Urteil des BVerfG vom 12.02.1998

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Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 272/97 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn P...
gegen
a)
den Beschluß des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 9.
Januar 1997 - 17 A 4978/96 -,
b)
den Beschluß des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 20.
November 1996 - 17 A 4978/96 -
hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Richter Kühling,
die Richterin Jaeger
und den Richter Steiner
am 12. Februar 1998 einstimmig beschlossen:
Die Beschlüsse des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 9. Januar 1997 - 17 A 4978/96 -
und vom 20. November 1996 - 17 A 4978/96 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 3
Absatz 1 des Grundgesetzes.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe:
I.
1
Die Verfassungsbeschwerde wendet sich gegen die Ablehnung des Antrags eines verkammerten Rechtsbeistandes
auf Überlassung von Gerichtsakten in seine Geschäftsräume.
2
1. Der Beschwerdeführer ist von Beruf Rechtsbeistand und Mitglied der Rechtsanwaltskammer Köln. Ein kroatischer
Mandant hatte ihm Prozeßvollmacht für seinen Verwaltungsrechtsstreit gegen die Bundesrepublik Deutschland erteilt.
Im Oktober 1996 stellte der Beschwerdeführer beim Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen den
Antrag, ihm die Gerichtsakten in seine Geschäftsräume zur Akteneinsicht zu übersenden. Mit Schreiben vom 23.
Oktober 1996 teilte ihm der Senatsvorsitzende mit, ein Abweichen von der Regelung des § 100 Abs. 2 Satz 3 der
Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -, wonach eine Aktenübersendung in die Wohnung bzw. Geschäftsräume nur bei
Rechtsanwälten in Betracht komme, sei nicht möglich. Er werde daher um die Mitteilung gebeten, an welches Gericht
die Akten übersandt werden sollten.
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a) Mit Beschluß vom 20. November 1996 lehnte das Oberverwaltungsgericht den Antrag des Beschwerdeführers ab,
ihm die Akten zur Einsicht in seine Geschäftsräume zu überlassen. Über den Antrag habe der Senat zu entscheiden.
Für eine Ermessensentscheidung des Vorsitzenden gemäß § 100 Abs. 2 Satz 3 VwGO bestehe kein Raum, da diese
Vorschrift auf den Prozeßbevollmächtigten des Klägers keine Anwendung finde. Der Prozeßbevollmächtigte des
Klägers könne die Aktenübersendung in seine Geschäftsräume nicht gemäß § 100 Abs. 2 Satz 3 VwGO
beanspruchen, da er kein Rechtsanwalt sei. Unter einem Rechtsanwalt im Sinne dieser Vorschrift sei in gleicher
Weise wie bei § 67 Abs. 1 Satz 1 VwGO nur eine solche Person zu verstehen, die die Befähigung zum Richteramt
nach dem Deutschen Richtergesetz erlangt habe und bei einem deutschen Gericht gemäß § 18 Abs. 1 der
Bundesrechtsanwaltsordnung - BRAO - zugelassen sei. Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers sei jedoch lediglich
im Besitz einer unbeschränkten Erlaubnis nach § 1 Abs. 1 Satz 1 des Rechtsberatungsgesetzes - RBerG - und dürfe
gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 der Zweiten Verordnung zur Ausführung des Rechtsberatungsgesetzes - 2. RBerV - nur die
Berufsbezeichnung "Rechtsbeistand" führen. Eine entsprechende Anwendung von § 100 Abs. 2 Satz 3 VwGO auf
Rechtsbeistände scheide wegen des Fehlens einer planwidrigen Lücke aus. Wie § 67 Abs. 2 VwGO zeige, sei dem
Gesetzgeber bewußt gewesen, daß in den Verfahren vor dem Verwaltungsgericht und dem Oberverwaltungsgericht die
Vertretung eines Beteiligten nicht nur durch Rechtsanwälte, sondern auch durch andere Bevollmächtigte - wie
beispielsweise Rechtsbeistände - möglich sei. Es sei deshalb davon auszugehen, daß der Gesetzgeber
bevollmächtigten Rechtsbeiständen weder die Postulationsfähigkeit im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht
noch die Möglichkeit der Akteneinsicht in ihren Geschäftsräumen eingeräumt habe. Es komme deshalb nicht darauf
an, ob der Prozeßbevollmächtigte des Klägers als Rechtsbeistand in gleicher Weise wie ein Rechtsanwalt Gewähr
dafür biete, daß anläßlich der Akteneinsicht die Akten nicht vernichtet, beschädigt oder verfälscht würden. Auch
höherrangiges Recht gebiete nicht die Notwendigkeit einer Aktenüberlassung in die Geschäftsräume eines
Rechtsbeistands.
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b) Die gegen diesen Beschluß gerichtete Gegenvorstellung des Beschwerdeführers wies das Oberverwaltungsgericht
mit Beschluß vom 9. Januar 1997 zurück. Die Änderung eines rechtskräftigen Beschlusses komme nur in Betracht
bei offensichtlichen Fehlern, denen ein grober Gesetzesverstoß, insbesondere ein Verstoß gegen (Verfahrens-
)Grundrechte zugrunde liege. Die vom Beschwerdeführer vorgetragene abweichende rechtliche Auslegung des § 100
Abs. 2 Satz 3 VwGO vermöge eine offensichtliche Fehlerhaftigkeit des Senatsbeschlusses nicht zu begründen. Daß
der Beschluß gegen Grundrechte verstoße, sei nicht ersichtlich. Die mit einer Akteneinsicht bei Gericht gegenüber
einer Akteneinsicht in den eigenen Geschäftsräumen verbundenen erhöhten Aufwendungen in zeitlicher und
finanzieller Hinsicht seien von so geringem Umfang, daß sie weder für den Kläger noch für seinen
Prozeßbevollmächtigten einen Verstoß gegen Art. 3, Art. 12 und Art. 103 GG darstellten. Auch könne insoweit nicht
von einer Diskriminierung des Rechtsbeistandes gegenüber einem Rechtsanwalt gesprochen werden.
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2. Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen diese beiden Beschlüsse des
Oberverwaltungsgerichts. Er rügt unter anderem die Verletzung von Art. 3 und Art. 12 GG. Aufgrund der
Gleichwertigkeit von Rechtsanwälten und verkammerten Rechtsbeiständen müsse letzteren ebenfalls Akteneinsicht
an ihrem Geschäftssitz gewährt werden. Ein objektiver Grund für die Diskriminierung der Rechtsbeistände gegenüber
den Rechtsanwälten sei nicht gegeben. Die Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts habe zur Folge, daß der
Rechtsbeistand Arbeitszeit für die Reise zum nächsten Gericht einsetzen müsse und daß seine Mandanten mit den
Reisekosten sowie den Kosten für die auf der Geschäftsstelle anzufertigenden Kopien belastet würden. Damit werde
auch in unzulässiger Weise in seine Berufsausübung eingegriffen, da sie ihm im Vergleich zu Rechtsanwälten
erheblich erschwert würde, obwohl er denselben Pflichten unterliege wie diese.
6
3. Zu der Verfassungsbeschwerde haben sich die Bundesrechtsanwaltskammer, der Deutsche Anwaltverein und der
Bundesverband Deutscher Rechtsbeistände geäußert. Sie halten die Verfassungsbeschwerde für begründet.
II.
7
1. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an (§ 93 b BVerfGG), weil es zur
Durchsetzung des in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Gleichbehandlungsgrundsatzes aus Art. 3 Abs. 1 GG angezeigt
ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).
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2. Die zulässige Verfassungsbeschwerde führt zur Aufhebung der angegriffenen Entscheidungen. Diese verletzen
den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG. Die Voraussetzungen des § 93 c Abs. 1 Satz 1
BVerfGG liegen vor.
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a) Art. 3 Abs. 1 GG gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleichzubehandeln. Demgemäß ist dieser Grundsatz
vor allem dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen anders behandelt wird,
obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die
ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten (vgl. BVerfGE 55, 72 <88>; 58, 369 <373 f.>; 60, 123 <133 f.>; 64, 229
<239>). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts liegt eine Grundrechtsverletzung nicht nur dann
vor, wenn der Gesetzgeber mehrere Personengruppen ohne sachlichen Grund verschieden behandelt, sondern
ebenfalls dann, wenn die Gerichte im Wege der Auslegung gesetzlicher Vorschriften zu einer derartigen, dem
Gesetzgeber verwehrten Differenzierung gelangen (vgl. BVerfGE 58, 369 <374>).
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b) Mit diesen Grundsätzen ist die in der angegriffenen Entscheidung vorgenommene ungleiche Behandlung von
Rechtsanwälten und den Rechtsbeiständen alten Rechts, die Mitglieder einer Rechtsanwaltskammer sind, bei der
Entscheidung über die Aktenüberlassung in die Geschäfts- oder Wohnräume nicht vereinbar.
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aa) Die Aktenüberlassung in die Geschäfts- oder Wohnräume hat in Verwaltungsstreitverfahren vor allem den
Zweck, Chancengleichheit zwischen dem Prozeßbevollmächtigten und der beteiligten staatlichen Stelle - ursprünglich
zwischen Verteidiger und Staatsanwaltschaft in der als Vorbild dienenden Regelung von § 147 Abs. 4 StPO -
herzustellen. Denn die Durchsicht der Akten auf der Geschäftsstelle kann nur bei sehr einfach gelagerten
Sachverhalten zur Vorbereitung weiterer prozessualer Schritte genügen. Weitere Zwecke sind Arbeitserleichterung,
Ermöglichung des Einsatzes von Hilfskräften und eigener bürotechnischer Hilfsmittel sowie Zeit- und Kostenersparnis.
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Das Recht auf ungestörte Akteneinsicht dient zugleich der Rechtspflege, in deren Interesse eine gute Vorbereitung
des Verfahrens durch die Prozeßbevollmächtigten liegt. Bei der grundsätzlichen Beschränkung der Akteneinsicht auf
den Ort "Gericht" handelt es sich daher um eine Ausnahmeregelung: Eine Gefährdung der Gerichtsakten nach
äußerem Bestand und Inhalt durch Beschädigung, Verlust oder Verfälschung soll ebenso verhindert werden, wie ein
Mißbrauch der Kenntnis des Akteninhaltes. Daneben soll die gerichtsinterne Verfügbarkeit der Akten einen
reibungslosen Ablauf des Verfahrens gewährleisten, was jedoch im Hinblick auf die technischen Möglichkeiten der
Vervielfältigung nur noch von geringerer Bedeutung ist.
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Der Gesetzgeber hat daher von dieser generellen Beschränkung die Rechtsanwälte ausgenommen. Er geht davon
aus, daß die Rechtsanwälte aufgrund ihrer von gesetzlichen Pflichten geprägten Stellung innerhalb der Rechtspflege
wegen des für sie geltenden Disziplinarrechts sowie der Aufsicht durch die Rechtsanwaltskammer im Umgang mit
überlassenen Akten besonders zuverlässig sind.
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bb) Auf den Personenkreis, dem der Beschwerdeführer angehört, treffen diese Ausnahmegründe uneingeschränkt
zu. Die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, einem Kammerrechtsbeistand lediglich mit der Begründung, er
sei kein Rechtsanwalt oder Rechtslehrer, die Aktenüberlassung in seine Geschäftsräume zu versagen, enthält somit
eine ungerechtfertigte Differenzierung.
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Durch die Möglichkeit der Aufnahme in die Rechtsanwaltskammer gemäß § 209 BRAO ist seit dem Fünften Gesetz
zur Änderung der Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte vom 18. August 1980 (BGBl I S. 1503) die Stellung der
aufgenommenen Rechtsbeistände weitgehend der des Rechtsanwalts angeglichen (vgl. BVerfGE 80, 269 <282 ff.>),
da wesentliche Teile der Bundesrechtsanwaltsordnung für anwendbar erklärt wurden, indem die "verkammerten"
Rechtsbeistände den für Rechtsanwälte geltenden standesrechtlichen Pflichten unterworfen sowie der Aufsicht der
Rechtsanwaltskammer und der Anwaltsgerichte unterstellt wurden. Bei der Entscheidung über die Aufnahme in die
Kammer sind dieselben Versagungsgründe wie für die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft zu beachten. Für die
Rechtsstellung nach Aufnahme in die Kammer sowie für die Aufhebung oder für das Erlöschen der Erlaubnis gelten
nach § 209 Satz 2 BRAO sinngemäß die Vorschriften dieses Gesetzes mit Ausnahme der §§ 4 bis 6, § 12, §§ 18 bis
27, §§ 29 bis 36. Der Kammerrechtsbeistand unterscheidet sich danach hinsichtlich seiner Unabhängigkeit nicht vom
Rechtsanwalt.
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Allerdings verfügen Kammerrechtsbeistände regelmäßig über eine weniger fundierte fachliche Qualifikation als
Rechtsanwälte. Das ist indessen für die Frage der Akteneinsicht unerheblich. Es gibt keinen Grund für die Annahme,
daß sie deswegen ihre beruflichen Pflichten weniger ernst nehmen. Schon in der Entscheidung zur Sozietätsfähigkeit
von Kammerrechtsbeiständen und Anwaltsnotaren hat der Senat ausgeführt (BVerfGE 80, 269 <283 f.>), daß aus der
geringeren Qualifikation nicht auf ein geringeres Maß an Pflichtbewußtsein geschlossen werden könne. Ein
"Mißtrauensvorschuß" für den verkammerten Rechtsbeistand lasse sich mit seiner Stellung nicht vereinbaren.
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c) Dies ist in den angegriffenen Entscheidungen nicht hinlänglich beachtet worden. Wie in den Stellungnahmen der
Bundesrechtsanwaltskammer und des Deutschen Anwaltvereins ausgeführt, läßt sich § 100 Abs. 2 Satz 3 VwGO
dahin verfassungskonform auslegen, daß nach dem Ermessen des Vorsitzenden die Akten auch dem
bevollmächtigten Kammerrechtsbeistand zur Mitnahme in seine Wohnung oder in seine Geschäftsräume übergeben
werden können. Die Grenzen verfassungskonformer Auslegung werden dabei nicht überschritten. Weder aus dem
Wortlaut von § 100 VwGO noch aus dem Gesamtzusammenhang der Regelungen der Verwaltungsgerichtsordnung
läßt sich ableiten, daß ausschließlich Rechtsanwälte in den Vorzug der Aktenüberlassung kommen sollten. Auch den
Gesetzesmaterialien läßt sich nicht entnehmen, daß hier eine abschließende Regelung lediglich für Rechtsanwälte
getroffen werden sollte. Im Gegenteil weist die ausdrückliche Bezugnahme auf den Vorschlag des Anwaltvereins
(Protokoll der 178. Sitzung des BT-Ausschusses für Rechtswesen und Verfassungsrecht vom 14. Januar 1957, S. 12,
13 und Protokoll der 48. Sitzung des BT-Rechtsausschusses vom 5. Februar 1959, S. 19 jeweils unter Hinweis auf
§ 147 Abs. 4 StPO) darauf hin, daß neben den Rechtsanwälten Personen vergleichbarer Zuverlässigkeit bevorzugt
werden sollten.
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Ob im Einzelfall Gründe vorliegen, die bei einem Rechtsanwalt oder einem Kammerrechtsbeistand Zweifel an einem
zuverlässigen Umgang mit den Akten rechtfertigen, unterliegt der Beurteilung des Vorsitzenden, der hierüber nach
§ 100 Abs. 2 Satz 3 VwGO entscheidet.
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3. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen folgt aus § 34 a Abs. 2 BVerfGG.
Kühling
Jaeger
Steiner