Urteil des BVerfG vom 01.02.2005
BVerfG: notwendiger verteidiger, pflichtverteidiger, belastung, verfassungsbeschwerde, reisekosten, zumutbarkeit, entziehen, rechtsstaatlichkeit, arbeitskraft, berufsausübungsfreiheit
Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 2456/04 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn W ...
gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Naumburg vom 29. November 2004 - 1 ARs
(KostR) 123/04 -
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten Hassemer,
die Richterin Osterloh
und den Richter Mellinghoff
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I
S. 1473) am 1. Februar 2005 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe:
I.
1
Der Beschwerdeführer hatte als notwendiger Verteidiger (§ 140 Abs. 2 StPO) einen Angeklagten vor dem
Amtsgericht - Schöffengericht - vertreten. Die Hauptverhandlung umfasste sieben Verhandlungstage mit einer
Gesamtdauer von 13 Stunden und 47 Minuten; die Dauer der einzelnen Termine lag zwischen 17 Minuten und 4
Stunden 25 Minuten. Seinen Antrag, nach vorheriger Erstattung von Pflichtverteidigergebühren, Reisekosten,
Abwesenheitsgeld und sonstigen Auslagen eine weitere Pauschalvergütung nach § 99 BRAGO wegen des
besonderen Umfangs der Sache festzusetzen, lehnte das Oberlandesgericht ab. Mit seiner dagegen gerichteten
Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seines Grundrechts aus Art. 12 Abs. 1 GG, weil
ihm diese Entscheidung in Anbetracht der notwendigen Vorbereitung und der einstündigen Fahrtzeit vom Kanzleisitz
zum Gerichtsort ein unzumutbares Sonderopfer abverlange.
II.
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Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen. Sie hat weder grundsätzliche
verfassungsrechtliche Bedeutung (§ 93a Abs. 2 Buchst. a BVerfGG) noch ist ihre Annahme zur Durchsetzung der
Rechte des Beschwerdeführers angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchst. b BVerfGG), denn sie ist unbegründet.
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1. a) Die Bestellung zum Pflichtverteidiger ist eine besondere Form der Indienstnahme Privater zu öffentlichen
Zwecken. Der vom Gerichtsvorsitzenden ausgewählte und beigeordnete Rechtsanwalt darf die Übernahme der
Verteidigung nicht ohne wichtigen Grund ablehnen (§ 49 in Verbindung mit § 48 Abs. 2 BRAO), sondern muss -
gegebenenfalls unter Hintansetzung anderer beruflicher Interessen - die ihm übertragene Verteidigung führen. Ein
Widerruf der Bestellung des Pflichtverteidigers ist ebenfalls nur aus wichtigem Grund zulässig (vgl. BVerfGE 39, 238
<244> m.w.N.). Zudem hat der Pflichtverteidiger im Gegensatz zum gewählten Verteidiger stets und ununterbrochen
an der Verhandlung teilzunehmen. Im Übrigen weist die Strafprozessordnung dem Pflichtverteidiger die gleichen
Aufgaben wie dem Wahlverteidiger zu (vgl. BVerfGE 68, 237 <253 f.>).
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b) Verfassungsrechtlich ist ebenfalls geklärt, dass dieser Eingriff in die Freiheit der Berufsausübung bei der
Bestellung von Pflichtverteidigern und der sich daraus ableitenden kostenrechtlichen Folge ausreichenden Gründen
des Gemeinwohls, nämlich der Sicherung der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens, dient (vgl. BVerfGE 39, 238
<241 f.>). Daher ist die in § 97 BRAGO enthaltene Begrenzung des Vergütungsanspruchs der Pflichtverteidiger durch
einen vom Gesetzgeber im Sinne des Gemeinwohls vorgenommenen Interessenausgleich, der auch das Interesse an
einer Einschränkung des Kostenrisikos berücksichtigt, gerechtfertigt, sofern die Grenze der Zumutbarkeit gewahrt ist.
In Strafsachen besonderen Umfangs, die die Arbeitskraft des Pflichtverteidigers für längere Zeit ausschließlich oder
fast ausschließlich in Anspruch nehmen, ohne dass er sich dieser Belastung entziehen könnte, gewinnt die Höhe des
Entgelts für ihn existenzielle Bedeutung. Eine Verteidigung zu den verkürzten Gebühren des § 97 BRAGO könnte
dann dem Pflichtverteidiger ein unzumutbares Opfer abverlangen. Das Grundrecht auf freie Berufsausübung (Art. 12
Abs. 1 GG) gebietet für solch besondere Fallgestaltungen eine Regelung, die es, wie § 99 BRAGO (und seit dem 1.
Juli 2004 § 51 RVG), ermöglicht, der aufgezeigten Inanspruchnahme des Pflichtverteidigers Rechnung zu tragen und
ihn entsprechend zu vergüten (vgl. BVerfGE 47, 285 <321 f.>; 68, 237 <255>), um ein angemessenes Verhältnis
zwischen Eingriffszweck und Eingriffsintensität sicherzustellen (vgl. BVerfGE 101, 331 <347>).
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Art. 12 GG verlangt deshalb auch, dass bei der im Interesse des Gemeinwohls an einer Einschränkung des
Kostenrisikos vorgenommenen Begrenzung des Auslagenerstattungsanspruchs eines Pflichtverteidigers die Grenze
der Zumutbarkeit gewahrt wird; daher darf die Nichtgewährung von Reisekosten nicht dazu führen, dass seine
Gebühren aus der Verteidigertätigkeit vollständig aufgezehrt werden (vgl. die Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten
Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Dezember 2002 - 2 BvR 2099/01 -, veröffentlicht in NJW 2003, S.
1443 und vom 24. November 2000 - 2 BvR 813/99 -, veröffentlicht in NJW 2001, S. 1269 sowie in NStZ 2001, S. 211).
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2. Hieran gemessen ist die Versagung der Pauschgebühr durch das Oberlandesgericht mit dem Grundgesetz
vereinbar, weil sie keine sachfremden Erwägungen erkennen lässt, den Bedeutungsgehalt des Grundrechts der
Berufsausübungsfreiheit nicht verkannt hat und die Grenze der kostenrechtlichen Zumutbarkeit wahrt.
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a) Die angegriffene Entscheidung entspricht den von den Fachgerichten zur Auslegung des § 99 BRAGO
entwickelten Grundsätzen. Ob eine besonders umfangreiche Sache vorliegt, bemisst sich aufgrund objektiver
Gesamtumstände nach dem zeitlichen Aufwand der Verteidigertätigkeit. Dabei sind die Dauer und die Anzahl der
einzelnen Verhandlungstage, die Terminsfolge, die Gesamtdauer der Hauptverhandlung, der Umfang und die
Komplexität des Verfahrensstoffes sowie das Ausmaß der vom Verteidiger wahrgenommenen weiteren Tätigkeiten
wie etwa die Durchführung von Mandantenbesprechungen, die Teilnahme an Haftprüfungen, polizeilichen
Vernehmungen und Anhörungen von Sachverständigen, das Führen einer umfangreichen Korrespondenz sowie die
Wahrnehmung von sonstigen Gesprächsterminen von Bedeutung (vgl. Madert, in: Gerold/Schmidt/von Eicken/Madert,
Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte, 15. Aufl. 2002, § 99, Rn. 3; Hansens, BRAGO, 8. Aufl., 1995, § 99, Rn.
4; sowie für die Folgeregelung des § 51 RVG Madert, in: Gerold/Schmidt/von Ecken/Madert/Müller-Raabe,
Rechtsanwaltsvergütungsgesetz, 2004, § 51, Rn. 13 ff.; Hartung, in: Hartung/Römermann, Praxiskommentar zum
Rechtsanwaltsvergütungsgesetz, 2004, § 51, Rn. 16; AnwK-RVG/Schneider, 2. Aufl., 2004, § 51, Rn. 19 ff.;
Göttlich/Mümmler/Rehberg/Xanke, Rechtsanwaltsvergütungsgesetz, 1. Aufl., 2004, S. 689 ff.). Hinsichtlich der Dauer
der einzelnen Verhandlungstage ist für Verfahren vor Amtsgerichten jedenfalls dann ein überdurchschnittlicher Umfang
angenommen worden, wenn sich die Sitzung über mehr als fünf Stunden erstreckt hat (vgl. Thüringisches
Oberlandesgericht, StV 1997, S. 427; OLG Dresden bei Kotz, NStZ-RR 2001, S. 289 <292>; Madert, in:
Gerold/Schmidt/von Eicken/Madert/Müller-Raabe, Rechtsanwaltsvergütungsgesetz, 2004, § 51, Rn. 18;
Göttlich/Mümmler/Rehberg/Xanke, Rechtsanwaltsvergütungsgesetz, 1. Aufl., 2004, S. 689); in einer Dauer von fünf
Stunden hat auch der Gesetzgeber eine maßgebliche Schwelle gesehen (vgl. Nm. 4110, 4116, 4122, 4128, 4134 des
Vergütungsverzeichnisses zu dem am 1. Juli 2004 in Kraft getretenen Rechtsanwaltsvergütungsgesetz). Die Anzahl
der Hauptverhandlungstage kann mit deren durchschnittlicher Dauer in Beziehung gesetzt werden (vgl. OLG Dresden,
StV 1998, S. 619; OLG Brandenburg, StV 1998, S. 92; Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, SchlHA 1995,
S. 38; OLG Bamberg, Juristisches Büro 1989, S. 965 <966>), zumal dem notwendigen Verteidiger für jeden dieser
Hauptverhandlungstage eine Terminsgebühr vergütet wird (vgl. OLG Bamberg, Juristisches Büro 1988, S. 1347;
Madert, in: Gerold/Schmidt/von Eicken/Madert/Müller-Raabe, Rechtsanwaltsvergütungsgesetz, 2004, § 51, Rn. 18;
AnwK-RVG/Schneider, 2. Aufl., 2004, § 51, Rn. 29).
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b) Von diesen Grundsätzen der fachgerichtlichen Rechtsprechung zu § 99 BRAGO, die generell einen
angemessenen Ausgleich zwischen dem anwaltlichen Erwerbsinteresse und dem mit dem Instrument der
Pflichtverteidigung verfolgten Belangen des Gemeinwohls ermöglichen, ist das Oberlandesgericht nicht in einer die
Grundrechte des Beschwerdeführers verletzenden Weise abgewichen. Es hat in der angegriffenen Entscheidung
ersichtlich auf den vom Beschwerdeführer erbrachten Gesamtaufwand abgestellt. Dabei war es hier von Verfassungs
wegen nicht daran gehindert, die Anzahl der Verhandlungstage mit deren durchschnittlicher Dauer in Beziehung zu
setzen. Auch hat der Beschwerdeführer keinen überdurchschnittlichen Vorbereitungsaufwand dargetan; ebenso wenig
ist eine besondere Belastung aus der Terminsfolge (die Verhandlungen fanden nicht öfter als an zwei Tagen in der
Woche statt), dem Aktenumfang von insgesamt 176 Blatt oder dem Verfahrensgegenstand ersichtlich. Der
Beschwerdeführer hat in dieser Angelegenheit, bei der es sich um keine Haftsache handelte, schließlich keine
übermäßige, nicht durch die Erstattung der Terminsgebühren abgegoltene Belastung aufgrund sonstiger Umstände
dargelegt.
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Eine Grundrechtsverletzung folgt hier auch nicht daraus, dass das Oberlandesgericht bei der Prüfung des Anspruchs
des Beschwerdeführers dessen Fahrtzeiten nicht berücksichtigt hat. Eine grundrechtswidrige Verkürzung seines
Anspruchs auf Auslagenerstattung scheidet aus, weil er die erforderlichen Reisekosten und Abwesenheitsgelder
erhalten hat. Ob allein die Nichtberücksichtigung des erforderlichen Zeitaufwands für die Anreise zum Gerichtsort bei
der Bemessung des Umfangs der Sache nach § 99 BRAGO zu einer Überschreitung der von Verfassungs wegen zu
beachtenden Zumutbarkeitsgrenze führen kann und unter welchen Voraussetzungen dies im Rahmen der
erforderlichen Gesamtbetrachtung anzunehmen wäre, braucht hier in Anbetracht der Umstände des Einzelfalles nicht
entschieden zu werden. Denn die durch Reisezeiten bedingte zusätzliche Belastung des Beschwerdeführers konnte
hier schon aufgrund der nicht außergewöhnlichen Fahrtzeit von höchstens einer Stunde nicht erheblich ins Gewicht
fallen, zumal seine durchschnittliche Inanspruchnahme pro Verhandlungstag auch bei Einrechnung der An- und
Abreise das übliche Maß noch nicht überschritten hätte und auch die Kompensation der höheren Anzahl der
Verhandlungstage weiterhin nicht ausgeschlossen gewesen wäre.
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Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Hassemer
Osterloh
Mellinghoff