Urteil des BVerfG vom 27.02.2002
BVerfG: unterbringung, schutz der menschenwürde, verfassungsbeschwerde, ruhezeit, zelle, rechtswidrigkeit, niedersachsen, ausstattung, wehr, grundrecht
Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 553/01 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn S...
gegen
a)
den Beschluss des Oberlandesgerichts Celle vom 9. Februar 2001 - 3 Ws 29/01
(StrVollz) -,
b)
den Beschluss des Landgerichts Hannover vom 5. Dezember 2000 - 56 StVK 119/00
-
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterin Präsidentin Limbach
und die Richter Hassemer,
Mellinghoff
gemäß § 93c in Verbindung mit §§ 93a, 93b BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993
(BGBl I S. 1473) am 27. Februar 2002 einstimmig beschlossen:
1. Die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Celle vom 9. Februar 2001 - 3 Ws 29/01 (StrVollz) - und des
Landgerichts Hannover vom 5. Dezember 2000 - 56 StVK 119/00 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem
Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben.
Die Sache wird an das Landgericht Hannover zurückverwiesen.
2. Das Land Niedersachsen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe:
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die zeitweilige Unterbringung eines Strafgefangenen zusammen mit einem
Mitgefangenen in einem Einzelhaftraum mit einer Grundfläche von rund 7,6 Quadratmetern.
I.
2
Der Beschwerdeführer verbüßt eine Freiheitsstrafe in der Justizvollzugsanstalt Hamburg-Fuhlsbüttel II. Er wurde am
12. Januar 2000 von dort nach Berlin verlegt. Ein Zwischenaufenthalt fand in der Justizvollzugsanstalt Hannover statt.
Vom 13. bis 17. Januar 2000 wurde der Beschwerdeführer dort in einer als Einzelhaftraum vorgesehenen Zelle im so
genannten Transporthaus zusammen mit einem weiteren Gefangenen untergebracht. Der Raum hatte eine
Grundfläche von etwa 7,6 Quadratmetern; ausgestattet war er mit einem Etagenbett, zwei Stühlen, einem Esstisch
und einem Schrank. An sanitären Einrichtungen waren - ohne Abtrennung - ein Waschbecken und ein Klosett
vorhanden. Der Beschwerdeführer und der Mitgefangene durften den Haftraum täglich nur für eine Stunde zum
Hofgang verlassen.
3
Gegen die gemeinschaftliche Unterbringung in dieser Zelle wandte sich der Beschwerdeführer nachträglich mit einem
Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit dieser Maßnahme an das Landgericht. Später ergänzte er seinen Antrag
um ein für künftige Fälle vorbeugendes Unterlassungsbegehren.
4
Die Justizvollzugsanstalt nahm im gerichtlichen Verfahren zur Unterbringungssituation Stellung. Es sei eine
Überbelegung ihres Transporthauses zu verzeichnen. Dort seien 81 Haftplätze vorhanden, aber dauernd 105 bis 120
Gefangene aufzunehmen. Deshalb finde immer wieder eine Belegung von Einzelhafträumen mit zwei Gefangenen
statt. Der Beschwerdeführer habe während seines Aufenthalts nicht um eine Einzelunterbringung nachgesucht.
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Das Landgericht wies den Antrag auf gerichtliche Entscheidung als unbegründet zurück. Ein Verstoß gegen das
Gebot der Einzelunterbringung während der Ruhezeit gemäß § 18 Abs. 1 Satz 1 StVollzG liege nicht vor, da § 18 Abs.
2 Satz 2 StVollzG eine vorübergehende Ausnahme gestatte, die wegen der räumlichen Verhältnisse in der
Justizvollzugsanstalt Hannover vorgelegen habe. Ein sofortiger Widerspruch des Beschwerdeführers gegen die Art
seiner Unterbringung sei nicht festzustellen.
6
Gegen diesen Beschluss wandte sich der Beschwerdeführer mit der Rechtsbeschwerde. Die an fünf Tagen jeweils
für 23 Stunden andauernde Unterbringung in einem 7,6 qm großen Haftraum mit offener Toilette gemeinsam mit einem
Mitgefangenen verletze seine Grund- und Menschenrechte und sei auch einfach-rechtlich nicht gestattet. Das
Landgericht sei auf sein diesbezügliches Vorbringen, das auf die fachgerichtliche Rechtsprechung zur
unangemessenen Zellengröße Bezug genommen habe, nicht eingegangen. Unberücksichtigt geblieben sei auch sein
Vortrag, dass er und der Mitgefangene sich heftig gegen die Unterbringung im genannten Haftraum zur Wehr gesetzt
hätten, sie aber gewaltsam dort untergebracht worden seien. Die Behauptung der Justizvollzugsanstalt, er habe sich
nicht gegen die Unterbringung ausgesprochen, treffe nicht zu. Effektiver Rechtsschutz sei infolge des Vorgehens der
Justizvollzugsanstalt während der Unterbringungszeit nicht möglich gewesen, ihm aber auch nachträglich nicht
ermöglicht worden. Das Landgericht habe zudem sein Unterlassungsbegehren übergangen.
7
Das Oberlandesgericht verwarf die Rechtsbeschwerde als unzulässig. Zwar sei die Rechtsauffassung des
Beschwerdeführers grundsätzlich zutreffend. Da es sich aber bei der gemeinschaftlichen Unterbringung während der
Ruhezeit im Rahmen eines Transports von Hamburg in die Justizvollzugsanstalt Berlin lediglich um einen Zeitraum
von fünf Tagen gehandelt habe und bei einem erneuten Transport künftig auch keine längere Verweildauer zu erwarten
sei, sei diese Unterbringungssituation unter den Ausnahmetatbestand des § 18 Abs. 2 Satz 2 StVollzG zu
subsumieren.
II.
8
Mit der Verfassungsbeschwerde macht der Beschwerdeführer die Verletzung seiner Rechte aus Art. 1 Abs. 1, 2
Abs. 1, 2 Abs. 2, 3 Abs. 1, 19 Abs. 2, 19 Abs. 4, 20 Abs. 1, 20 Abs. 3, 103 Abs. 1, 104 Abs. 1 GG geltend. Sein
Unterlassungsantrag sei in beiden Instanzen übergangen worden. Das Landgericht habe erst mit zehnmonatiger
Verzögerung entschieden. Die Fachgerichte hätten die von ihm zitierte Rechtsprechung zum Gebot der
menschenwürdigen Unterbringung von Strafgefangenen ignoriert. Sie hätten zu Unrecht in § 18 Abs. 2 Satz 2
StVollzG eine Erlaubnisnorm für die vorübergehende Unterbringung in der von ihm beanstandeten Weise gesehen. Es
gehe ihm aber nicht etwa nur um die gemeinschaftliche Unterbringung zusammen mit einem weiteren Gefangenen im
Sinne jener Vorschrift, sondern um die unangemessene Zellengröße und -ausstattung sowie die Unterbringung in
dieser Zelle für 23 Stunden am Tag.
III.
9
Das Land Niedersachsen hatte Gelegenheit zur Stellungnahme. Es hat von einer Äußerung abgesehen.
IV.
10
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung von Grundrechten
des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Sie ist auch zur Sachentscheidung
berufen, da die zulässige Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet ist. Die maßgeblichen
verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (§§ 93b Satz 1, 93c Abs. 1
Satz 1 BVerfGG).
11
1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Das Rechtsschutzinteresse ist nicht dadurch entfallen, dass die
beanstandete Unterbringungssituation nicht mehr besteht. Es ist, wie auch das Oberlandesgericht angenommen hat,
im konkreten Fall eine Wiederholungsgefahr bei weiteren Verlegungstransporten des Beschwerdeführers anzunehmen,
aus der sich sein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Art seiner Unterbringung ergibt;
darauf bezog sich auch das vorbeugende Unterlassungsbegehren an die Fachgerichte. Zudem ist nach der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei schwer wiegenden Grundrechtseingriffen davon auszugehen,
dass auch nachträglich ein Interesse an der Feststellung ihrer Rechtswidrigkeit zu bejahen ist (vgl. Beschluss des
Zweiten Senats vom 5. Dezember 2001 - 2 BvR 527/99, 1337/00 und 1777/00 -). Zwar wird im vorliegenden Fall nicht
die Freiheitsentziehung als solche beanstandet. Wohl aber richtet sich die verfassungsrechtliche Beanstandung gegen
die besonders einschneidende Art und Weise der zeitweiligen Unterbringung des Beschwerdeführers während des
Strafvollzuges. Steht insoweit eine Verletzung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) in Frage, dann muss ein
Rechtsschutzbegehren zur nachträglichen gerichtlichen Überprüfung zulässig sein. Zudem kann der vom
Beschwerdeführer aufgeworfenen Frage weit reichende Bedeutung zukommen (vgl. Dünkel/Morgenstern,
Überbelegung im Strafvollzug - Gefangenenraten im internationalen Vergleich, in: Grundfragen staatlichen Strafens,
Festschrift für Müller-Dietz, 2001, S. 133 ff.).
12
2. Die angegriffenen Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf wirksamen gerichtlichen
Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG), weil sie den von ihm vorgetragenen Verfahrensgegenstand verfehlen.
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Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gewährt Art. 19 Abs. 4 GG nicht nur das formelle
Recht und die theoretische Möglichkeit, die Gerichte anzurufen; er garantiert vielmehr auch die Effektivität des
Rechtsschutzes. Der Bürger hat einen substanziellen Anspruch auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle (vgl.
BVerfGE 35, 382 <401 f.>; 49, 329 <340 ff.>; 84, 34 <49>; 96, 27 <39>; 100, 313 <364>; 101, 397 <407>). Der
Zugang zu den staatlichen Gerichten darf nicht in einer Weise erschwert werden, die sich aus Sachgründen nicht
rechtfertigen lässt. Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gebietet daher den Gerichten, das Verfahrensrecht so anzuwenden,
dass den erkennbaren Interessen des rechtsschutzsuchenden Bürgers bestmöglich Rechnung getragen wird. Legt ein
Gericht den Verfahrensgegenstand in einer Weise aus, die das vom Antragsteller erkennbar verfolgte
Rechtsschutzziel ganz oder in wesentlichen Teilen außer Betracht lässt, so liegt darin eine Rechtswegverkürzung, die
den Rechtsschutzanspruch des Betroffenen nach Art. 19 Abs. 4 GG verletzt (vgl. Beschluss der 2. Kammer des
Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Februar 1997 - 2 BvR 2989/95 -, in juris). Ein solcher Fall
liegt hier vor.
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Das Oberlandesgericht hat die Rechtsansicht des Beschwerdeführers, wonach die beanstandete
Unterbringungssituation unter anderem gegen seine Menschenwürde verstieß, zunächst bestätigt, sodann aber die
Rechtsbeschwerde mit Hinweis auf § 18 Abs. 2 Satz 2 StVollzG als unzulässig verworfen. Dadurch ging das
Rechtsbeschwerdegericht darüber hinweg, dass bei der Belegung und Ausgestaltung der Hafträume dem Ermessen
der Justizvollzugsanstalt Grenzen durch das Recht des Gefangenen auf Achtung seiner Menschenwürde (Art. 1 Abs.
1 Satz 1 GG) gesetzt sind (vgl. OLG Frankfurt, StV 1986, S. 27 f. mit Anm. Lesting). Die Menschenwürde ist
unantastbar und kann deshalb auch nicht auf Grund einer gesetzlichen Bestimmung wie § 18 Abs. 2 Satz 2 StVollzG
eingeschränkt werden. Mit der Heranziehung des § 18 StVollzG, der sich auf die Frage der Einzel- oder
Gemeinschaftsunterbringung von Strafgefangenen in der Ruhezeit bezieht, wurde dem weiter reichenden Begehren
des Beschwerdeführers nicht Rechnung getragen. Er beanstandete nicht nur die Gemeinschaftsunterbringung in der
Ruhezeit, sondern die während seines Aufenthalts im so genannten Transporthaus 23 Stunden am Tag andauernde
Unterbringung in einem Haftraum, der hinsichtlich seiner Größe und Ausstattung nicht den Anforderungen an eine der
Menschenwürde entsprechende Unterbringung von Strafgefangenen entsprach. Diese Frage ist von § 18 StVollzG
nicht erfasst; sie ist u.a. Regelungsgegenstand des § 144 StVollzG.
15
Auch die Entscheidung des Landgerichts ist in vergleichbarer Weise am Gegenstand der Beanstandungen des
Beschwerdeführers vorbeigegangen. War das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seiner Menschenwürde
berührt, so konnte es nicht darauf ankommen, dass dies nur vorübergehend geschehen war und sich der
Beschwerdeführer in der fünftägigen Unterbringungszeit möglicherweise nicht erkennbar gegen die Unterbringung in
dem konkreten Haftraum zur Wehr gesetzt hatte; denn Achtung und Schutz der Menschenwürde ist aller staatlichen
Gewalt auferlegt (Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG).
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3. Dieser Befund führt zur Aufhebung der fachgerichtlichen Entscheidungen und zur Zurückverweisung der Sache an
das Landgericht. Die weiteren Grundrechtsrügen des Beschwerdeführers bedürfen hiernach keiner weiteren Prüfung.
V.
17
Dem Beschwerdeführer sind gemäß § 34a Abs. 2 BVerfGG die notwendigen Auslagen im Verfassungsbeschwerde-
Verfahren zu erstatten.
18
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Limbach
Hassemer
Mellinghoff