei
zum Erlass der Norm zuständig gewesen. Die Regelung habe vorrangig einen vergaberechtlichen, keinen
arbeitsrechtlichen Inhalt. Eine Art Allgemeinverbindlicherklärung im Sinne des § 5 TVG könne in ihr schwerlich
gesehen werden. Auch die Regelung in § 97 Abs. 4 2. Halbsatz GWB spreche für eine Gesetzgebungskompetenz des
Landes. Angesichts des vergaberechtlichen Inhalts der angegriffenen Regelung und ihrer begrenzten Auswirkung liege
auch eine Verletzung des Art. 9 Abs. 3 GG nicht nahe.
47
5. Nach Auffassung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände ist § 1 Abs. 1 Satz 2 VgG Bln
verfassungswidrig, weil es sich dabei um eine ohne ausreichende Gesetzgebungskompetenz erlassene Regelung des
Tarifrechts handele, die im Widerspruch zu § 20 Abs. 1 GWB stehe und in unzulässiger Weise in die negative
Koalitionsfreiheit der Anbieter und die Tarifautonomie eingreife.
48
6. Auch nach Auffassung des Bundesverbands der Deutschen Industrie ist § 1 Abs. 1 Satz 2 VgG Bln nicht
kompetenzgemäß zustande gekommen. Die Regelung verletze zudem die negative Koalitionsfreiheit, sei mit § 20
Abs. 1 GWB nicht vereinbar und im Übrigen auch nicht geeignet, die arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Ziele des
Landes zu erreichen.
49
7. Der Hauptverband der Deutschen Bauindustrie hat sich der Begründung des Aussetzungs- und
Vorlagebeschlusses des Bundesgerichtshofs angeschlossen. Tariftreueregelungen, die auch von tarifungebundenen
Bietern die Beachtung der geltenden Tariflöhne forderten, seien wegen Verstoßes gegen die negative Koalitionsfreiheit
verfassungswidrig und darüber hinaus europarechtswidrig. Auch mit § 20 GWB seien sie nicht vereinbar.
50
8. Der Deutsche Gewerkschaftsbund und die Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt vertreten die Auffassung,
§ 1 Abs. 1 Satz 2 VgG Bln stehe mit dem Grundgesetz, mit dem übrigen Bundesrecht und mit europarechtlichen
Vorgaben in Einklang.
B.
51
Die Vorlage ist zulässig. Insbesondere stehen Zweifel an der Vereinbarkeit der Vorschrift mit europäischem
Gemeinschaftsrecht der konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG nicht entgegen.
52
Wenn feststeht, dass ein Gesetz dem europäischen Gemeinschaftsrecht widerspricht und deshalb wegen des
Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts nicht angewandt werden darf, ist das Gesetz nicht mehr
entscheidungserheblich im Sinne von Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG (vgl. BVerfGE 85, 191 <203 ff.>; 106, 275 <295>;
vgl. ferner für das Verfahren der Verfassungsbeschwerde BVerfGE 110, 141 <155 f.>). Ist die
gemeinschaftsrechtliche und verfassungsrechtliche Rechtslage strittig, gibt es hingegen aus der Sicht des deutschen
Verfassungsrechts keine feste Rangfolge unter den vom Fachgericht gegebenenfalls einzuleitenden
Zwischenverfahren nach Art. 234 Abs. 2, 3 EG und Art. 100 Abs. 1 GG. Zwar kann es ohne vorherige Klärung der
europarechtlichen Fragen durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften dazu kommen, dass das
Bundesverfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes überprüft, das wegen des Anwendungsvorrangs
des Gemeinschaftsrechts gar nicht angewandt werden darf. Umgekehrt bliebe aber ohne Klärung der
verfassungsrechtlichen Fragen durch das Bundesverfassungsgericht im Verfahren der Vorabentscheidung für den
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften offen, ob die Vorabentscheidung eine nach innerstaatlichen
Maßstäben im Übrigen gültige und deshalb entscheidungserhebliche Norm betrifft. In dieser Situation darf ein Gericht,
das sowohl europarechtliche als auch verfassungsrechtliche Zweifel hat, nach eigenen Zweckmäßigkeitserwägungen
entscheiden, welches Zwischenverfahren es zunächst einleitet.
53
Da die Europarechtswidrigkeit der vorgelegten Tariftreueregelung nicht feststeht, der Bundesgerichtshof aber von der
Verfassungswidrigkeit des § 1 Abs. 1 Satz 2 VgG Bln überzeugt ist, war eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG
ungeachtet der gemeinschaftsrechtlichen Fragen zulässig.
C.
54
§ 1 Abs. 1 Satz 2 VgG Bln ist mit dem Grundgesetz und mit dem übrigen Bundesrecht vereinbar.
55
Das Land Berlin war für den Erlass der Vorschrift zuständig (I.). Die Norm verstößt weder gegen Grundrechte (II.)
noch gegen sonstiges Bundesrecht (III.).
I.
56
Die Gesetzgebungskompetenz des Landes ist nach Art. 70 in Verbindung mit Art. 72 Abs. 1 GG gegeben, da die
Regelungsmaterie in die konkurrierende Zuständigkeit nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG fällt und der Bund nicht
abschließend von seinem Gesetzgebungsrecht Gebrauch gemacht hat.
57
1. Der Begriff "Recht der Wirtschaft" im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG ist weit zu verstehen (vgl. BVerfGE 5,
25 <28 f.>; 28, 119 <146>; 29, 402 <409>; 41, 344 <352>; 68, 319 <330>). Zu ihm gehören nicht nur diejenigen
Vorschriften, die sich auf die Erzeugung, Herstellung und Verteilung von Gütern des wirtschaftlichen Bedarfs
beziehen, sondern auch alle anderen das wirtschaftliche Leben und die wirtschaftliche Betätigung als solche
regelnden Normen (vgl. BVerfGE 29, 402 <409>; 55, 274 <308>). Hierzu zählen Gesetze mit wirtschaftsregulierendem
oder wirtschaftslenkendem Charakter (vgl. BVerfGE 4, 7 <13>; 68, 319 <330>).
58
Zur Regelung des Wirtschaftslebens im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG gehören auch die Vorschriften über die
Vergabe von öffentlichen Aufträgen. Diesem Rechtsgebiet sind auch gesetzliche Regelungen darüber zuzuordnen, in
welchem Umfang der öffentliche Auftraggeber bei der Vergabeentscheidung über die in § 97 Abs. 4 GWB ausdrücklich
vorgesehenen Kriterien hinaus andere oder weiter gehende Anforderungen an den Auftragnehmer stellen darf. Denn
nach den Maßstäben, die das Bundesverfassungsgericht für die Zuordnung zu den Kompetenztiteln der Art. 74 und 75
GG entwickelt hat, kommt es in erster Linie auf den Regelungsgegenstand und den Gesamtzusammenhang der
Regelung im jeweiligen Gesetz an (vgl. BVerfGE 4, 60 <67, 69 f.>; 8, 143 <148 ff.>; 68, 319 <327 f.>). Deshalb ist
nicht für jede andere oder weiter gehende Anforderung, die ein Gesetz als Kriterium für die Auftragsvergabe vorsieht,
der auf das konkrete Kriterium bezogene Kompetenztitel - etwa der für das Arbeitsrecht gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 12
GG - einschlägig.
59
Mit dem Erfordernis einer Tariftreueerklärung wird ein Kriterium für die vergaberechtliche Auswahlentscheidung
geregelt. Unmittelbar betroffen ist die Rechtsbeziehung zwischen dem öffentlichen Auftraggeber und dem Bieter,
dessen Angebotsverhalten bei der Bewerbung um einen Auftrag aus wirtschafts- und sozialpolitischen Gründen
dahingehend gesteuert werden soll, dass er sich gegenüber anderen Bewerbern keinen Vorteil durch eine
untertarifliche Vergütung seiner Arbeitnehmer verschafft. Mit der Einbeziehung eines solchen Kriteriums in die
Auswahlentscheidung wird das Ziel verfolgt, die Vergabe von Aufträgen aus bestimmten wirtschafts- und
sozialpolitischen Gründen unmittelbar zu beeinflussen. Diese Zielsetzung wird in das Vergabeverfahren integriert. Es
handelt sich um eine Sonderregelung für den Bereich der öffentlichen Beschaffung, mit der ein Kriterium für die
Vergabeentscheidung festgelegt wird, das mittelbar auf die arbeitsrechtlichen Beziehungen im Unternehmen der Bieter
Einfluss nehmen soll.
60
Für eine Charakterisierung der Bestimmung des § 1 Abs. 1 Satz 2 VgG Bln als vergaberechtliche Vorschrift spricht
auch der Regelungszusammenhang mit der Sanktionsnorm des § 1 Abs. 2 VgG Bln. Der Verstoß eines Unternehmers
gegen die Verpflichtung zur Tariftreue soll danach die spezifisch vergaberechtliche Konsequenz haben, dass er von
der Teilnahme an einem Wettbewerb um einen Bauauftrag oder Dienstleistungsauftrag bis zu einer Dauer von zwei
Jahren ausgeschlossen wird. Aus dieser Verknüpfung wird deutlich, dass es bei der Regelung der Verpflichtung zur
Tariftreue zweckgerichtet um eine Ausgestaltung der Bedingungen für die Teilnahme am Wettbewerb um eine
öffentliche Auftragsvergabe und damit um einen vergaberechtlichen Regelungsgegenstand geht.
61
2. Von dem für Vergaberegelungen einschlägigen Gesetzgebungstitel des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG hat der
Bundesgesetzgeber nicht abschließend Gebrauch gemacht.
62
Der Vorschrift des § 97 Abs. 4 2. Halbsatz GWB, nach der andere oder weiter gehende Anforderungen an
Auftragnehmer nur gestellt werden dürfen, wenn dies durch Bundes- oder Landesgesetz vorgesehen ist, ist vielmehr
zu entnehmen, dass auch aus Sicht des Bundesgesetzgebers die Regelung solcher Kriterien durch den
Landesgesetzgeber grundsätzlich möglich sein soll. Mit der in § 97 Abs. 4 2. Halbsatz GWB bestimmten Zulässigkeit
einer landesgesetzlichen Regelung ist ausweislich der Gesetzgebungsmaterialien gerade auch dem Wunsch der
Länder nach einer kompetenzrechtlichen Legitimation eigener Tariftreuevorschriften für den Bereich ihrer
Auftragsvergabe Rechnung getragen worden.
II.
63
1. § 1 Abs. 1 Satz 2 VgG Bln verstößt nicht gegen Art. 9 Abs. 3 GG.
64
Dieses Grundrecht schützt für jedermann und für alle Berufe das Recht, sich zu Koalitionen zusammenzuschließen,
aber auch die Koalition als solche und ihr Recht, durch spezifisch koalitionsgemäße Betätigung die in Art. 9 Abs. 3
GG genannten Zwecke zu verfolgen (vgl. BVerfGE 19, 303 <312>; 84, 212 <224>; 100, 271 <282>; 103, 293 <304>).
Die Tariftreueregelung des § 1 Abs. 1 Satz 2 VgG Bln lässt diesen Schutzbereich unberührt.
65
a) Durch die gesetzliche Tariftreueverpflichtung wird der Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG insbesondere nicht
unter dem Gesichtspunkt der so genannten negativen Koalitionsfreiheit berührt.
66
aa) Die Koalitionsfreiheit als individuelles Freiheitsrecht umfasst auch das Recht des Einzelnen, einer Koalition
fernzubleiben (vgl. BVerfGE 50, 290 <367>; 55, 7 <21>; 93, 352 <357>). Das Grundrecht schützt davor, dass ein
Zwang oder Druck auf die Nicht-Organisierten ausgeübt wird, einer Organisation beizutreten. Ein von einer Regelung
oder Maßnahme ausgehender bloßer Anreiz zum Beitritt erfüllt diese Voraussetzung nicht (vgl. BVerfGE 31, 297
<302>).
67
bb) Die Tariftreueverpflichtung schränkt das durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Recht der am Vergabeverfahren
beteiligten Unternehmer, der tarifvertragsschließenden Koalition fernzubleiben, nicht ein. Durch das Gesetz wird auch
kein faktischer Zwang oder erheblicher Druck zum Beitritt ausgeübt. Dass sich ein nicht tarifgebundener Unternehmer
wegen des Tariftreuezwangs veranlasst sehen könnte, der tarifvertragsschließenden Koalition beizutreten, um als
Mitglied auf den Abschluss künftiger Tarifverträge Einfluss nehmen zu können, auf die er durch die Tariftreueerklärung
verpflichtet wird, liegt fern und ist für Unternehmen mit Sitz außerhalb des Landes Berlin ohnehin ausgeschlossen. Ein
Verbandsbeitritt bislang nicht tarifgebundener Berliner Bauunternehmer würde im Übrigen dazu führen, dass sie nicht
nur bei der Ausführung des einzelnen ausgeschriebenen öffentlichen Auftrags, sondern umfassend, das heißt auch
bei der Ausführung von privaten Bauaufträgen, an die örtlichen Entgelttarifverträge gebunden wären.
68
Das Grundrecht der negativen Koalitionsfreiheit schützt nicht dagegen, dass der Gesetzgeber die Ergebnisse von
Koalitionsvereinbarungen zum Anknüpfungspunkt gesetzlicher Regelungen nimmt, wie es besonders weitgehend bei
der vom Bundesverfassungsgericht für verfassungsrechtlich zulässig angesehenen Allgemeinverbindlicherklärung von
Tarifverträgen geschieht (vgl. BVerfGE 44, 322 <351 f.>; 55, 7). Allein dadurch, dass jemand den Vereinbarungen
fremder Tarifvertragsparteien unterworfen wird, ist ein spezifisch koalitionsrechtlicher Aspekt nicht betroffen (vgl.
BVerfGE 64, 208 <213>). Gegen eine gleichheitswidrige oder unverhältnismäßige Auferlegung der Ergebnisse fremder
Koalitionsvereinbarungen ist der Unternehmer gegebenenfalls durch Art. 3 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 1 GG geschützt.
69
b) Die gesetzliche Regelung einer Tariftreueerklärung berührt auch nicht die in Art. 9 Abs. 3 GG enthaltene
Bestands- und Betätigungsgarantie der Koalitionen.
70
aa) Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit schützt auch die Koalition selbst in ihrem Bestand, ihrer organisatorischen
Ausgestaltung und ihren Betätigungen, sofern diese der Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen dienen
(vgl. BVerfGE 84, 212 <224>; 92, 365 <393>; 100, 271 <282>). Der Schutz erstreckt sich auf alle
koalitionsspezifischen Verhaltensweisen und umfasst insbesondere auch die Tarifautonomie, die im Zentrum der den
Koalitionen eingeräumten Möglichkeiten zur Verfolgung ihrer Zwecke steht (vgl. BVerfGE 88, 103 <114>; 94, 268
<283>; 103, 293 <304>).
71
Das Aushandeln von Tarifverträgen ist ein wesentlicher Zweck der Koalitionen (vgl. BVerfGE 94, 268 <283>). Der
Staat enthält sich in diesem Betätigungsfeld grundsätzlich einer Einflussnahme (vgl. BVerfGE 38, 281 <305 f.>) und
überlässt die erforderlichen Regelungen der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zum großen Teil den Koalitionen, die
sie autonom durch Vereinbarungen treffen (vgl. BVerfGE 44, 322 <340 f.>). Zu den der Regelungsbefugnis der
Koalitionen überlassenen Materien gehören insbesondere das Arbeitsentgelt und die anderen materiellen
Arbeitbedingungen (vgl. BVerfGE 94, 268 <283>; 100, 271 <282>; 103, 293 <304>).
72
bb) Weder Betätigungsfreiheit noch Bestand derjenigen Koalitionen, deren Tarifverträge infolge der
Tariftreueverpflichtung des erfolgreichen Bieters arbeitsvertraglich in Bezug genommen werden, sind betroffen.
73
Ihre sich aus der Betätigungsfreiheit ergebende Normsetzungsbefugnis ist schon deshalb nicht berührt, weil sich
dieses Recht ohnehin nur auf die tarifgebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer und nicht auf Außenseiter bezieht
(vgl. BVerfGE 44, 322 <347 f.>). Außerdem führt die Tariftreueverpflichtung auf der Grundlage des § 1 Abs. 1 Satz 2
VgG Bln nicht zu einer staatlichen Normsetzung in einem Bereich, in dem den tarifautonom gesetzten Absprachen der
Sozialpartner ein Vorrang zukommt. Die örtlichen tarifvertraglichen Entgeltabreden werden nicht kraft staatlicher
Geltungsanordnung Inhalt der Arbeitsverträge der bei der Auftragsausführung eingesetzten Mitarbeiter, sondern nach
individualvertraglicher Umsetzung der Tariftreueverpflichtung durch den Arbeitgeber. Konkurrierende
Rechtsetzungskompetenzen des Staates und der Tarifvertragsparteien treffen nicht aufeinander. Den
tarifvertragsschließenden Koalitionen erwächst deshalb aus Art. 9 Abs. 3 GG auch kein verfassungsrechtlich
geschütztes Interesse an einer Beteiligung am Verfahren der Tariftreueerklärung.
74
Die Notwendigkeit einer solchen Beteiligung der Koalitionen folgt auch nicht aus der Bestandsgarantie des Art. 9
Abs. 3 GG. Für einen solchen Schutzumfang des Art. 9 Abs. 3 GG könnte allenfalls vorgebracht werden, dass die
Erstreckung von Tarifverträgen auf Nicht-Organisierte dazu führen könnte, dass die Anreize für eine
Koalitionsmitgliedschaft gemindert werden, weil Außenseiter trotz fehlender Mitgliedschaft in den Genuss
tarifvertraglicher Regelungen gelangen. Diese eventuelle mittelbare Auswirkung der Tariftreueerklärung kann jedoch
nicht anders beurteilt werden als der im Zusammenhang mit der negativen Koalitionsfreiheit dargestellte, genau
umgekehrte, angeblich verstärkte Anreiz zum Beitritt zur tarifvertragsschließenden Koalition. Dies macht bereits den
spekulativen Charakter der Annahmen deutlich.
75
cc) Andere Koalitionen als die, deren Entgelttarifverträge durch die Umsetzung der Tariftreueverpflichtung aus § 1
Abs. 1 Satz 2 VgG Bln auch auf Außenseiterarbeitsverhältnisse Anwendung finden, werden in ihrer durch Art. 9 Abs.
3 GG geschützten Tarifautonomie nicht betroffen, weil die gesetzlich vorgeschriebene Auflage kein rechtliches
Hindernis zum Abschluss von Tarifverträgen errichtet und der Abschluss konkurrierender Tarifverträge auch nicht
faktisch unmöglich gemacht wird (vgl. BVerfGE 44, 322 <352 f.>).
76
2. § 1 Abs. 1 Satz 2 VgG Bln verstößt nicht gegen Art. 12 Abs. 1 GG.
77
a) Der Schutzgehalt der Berufsfreiheit ist berührt.
78
aa) Art. 12 Abs. 1 GG schützt vor staatlichen Beeinträchtigungen, die gerade auf die berufliche Betätigung bezogen
sind. Das Grundrecht sichert die Teilnahme am Wettbewerb im Rahmen der hierfür aufgestellten rechtlichen Regeln
(vgl. BVerfGE 105, 252 <265>). Es gewährleistet den Arbeitgebern das Recht, die Arbeitsbedingungen mit ihren
Arbeitnehmern im Rahmen der Gesetze frei auszuhandeln (vgl. BVerfGE 77, 84 <114>; 77, 308 <332>). Die
Vertragsfreiheit wird zwar auch durch das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG
gewährleistet (vgl. BVerfGE 65, 196 <210>; 74, 129 <151 f.>). Betrifft eine gesetzliche Regelung jedoch die
Vertragsfreiheit gerade im Bereich beruflicher Betätigung, die ihre spezielle Gewährleistung in Art. 12 Abs. 1 GG
gefunden hat, scheidet die gegenüber anderen Freiheitsrechten subsidiäre allgemeine Handlungsfreiheit als
Prüfungsmaßstab aus (vgl. BVerfGE 68, 193 <223 f.>; 77, 84 <118>; 95, 173 <188>). Gesetzliche Vorschriften, die
die Gestaltung der Arbeitsbeziehungen betreffen und die sich deshalb für den Arbeitgeber als
Berufsausübungsregelungen darstellen, sind daher grundsätzlich an Art. 12 Abs. 1 GG zu messen.
79
bb) Die Tariftreueregelung des § 1 Abs. 1 Satz 2 VgG Bln berührt die durch Art. 12 Abs. 1 GG gewährleistete
Vertragsfreiheit im unternehmerischen Bereich.
80
Dadurch dass das Gesetz als Voraussetzung für die erfolgreiche Teilnahme am Vergabeverfahren die Tariftreue
fordert, reguliert es nicht allgemein das Wettbewerbsverhalten der Unternehmen, sondern bewirkt eine bestimmte
Ausgestaltung der Verträge, die der Auftragnehmer mit seinen Arbeitnehmern zur Durchführung des Auftrags
abschließt. Die Unternehmen sollen hinsichtlich dieser Vertragsbedingungen nicht frei darüber entscheiden dürfen, wie
sie sich am Wettbewerb um den öffentlichen Auftrag beteiligen. Sie werden bei Ablehnung der von ihnen geforderten
Tariftreue von der Möglichkeit, ihre Erwerbschancen zu verwirklichen, ausgeschlossen, auch wenn sie sich im
Übrigen an die Vergabebedingungen halten. Auf der Grundlage des § 1 Abs. 1 Satz 2 VgG Bln werden sie zu einer
bestimmten Gestaltung ihrer Verträge mit Dritten angehalten und damit in ihrer unternehmerischen Vertragsfreiheit
berührt.
81
b) Die gesetzliche Regelung greift in das Grundrecht der Berufsfreiheit ein.
82
aa) Der Grundrechtsschutz ist nicht auf Eingriffe im herkömmlichen Sinne beschränkt (zu diesem Eingriffsbegriff
vgl. BVerfGE 105, 279 <300>). Vielmehr kann der Abwehrgehalt der Grundrechte auch bei faktischen oder mittelbaren
Beeinträchtigungen betroffen sein, wenn diese in der Zielsetzung und in ihren Wirkungen Eingriffen gleichkommen
(vgl. BVerfGE 105, 279 <303>; 110, 177 <191>; 113, 63 <76>). Durch die Wahl eines solchen funktionalen
Äquivalents eines Eingriffs entfällt die Grundrechtsbindung nicht (vgl. BVerfGE 105, 252 <273>). An der für die
Grundrechtsbindung maßgebenden eingriffsgleichen Wirkung einer staatlichen Maßnahme fehlt es jedoch, wenn
mittelbare Folgen ein bloßer Reflex einer nicht entsprechend ausgerichteten gesetzlichen Regelung sind (vgl.
BVerfGE 106, 275 <299>).
83
bb) Nach diesen Maßstäben ist in der Tariftreueregelung des § 1 Abs. 1 Satz 2 VgG Bln eine solche eingriffsgleiche
Beeinträchtigung der Berufsfreiheit zu sehen. Regelungsinhalt und Zielrichtung der Norm gehen über einen bloßen
Reflex auf Seiten der Unternehmen hinaus, auch wenn sich das Gesetz regelungstechnisch nicht an sie, sondern an
die Auftraggeber richtet und die Unternehmer, die keine Verträge mit öffentlichen Stellen abschließen wollen, nicht
vom Regelungsbereich des Gesetzes erfasst werden.
84
Die Vorschrift zielt aus wirtschafts- und sozialpolitischen Gründen darauf ab, die Arbeitgeber bei der Gestaltung ihrer
arbeitsvertraglichen Beziehungen zu einem bestimmten Verhalten zu veranlassen. Die Vergabestelle wird durch das
Gesetz ermächtigt und angesichts des Soll-Charakters der Vorschrift im Regelfall verpflichtet, von den Bewerbern um
den ausgeschriebenen Auftrag eine Tariftreueerklärung zu fordern. Der Inhalt der vom Auftragnehmer
abzuschließenden Arbeitsverträge ist damit - mittelbar - selbst schon Gegenstand der gesetzlichen Regelung, auch
wenn er den Arbeitsvertragsparteien nicht unmittelbar normativ vorgeschrieben wird. Er ist inhaltlich durch die Norm
vorgegeben, indem geregelt ist, dass die Anwendung der örtlichen Entgelttarifverträge durch die Auftragnehmer
verlangt werden soll. Mit dieser gesetzlichen Regelung soll zudem gerade erreicht werden, dass die Geltung
tarifvertraglicher Entgeltabreden ausgeweitet wird. Die Einflussnahme auf die Arbeitsbedingungen ist damit von der
Zweckrichtung des Gesetzgebers umfasst. Sie tritt nicht nur reflexartig als faktische Folge eines anderen Zielen
dienenden Gesetzes ein.
85
c) Der Eingriff in die Berufsfreiheit ist jedoch verfassungsrechtlich gerechtfertigt.
86
aa) Der Landesgesetzgeber verfolgt mit der Tariftreueregelung des § 1 Abs. 1 Satz 2 VgG Bln verfassungsrechtlich
legitime Ziele.
87
Nach der dem Gesetz zugrunde liegenden Zweckbestimmung sollen Bauunternehmen im Wettbewerb mit
Konkurrenten nicht deshalb benachteiligt sein, weil sie zur Vergütung ihrer Arbeitnehmer nach Tarif verpflichtet sind.
Die Erstreckung der Tariflöhne auf Außenseiter soll einem Verdrängungswettbewerb über die Lohnkosten
entgegenwirken. Diese Maßnahme soll zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit im Bausektor beitragen. Sie dient dem
Schutz der Beschäftigung solcher Arbeitnehmer, die bei tarifgebundenen Unternehmen arbeiten, und damit auch der
Erhaltung als wünschenswert angesehener sozialer Standards und der Entlastung der bei hoher Arbeitslosigkeit oder
bei niedrigen Löhnen verstärkt in Anspruch genommenen Systeme der sozialen Sicherheit. Durch die Festlegung auf
die zwischen den Tarifvertragsparteien ausgehandelten Entgelte wird zugleich das Tarifvertragssystem als Mittel zur
Sicherung sozialer Standards unterstützt.
88
Das Ziel, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, hat aufgrund des Sozialstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 1 GG)
Verfassungsrang. Die Verringerung von Arbeitslosigkeit ermöglicht den zuvor Arbeitslosen, das Grundrecht aus
Art. 12 Abs. 1 GG zu verwirklichen (vgl. BVerfGK 4, 356 <361>), sich durch Arbeit in ihrer Persönlichkeit zu entfalten
und darüber Achtung und Selbstachtung zu erfahren. Insofern wird das gesetzliche Ziel auch von Art. 1 Abs. 1 und
Art. 2 Abs. 1 GG getragen (vgl. BVerfGE 100, 271 <284>; 103, 293 <307>).
89
Darüber hinaus ist der mit der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit einhergehende Beitrag zur finanziellen Stabilität des
Systems der sozialen Sicherung ein Gemeinwohlbelang von hoher Bedeutung (vgl. BVerfGE 70, 1 <25 f., 30>; 77, 84
<107>; 82, 209 <230>; 103, 293 <307>).
90
Schließlich darf der Gesetzgeber die Ordnungsfunktion der Tarifverträge unterstützen, indem er Regelungen schafft,
die bewirken, dass die von den Tarifparteien ausgehandelten Löhne und Gehälter auch für Nichtverbandsmitglieder
mittelbar zur Anwendung kommen. Dadurch wird die von Art. 9 Abs. 3 GG intendierte, im öffentlichen Interesse
liegende (vgl. BVerfGE 28, 295 <304 f.>; 55, 7 <23 f.>) autonome Ordnung des Arbeitslebens durch Koalitionen
abgestützt, indem den Tarifentgelten zu größerer Durchsetzungskraft verholfen wird (vgl. BVerfGE 44, 322 <342>; 77,
84 <107>; vgl. ferner BVerfGE 92, 365 <397> m.w.N.).
91
bb) Die Verpflichtung der Bewerber um einen öffentlichen Auftrag zur Tariftreue ist ein geeignetes Mittel zur
Erreichung der mit dem Gesetz verfolgten Ziele.
92
Ein Mittel ist bereits dann im verfassungsrechtlichen Sinne geeignet, wenn mit seiner Hilfe der gewünschte Erfolg
gefördert werden kann, wobei die Möglichkeit der Zweckerreichung genügt (vgl. BVerfGE 63, 88 <115>; 67, 157
<175>; 96, 10 <23>; 103, 293 <307>). Dem Gesetzgeber kommt dabei ein Einschätzungs- und Prognosevorrang zu.
Es ist vornehmlich seine Sache, auf der Grundlage seiner wirtschafts-, arbeitsmarkt- und sozialpolitischen
Vorstellungen und Ziele unter Beachtung der Gesetzlichkeiten des betreffenden Sachgebiets zu entscheiden, welche
Maßnahmen er im Interesse des Gemeinwohls ergreifen will (vgl. BVerfGE 103, 293 <307> m.w.N.).
93
Hieran gemessen ist § 1 Abs. 1 Satz 2 VgG Bln grundsätzlich geeignet, die gesetzgeberischen Ziele zu erreichen.
Der Landesgesetzgeber durfte im Rahmen seiner Einschätzungsprärogative annehmen, dass er den
Unterbietungswettbewerb über die Lohnkosten begrenzen und auf diese Weise Arbeitslosigkeit bekämpfen kann,
indem er den Bewerbern um einen öffentlichen Auftrag die Verpflichtung zur Zahlung der Tarifentgelte auferlegt. Die
über die Tariftreueerklärung der Anbieter bewirkte Ausweitung der Tariflöhne über den Kreis der tarifgebundenen
Arbeitsvertragsparteien hinaus kann zudem zur Stärkung der Tarifautonomie beitragen.
94
cc) Die gesetzliche Tariftreueregelung ist zur Zielerreichung erforderlich.
95
Der Gesetzgeber verfügt bei der Einschätzung der Erforderlichkeit ebenfalls über einen Beurteilungs- und
Prognosespielraum (vgl. BVerfGE 102, 197 <218>). Daher können Maßnahmen, die der Gesetzgeber zum Schutz
eines wichtigen Gemeinschaftsguts für erforderlich hält, verfassungsrechtlich nur beanstandet werden, wenn nach den
ihm bekannten Tatsachen und im Hinblick auf die bisher gemachten Erfahrungen feststellbar ist, dass Regelungen,
die als Alternativen in Betracht kommen, die gleiche Wirksamkeit versprechen, die Betroffenen indessen weniger
belasten (vgl. BVerfGE 25, 1 <19 f.>; 40, 196 <223>; 77, 84 <106>).
96
Nach diesen Maßstäben bestehen gegen die Erforderlichkeit der Tariftreueregelung keine durchgreifenden
Bedenken. Es ist kein ebenso geeignetes, aber weniger belastendes Mittel erkennbar, das der Landesgesetzgeber
anstelle der gesetzlichen Tariftreueregelung hätte ergreifen können.
97
Insbesondere ist die - dem Landesgesetzgeber ohnehin nicht als Regelungsinstrument zur Verfügung stehende -
Möglichkeit, die Geltung von Tarifverträgen für Außenseiterarbeitgeber durch eine Allgemeinverbindlicherklärung nach
§ 5 TVG zu erreichen, im Vergleich mit der Tariftreueerklärung nach § 1 Abs. 1 Satz 2 VgG Bln kein milderes Mittel.
Während die Allgemeinverbindlicherklärung zu einer unmittelbaren und zwingenden Geltung des Tarifvertrags nach § 4
Abs. 1 TVG führt, wird der Arbeitgeber aufgrund der gesetzlichen Tariftreueregelung angehalten, sich selbst
gegenüber dem öffentlichen Auftraggeber zur Anwendung der tarifvertraglichen Entgeltvorschriften gegenüber seinen
Arbeitnehmern zu verpflichten. Der Bauunternehmer kann sich daher der Geltung des Tarifvertrags im Rahmen seiner
Entscheidungsfreiheit entziehen, wenn auch mit der Konsequenz, dass seine Bewerbung um den öffentlichen Auftrag
regelmäßig erfolglos bleiben wird. Die Vertragsfreiheit der Unternehmen wird durch die Tariftreueerklärung aber vor
allem deshalb weniger beeinträchtigt, weil die Tariftreuepflicht auf den einzelnen Auftrag und auf die bei der
Ausführung dieses Auftrags eingesetzten Arbeitnehmer beschränkt ist. Infolge einer Allgemeinverbindlicherklärung
müsste der Arbeitgeber seine Arbeitnehmer im Geltungsbereich des Tarifvertrags hingegen umfassend nach Tarif
entlohnen.
98
Aus diesen Gründen, im Übrigen aber auch schon mangels Kompetenz des Landesgesetzgebers, kann auch in der
Festlegung von Mindestlöhnen auf der Grundlage des Gesetzes über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen
vom 11. Januar 1952 (BGBl I S. 17) kein weniger belastender Eingriff in die Vertragsfreiheit der Bauunternehmer
gesehen werden.
99
dd) Schließlich ist die Beeinträchtigung der Berufsfreiheit durch die Tariftreuepflicht auch angemessen.
100
(1) Allerdings betrifft die den Bauunternehmen auferlegte Tariftreuepflicht durch die Einflussnahme auf die Verträge
mit Arbeitnehmern und Geschäftspartnern einen wichtigen Gewährleistungsgehalt der durch Art. 12 Abs. 1 GG
geschützten Berufsfreiheit. Die Freiheit, den Inhalt der Vergütungsvereinbarungen mit Arbeitnehmern und
Subunternehmern frei aushandeln zu können, ist ein wesentlicher Bestandteil der Berufsausübung, weil diese
Vertragsbedingungen in besonderem Maße den wirtschaftlichen Erfolg der Unternehmen bestimmen und damit für die
durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte, der Schaffung und Aufrechterhaltung einer Lebensgrundlage dienende Tätigkeit
kennzeichnend sind.
101
Das Gewicht des Eingriffs wird jedoch dadurch gemindert, dass die Verpflichtung zur Zahlung der Tariflöhne nicht
unmittelbar aus einer gesetzlichen Anordnung folgt, sondern erst infolge der eigenen Entscheidung, im Interesse der
Erlangung eines öffentlichen Auftrags eine Verpflichtungserklärung abzugeben. Die Auswirkungen der Tariftreuepflicht
sind zudem auf den einzelnen Auftrag beschränkt. Nur der Inhalt der Arbeitsverträge der bei der Ausführung dieses
Auftrags eingesetzten Arbeitnehmer wird vorgegeben, und dies auch nur für die Arbeitsstunden, in denen sie mit der
Ausführung des Auftrags beschäftigt sind.
102
(2) Die rechtfertigenden Gründe, die den Gesetzgeber zu der zur Prüfung gestellten Regelung veranlasst haben,
haben demgegenüber erhebliches Gewicht.
103
Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in Verbindung mit der Gewährleistung der finanziellen Stabilität des Systems
der sozialen Sicherung ist ein besonders wichtiges Ziel, bei dessen Verwirklichung dem Gesetzgeber gerade unter
den gegebenen schwierigen arbeitsmarktpolitischen Bedingungen ein relativ großer Entscheidungsspielraum
zugestanden werden muss (vgl. BVerfGE 103, 293 <309>). Dieser Gemeinwohlbelang, dem die Tariftreueregelung des
§ 1 Abs. 1 Satz 2 VgG Bln Rechnung zu tragen versucht, besitzt eine überragende Bedeutung (vgl. BVerfGE 100, 271
<288>).
104
Bezieht man die weiteren, diesen Zweck flankierenden, schon dargestellten Regelungsziele in die Abwägung der
betroffenen, verfassungsrechtlich geschützten Rechte und Interessen ein, so ist die vom Gesetzgeber
vorgenommene Gewichtung zugunsten der Gemeinwohlbelange nicht zu beanstanden. Die Grenze der Zumutbarkeit
ist für die Bewerber um einen öffentlichen Auftrag, die sich nur in Teilbereichen ihrer unternehmerischen Betätigung
zur Anwendung tarifvertraglicher Entgeltsätze verpflichten sollen, angesichts der überragend wichtigen Ziele der
Tariftreueregelung keineswegs überschritten.
105
3. Die auf § 1 Abs. 1 Satz 2 VgG Bln beruhende Ungleichbehandlung der Anbieter, die keine Tariftreueerklärung
abgeben und deshalb keinen Zuschlag erhalten, im Vergleich mit den Anbietern, die die Auflage nach der zur Prüfung
gestellten Vorschrift erfüllen, verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Sie ist durch die dargestellten besonders
wichtigen Gemeinwohlbelange, die den Landesgesetzgeber zu der gesetzlichen Regelung veranlasst haben,
gerechtfertigt.
III.
106
Die Vorschrift des § 1 Abs. 1 Satz 2 VgG Bln ist auch mit sonstigem Bundesrecht vereinbar und deshalb nicht nach
Art. 31 GG unwirksam.
107
1. Sie steht nicht im Widerspruch zu § 5 TVG, da die Tariftreueerklärung nicht mit der Allgemeinverbindlicherklärung
eines Tarifvertrags vergleichbar ist. Die Tariftreueerklärung ist ein neben der Allgemeinverbindlicherklärung stehendes,
weiteres Mittel, um zu erreichen, dass Außenseiterarbeitgeber Tariflöhne zahlen. Sie greift nicht in den
Regelungsbereich des § 5 TVG über, weil sie im Gegensatz zu einer Allgemeinverbindlicherklärung keine unmittelbare
und zwingende Geltung eines Tarifvertrags für alle in dessen Geltungsbereich abgeschlossenen Arbeitsverträge
bewirkt. Vielmehr begründet sie lediglich eine schuldrechtliche Verpflichtung des Unternehmers, der den Zuschlag für
einen bestimmten öffentlichen Auftrag erhält, zu einer nur punktuellen Anwendung eines Entgelttarifvertrags.
108
2. § 1 Abs. 1 Satz 2 VgG Bln verstößt auch nicht gegen § 20 Abs. 1 GWB. Auch bei marktbeherrschender Stellung
des Landes Berlin auf der Nachfrageseite bewirkt die Tariftreueerklärung keine unbillige Behinderung oder sachlich
nicht gerechtfertigte unterschiedliche Behandlung von Unternehmen auf der Anbieterseite.
109
Der Bundesgerichtshof geht bei der Begründung der Entscheidungserheblichkeit zutreffend davon aus, dass eine
Ungleichbehandlung von Anbietern dann sachlich gerechtfertigt ist, wenn eine gültige gesetzliche Vorschrift sie
anordnet. Von diesem richtigen Standpunkt ausgehend ist es aber ausgeschlossen, das rechtfertigende Gesetz selbst
an § 20 Abs. 1 GWB zu messen. Ist das Gesetz in jeder anderen Hinsicht mit dem Grundgesetz und mit Bundesrecht
vereinbar, dann stellt es auch einen Rechtfertigungsgrund für die Ungleichbehandlung im Sinne von § 20 Abs. 1 GWB
dar und schließt zugleich eine unbillige Behinderung nach dieser Vorschrift aus.
110
Darüber hinaus sprechen bei einer systematischen Auslegung und insbesondere unter Berücksichtigung der
Entstehungsgeschichte des § 97 Abs. 4 2. Halbsatz GWB gute Argumente dafür, dass die Frage anderer und weiter
gehender Anforderungen speziell im Vergaberecht geregelt wurde und dass die an dieser Stelle eingefügte Möglichkeit
zu deren Festlegung nicht durch § 20 Abs. 1 GWB wieder ausgeschlossen wird, sondern im Hinblick auf
gegebenenfalls damit verbundene Behinderungen des Wettbewerbs deren Rechtfertigung dient.
Papier
Die Richterin Haas ist aus
dem Amt ausgeschieden und
deshalb an der Unterschrift
gehindert.
Steiner
Papier
Hohmann-Dennhardt
Hoffmann-Riem
Bryde
Gaier
Eichberger