Urteil des BVerfG vom 20.04.2007
BVerfG: vorläufiger rechtsschutz, aussetzung, verfassungsbeschwerde, wichtiger grund, körperliche unversehrtheit, erlass, hauptsache, anstalt, haftbefehl, vollziehung
Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 203/07 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn M...
gegen den Beschluss des Landgerichts Darmstadt vom 8. Januar 2007 - 2a StVK 16/07 -
und Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung und
Beiordnung des Rechtsanwalts W..., München
hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Richter Broß,
die Richterin Lübbe-Wolff
und den Richter Gerhardt
gemäß § 93c in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11.
August 1993 (BGBl I S. 1473) am 20. April 2007 einstimmig beschlossen:
1. Der Beschluss des Landgerichts Darmstadt vom 8. Januar 2007 – 2a StVK 16/07 - verletzt den
Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Artikel 19 Absatz 4 des
Grundgesetzes. Die Entscheidung wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Darmstadt zur
Entscheidung über die Kosten zurückverwiesen.
2. Das Land Hessen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
3. Damit erledigen sich die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung und auf Bewilligung von
Prozesskostenhilfe und Beiordnung des Rechtsanwalts W... aus München.
Gründe:
I.
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1. Der Beschwerdeführer befand sich in Strafhaft in der Justizvollzugsanstalt Darmstadt. Nachdem die
Staatsanwaltschaft auf die weitere Strafvollstreckung verzichtet hatte, wurde er Anfang Mai 2005 in seine Heimat
Marokko abgeschoben. Nach Wiedereinreise wurde er am 19. März 2006 festgenommen und der Justizvollzugsanstalt
Darmstadt am 22. März 2006 zur Verbüßung der Restfreiheitsstrafe zugeführt. Inzwischen bestand Haftbefehl des
Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 16. März 2006 - als Überhaft notiert - wegen des Verdachts der Begehung
zweier Vergewaltigungen in besonders schwerem Fall. Die Überhaft sollte ab dem 5. März 2007 vollstreckt werden.
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2. Ende März 2006 wurde der Beschwerdeführer gegen seinen Willen in die Justizvollzugsanstalt Kassel I verlegt.
Hiergegen wandte er sich Anfang April 2006 mit einem Antrag auf gerichtliche Entscheidung an das zuständige
Landgericht. Er machte geltend, die Aufrechterhaltung seiner sozialen Kontakte werde ebenso erschwert wie die
Vorbereitung seiner Verteidigung. Die Justizvollzugsanstalt führte demgegenüber aus, eine Verlegung sei nach § 8
Abs. 1 Nr. 2 StVollzG möglich, wenn dies aus Gründen der Vollzugsorganisation oder aus anderen wichtigen Gründen
erforderlich sei. Hier sei zum Aufnahmezeitpunkt nicht bekannt gewesen, dass gegen den Beschwerdeführer
Haftbefehl bestanden habe. Die Justizvollzugsanstalt Darmstadt sei als Anstalt der Sicherheitsstufe II lediglich zur
Vollstreckung von Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren zuständig. Aufgrund des Haftbefehls sei von einer wesentlich
höheren Freiheitsstrafe auszugehen, so dass die Verlegung in eine Anstalt der Sicherheitsstufe I erforderlich sei.
Darüber hinaus habe die Anstalt vertrauliche Hinweise erhalten, dass der Beschwerdeführer kurz vor seiner
Abschiebung erhebliche Schulden gemacht habe, die nun von verschiedenen Gefangenen eingetrieben werden sollten.
Der Beschwerdeführer selbst habe auch darum gebeten, ihn zu verlegen, insbesondere in die Justizvollzugsanstalt
Butzbach.
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Der Beschwerdeführer erwiderte, ausweislich der Gefangenenpersonalakte sei der Justizvollzugsanstalt der
Haftbefehl bekannt gewesen. Seine Verlegung in die Justizvollzugsanstalt Butzbach habe er lediglich wegen der
günstigeren Besuchszeiten beantragt. Die Vorwürfe in dem Haftbefehl bestreite er ebenso nachdrücklich wie die
behaupteten Schulden.
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3. Das Landgericht Darmstadt hob mit (nicht angegriffenem) Beschluss vom 6. Juli 2006 die Verlegungsanordnung
auf und wies die weitergehenden - auf Rückverlegung und auf Feststellung der Rechtswidrigkeit gerichteten - Anträge
zurück. Zur Begründung führte es aus: Die Verlegungsanordnung sei rechtswidrig. Es könne offenbleiben, ob dies
wegen der nur mündlichen Bekanntgabe, die zudem ohne Begründung erfolgt sei, schon aus formellen Gründen der
Fall sei. Jedenfalls rechtfertigten die vorgetragenen Gründe die Verlegung nicht. Wichtige Gründe im Sinne des § 8
Abs. 1 Nr. 2 StVollzG seien nicht solche, die auf das individuelle Verhalten eines Gefangenen oder dessen
persönliche Situation bezogen seien. Es gebe "keinen generalklauselartigen Verlegungsgrund aus wichtigem Anlass".
Daher komme die "rein spekulative Erwartung einer Verurteilung zu einer hohen Strafe in einem neuen
Ermittlungsverfahren" nicht als wichtiger Grund in Betracht. Ob die befürchteten Auseinandersetzungen mit
Mitgefangenen von einer die Belange des Gesamtvollzugs betreffenden Qualität seien, könne anhand des Vortrags
der Justizvollzugsanstalt nicht entschieden werden. Derartiges spreche aber eher für eine im Einzelnen zu
begründende Verlegung aus Behandlungsgründen nach § 8 Abs. 1 Nr. 1 StVollzG. Ob eine Verlegung nach § 85
StVollzG in Betracht komme, könne dahinstehen, da die Justizvollzugsanstalt sich auf diese Vorschrift nicht berufen
habe.
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4. Während seiner Haftzeit in der Justizvollzugsanstalt Kassel I fühlte der Beschwerdeführer sich von anderen
Gefangenen bedroht, woraufhin am 22. Juni 2006 gegen ihn besondere Sicherungsmaßnahmen angeordnet wurden.
Das daraufhin vom Beschwerdeführer angerufene Landgericht Kassel hielt mit Beschluss vom 31. Juli 2006 die
Sicherungsmaßnahmen - im Rahmen einer Kostenentscheidung - für rechtswidrig, weil Sicherungsmaßnahmen nach
§ 88 Abs. 3 StVollzG eine konkrete, von dem Gefangenen selbst ausgehende Gefahr voraussetzten.
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5. Im Juli 2006 wurde der Beschwerdeführer in die Justizvollzugsanstalt Darmstadt zurückverlegt. Seiner eigenen
Einschätzung zufolge verlief der weitere Aufenthalt zunächst "problemlos und unauffällig"; er habe versprochen, keine
Anträge nach § 109 StVollzG mehr zu stellen, wenn er Arbeit bekomme und sein Besuch am Wochenende genehmigt
würde. Nachdem der Abteilungsleiter der Justizvollzugsanstalt allerdings "sein Vertrauen missbraucht" habe, sei er -
der Beschwerdeführer - "nicht mehr kooperativ" gewesen und habe erneut Anträge auf gerichtliche Entscheidung beim
Landgericht Darmstadt gestellt.
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6. Am 22. Dezember 2006 wurde der Beschwerdeführer erneut in die Justizvollzugsanstalt Kassel I verlegt, diesmal
unter Hinweis auf die inzwischen bei der großen Strafkammer des Landgerichts erhobene Anklage vom 7. Dezember
2006. Die zu erwartende hohe Freiheitsstrafe mache eine Unterbringung in einer Anstalt der Sicherheitsstufe I
erforderlich. Der Beschwerdeführer wies darauf hin, dass die Verlegung aus den sich aus dem Beschluss des
Landgerichts Darmstadt vom 6. Juli 2006 ergebenden Gründen rechtswidrig sei; außerdem werde er in der
Justizvollzugsanstalt Kassel I bedroht.
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7. Unter dem 29. Dezember 2006 stellte der Beschwerdeführer beim Landgericht Darmstadt Antrag auf gerichtliche
Entscheidung und beantragte den Erlass einer einstweiligen Anordnung. Zur Begründung machte er geltend, durch die
Zwangsverlegung werde seine Verteidigung erschwert, er sei von der Arbeit abgelöst worden und seine Familie könne
ihn nun nicht mehr besuchen. Aus früheren - von ihm genauer bezeichneten - Gerichtsverfahren ergebe sich, dass er
in der Justizvollzugsanstalt Kassel I erhebliche Probleme mit Mitgefangenen habe und dort gefährdet sei. Diese
Probleme rührten daher, dass er in Kassel fälschlich für einen Kinderschänder gehalten werde. Wegen der Gefährdung
seiner körperlichen Unversehrtheit begehre er die unverzügliche Zurückverlegung in die Justizvollzugsanstalt
Darmstadt. Zur Glaubhaftmachung fügte er seinem Antrag die Antragserwiderung der Justizvollzugsanstalt Kassel I
vom 30. Juni 2006 im Verfahren vor dem Landgericht Kassel betreffend die Anordnung von Sicherungsmaßnahmen
bei. In dieser Antragserwiderung rechtfertigte der Leiter der Justizvollzugsanstalt Kassel I die angeordneten
Maßnahmen mit der vom Beschwerdeführer geschilderten Bedrohungssituation.
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8. Das Landgericht Darmstadt wies den Eilantrag mit angegriffenem Beschluss vom 8. Januar 2007 als unzulässig
zurück: Die vom Beschwerdeführer im Hauptsacheverfahren angegriffene Verlegung in die Justizvollzugsanstalt
Kassel I sei bereits vollzogen, so dass eine Aussetzung der Vollziehung gemäß § 114 Abs. 2 Satz 1 StVollzG bis zur
Hauptsacheentscheidung nicht mehr in Betracht komme. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 114 Abs.
2 Satz 2 StVollzG scheide ebenfalls aus, da Eilentscheidungen im Sinne dieser Vorschrift ihrer Natur nach vorläufigen
Charakter trügen und die Entscheidung in der Hauptsache nicht vorwegnehmen dürften. Eine "einstweilige
Rückverlegung" sei danach unzulässig.
II.
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1. Mit seiner rechtzeitig eingelegten Verfassungsbeschwerde macht der Beschwerdeführer geltend, in seinen
Rechten aus Art. 1, Art. 2, Art. 3, Art. 6 und Art. 19 Abs. 4 GG verletzt zu sein. Durch den weiten Anfahrtsweg sei die
Aufrechterhaltung der sozialen und familiären Bindungen gefährdet. Auch seine Verteidigung werde unzulässig
beschränkt. Er fühle sich in der Justizvollzugsanstalt Kassel I erheblich bedroht; seine körperliche Unversehrtheit sei
gefährdet. Seit seiner Verlegung befinde er sich in einem besonders gesicherten Haftraum; er wage es nicht, den
Haftraum zu verlassen, weil die Bedrohungssituation weiterhin bestehe. In Darmstadt sei er sicher untergebracht
gewesen; er habe an der Freistunde und am Sport teilnehmen und arbeiten können.
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2. Das Hessische Ministerium der Justiz hat mit Schreiben vom 19. Februar 2007 Stellung genommen. Es hat
darauf hingewiesen, der Gesichtspunkt der sicheren Unterbringung habe gegenüber Resozialisierungsgesichtspunkten
Vorrang erhalten, da man davon habe ausgehen müssen, dass der Beschwerdeführer Anfang März 2007 - nach
vollständiger Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe - zur Vollstreckung der im Anschluss notierten Untersuchungshaft
ohnehin in die Untersuchungshaftanstalt in Weiterstadt verlegt werden würde. Darüber hinaus sei damit zu rechnen,
dass der Beschwerdeführer wieder in sein Heimatland Marokko abgeschoben werde. Für eine Beschränkung der
Verteidigung des Beschwerdeführers in der Justizvollzugsanstalt Kassel I lägen ebenso wenig konkrete
Anhaltspunkte vor wie für eine Bedrohung.
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3. In seiner Erwiderung hat der Beschwerdeführer daran festgehalten, dass die Verlegung nicht auf die Anklage
gestützt werden könne, da sich der Vorwurf in der Hauptverhandlung als haltlos erweisen werde. Die Verbüßung des
Strafrestes sei auf den 4. März 2007 datiert, so dass sich die im Dezember 2006 erfolgte Verlegung auch hiermit nicht
begründen lasse. Durch die geplante weitere Verlegung erledige sich die Verfassungsbeschwerde nicht; er habe ein
Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit.
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4. Der Beschwerdeführer ist - nach Zustellung der Verfassungsbeschwerde - am 1./2. März 2007 in die
Justizvollzugsanstalt Weiterstadt verlegt worden. Dort befindet er sich, nachdem er am 7. März 2007 durch das
Landgericht Frankfurt am Main wegen Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten
verurteilt worden ist, derzeit in Strafhaft.
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5. Das Hessische Ministerium der Justiz hatte Gelegenheit zur Stellungnahme.
III.
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Die Verfassungsbeschwerde wird gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung angenommen, weil
dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist. Die Voraussetzungen für eine
stattgebende Kammerentscheidung (§ 93c Abs. 1 BVerfGG) liegen vor. Die für die Beurteilung der
Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Grundsätze sind durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
geklärt (s. unter 2.). Nach diesen Grundsätzen ist die – zulässige - Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet.
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1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.
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a) Ihrer Zulässigkeit steht nicht entgegen, dass der Beschwerdeführer Anfang März 2007 zur Vollstreckung der als
Überhaft notierten Untersuchungshaft in die Untersuchungshaftanstalt Weiterstadt verlegt wurde, wo er sich nun -
Überhaft notierten Untersuchungshaft in die Untersuchungshaftanstalt Weiterstadt verlegt wurde, wo er sich nun -
nach zwischenzeitlicher Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten - erneut in Strafhaft
befindet. Zwar hat sich hierdurch sein früheres Rechtsschutzziel, das auf Rückgängigmachung der auf § 8 StVollzG
gestützten Verlegung und Rückverlegung nach Darmstadt gerichtet war, erledigt. Denn sein derzeitiger Aufenthalt in
Weiterstadt beruht nicht mehr auf der vom Beschwerdeführer angegriffenen Verlegungsentscheidung, sondern auf der
zwischenzeitlich erfolgten weiteren Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren. Das schutzwürdige
Interesse des Beschwerdeführers, die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Entscheidung des Landgerichts
Darmstadt festgestellt zu sehen, ist hierdurch aber nicht entfallen.
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In Fällen tiefgreifender Grundrechtsverstöße besteht das Rechtsschutzbedürfnis auch nach Erledigung des
ursprünglichen Rechtsschutzziels fort, wenn die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt sich auf eine
Zeitspanne beschränkt, in welcher der Betroffene nach dem regelmäßigen Geschäftsgang eine Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts kaum erlangen kann; der Grundrechtsschutz der Betroffenen würde sonst in
unzumutbarer Weise verkürzt (vgl. BVerfGE 34, 165 <180>; 110, 77 <86>; stRspr). Danach ist im vorliegenden Fall
ein fortbestehendes Rechtsschutzbedürfnis zu bejahen, da ein schwerwiegender Grundrechtseingriff in Rede steht und
das erledigende Ereignis - die erneute Verlegung - in einem Zeitraum herbeigeführt wurde, in dem nach dem
regelmäßigen Gang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens eine Entscheidung nicht zu erlangen war. Rügt ein
Beschwerdeführer, ihm sei vorläufiger Rechtsschutz zu Unrecht verweigert worden, so macht er einen
schwerwiegenden Grundrechtseingriff jedenfalls dann geltend, wenn die Maßnahme, gegen die vorläufiger
Rechtsschutz begehrt wurde, ihrerseits entsprechend gewichtig ist (BVerfGK 1, 201 <203 f.>). Dies ist hier der Fall,
denn die gegen den Willen des betroffenen Strafgefangenen erfolgende Verlegung eines Strafgefangenen stellt einen
schwerwiegenden Eingriff dar (vgl. BVerfGK 6, 260 <264>; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts vom 27. Juni 2006 - 2 BvR 1295/05 -, NJW 2006, S. 2683).
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b) Der Beschwerdeführer hat den Rechtsweg im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes erschöpft. Der
Beschluss des Landgerichts ist unanfechtbar (§ 114 Abs. 2 Satz 3 StVollzG). Die Erschöpfung des Rechtswegs in
der Hauptsache ist nicht geboten, da der Beschwerdeführer eine Grundrechtsverletzung geltend macht, die gerade in
der Behandlung seines Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz liegt und im Hauptsacheverfahren nicht mehr
ausgeräumt werden kann (vgl. BVerfGE 69, 315 <340>; 80, 40 <45>; 104, 65 <70 f.>).
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2. Die Verfassungsbeschwerde ist auch offensichtlich begründet im Sinne des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG. Die
angegriffene Entscheidung verletzt Art. 19 Abs. 4 GG.
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a) Für die Gerichte ergeben sich aus der verfassungsrechtlichen Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes
Anforderungen auch für den vorläufigen Rechtsschutz. Die Auslegung und Anwendung der jeweiligen gesetzlichen
Bestimmungen muss darauf ausgerichtet sein, dass der Rechtsschutz sich auch im Eilverfahren nicht in der bloßen
Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts erschöpft, sondern zu einer wirksamen Kontrolle in tatsächlicher und
rechtlicher Hinsicht führt (vgl. BVerfGE 49, 220 <226>; 77, 275 <284>; BVerfGK 1, 201 <204 f.>).
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b) Die Auslegung und Anwendung des § 114 Abs. 2 StVollzG in dem angegriffenen Beschluss verfehlt diese
verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes bei belastenden
Maßnahmen.
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Das Landgericht verneint die Möglichkeit einer Aussetzung der Vollziehung gemäß § 114 Abs. 2 Satz 1 StVollzG mit
der Begründung, die angegriffene Verlegung sei bereits vollzogen. Den Erlass einer einstweiligen Anordnung im Sinne
des § 114 Abs. 2 Satz 2 StVollzG lehnt es ebenfalls ab, da Eilentscheidungen ihrer Natur nach vorläufigen Charakter
trügen und die Entscheidung in der Hauptsache nicht vorwegnehmen dürften. Damit wird § 114 Abs. 2 StVollzG
unzutreffend und in einer Weise ausgelegt, die wirksamen vorläufigen Rechtsschutz gegen Verlegungen unmöglich
macht.
24
Nach § 114 Abs. 2 StVollzG kann das Gericht den Vollzug einer angefochtenen Maßnahme aussetzen, wenn die
Gefahr besteht, dass die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert wird, und
ein höher zu bewertendes Interesse an dem sofortigen Vollzug nicht entgegensteht (Satz 1); unter den
Voraussetzungen des § 123 Abs. 1 VwGO kann eine einstweilige Anordnung erlassen werden (Satz 2). Mit dieser
Regelung differenziert der Gesetzgeber bei der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes im Strafvollzug - ähnlich wie in
§ 80 und § 123 VwGO - nach dem Gegenstand der Hauptsache. Wendet sich der Antragsteller gegen eine ihn
belastende Maßnahme, so kann das Gericht den Vollzug dieser Maßnahme schon unter den Voraussetzungen des
§ 114 Abs. 2 Satz 1 StVollzG aussetzen. Begehrt der Antragsteller dagegen die Verpflichtung zum Erlass einer von
der Anstalt abgelehnten oder unterlassenen Maßnahme, so kommt vorläufiger Rechtsschutz nur unter den
Voraussetzungen des § 114 Abs. 2 Satz 2 StVollzG in Verbindung mit § 123 Abs. 1 VwGO in Betracht.
25
Ein Eilantrag, der sich gegen eine belastende Maßnahme, hier die Verlegung, richtet und demgemäß als
Aussetzungsantrag nach § 114 Abs. 2 Satz 1 StVollzG zu behandeln ist, wird dem Anwendungsbereich dieser
Vorschrift nicht dadurch entzogen, dass die Maßnahme bereits vollzogen ist. Das gilt auch dann, wenn der
Antragsteller im Eilverfahren ausdrücklich zugleich das Rückgängigmachen des Vollzuges der Maßnahme beantragt.
Insbesondere wird der Antrag dadurch nicht zu einem Vornahmeantrag, der nach § 114 Abs. 2 Satz 2 StVollzG in
Verbindung mit § 123 VwGO zu beurteilen wäre (vgl. Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts vom 8. Mai 2006 - 2 BvR 860/06 -, JURIS, und vom 15. März 2006 - 2 BvR 917/05 u.a. -,
EuGRZ 2006, S. 294 <296>). Begehrt ein Gefangener, der gegen seinen Willen verlegt wurde, im Wege des
Eilrechtsschutzes die Rückverlegung, handelt es sich daher um einen auf Aussetzung der sofortigen Vollziehung
gerichteten Antrag (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Juli
1989 - 2 BvR 896/89 -, Orientierungssätze in JURIS).
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Die vorläufige Aussetzung einer belastenden Maßnahme nach § 114 Abs. 2 Satz 1 StVollzG bis zu einer
Entscheidung in der Hauptsache stellt keine Vorwegnahme der Hauptsache dar. Die bloße Tatsache, dass die
vorübergehende Aussetzung als solche nicht wieder rückgängig gemacht werden kann, macht die vorläufige Regelung
nicht zu einer faktisch endgültigen. Die vorläufige Aussetzung ist vielmehr, sofern die Voraussetzungen für eine
stattgebende Eilentscheidung im Übrigen vorliegen, gerade der typische, vom Gesetzgeber vorgesehene
Regelungsgehalt des vorläufigen Rechtsschutzes gegen belastende Maßnahmen (vgl. Beschlüsse der 2. Kammer des
Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 9. November 1993 - 2 BvR 2212/93 -, NJW 1994, S. 717
<718 f.>, vom 17. Juni 1999 - 2 BvR 1454/98 -, NStZ 1999, S. 532, vom 31. März 2003 - 2 BvR 1779/02 -,
NVwZ 2003, S. 1112 f., vom 11. Juni 2003 - 2 BvR 1724/02 -, BVerfGK 1, 201 <206>, und vom 15. März 2006 - 2
BvR 917/05 u.a. -, EuGRZ 2006, S. 294 <296>). All dies gilt auch für ein mit der Aussetzung verbundenes vorläufiges
Rückgängigmachen von Vollzugsfolgen, einschließlich einer Rückverlegung (vgl. Beschluss der 3. Kammer des
Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Juli 1989 - 2 BvR 896/89 -, Orientierungssätze in JURIS).
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Das Gericht hätte daher, ohne insoweit durch den Gesichtspunkt einer unzulässigen Vorwegnahme der Hauptsache
gebunden zu sein, gemäß § 114 Abs. 2 Satz 1 StVollzG prüfen müssen, ob die Gefahr besteht, dass die
Verwirklichung eines Rechts des Beschwerdeführers vereitelt oder wesentlich erschwert wird, und ob der Aussetzung
ein höher zu bewertendes Interesse an dem sofortigen Vollzug nicht entgegensteht. Dabei kann auch eine Rolle
spielen, ob nach einer summarischen Prüfung der Antragsteller mit seinem Rechtsbehelf voraussichtlich Erfolg haben
wird (Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 15. März 2006 - 2 BvR
917/05 u.a. -, EuGRZ 2006, S. 294 <296>). Indem das Gericht die gesetzlichen Vorschriften in einer Weise ausgelegt
hat, die für die verfassungsrechtlich gebotene Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der sofortigen
Vollziehung und dem Interesse des Einzelnen an einer Aussetzung keinen Raum lässt, ist es den
verfassungsrechtlichen Anforderungen an einen effektiven vorläufigen Rechtsschutz nicht gerecht geworden.
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Da der angegriffene Beschluss auf dem festgestellten Verfassungsverstoß beruht, ist er nach § 95 Abs. 2 BVerfGG
aufzuheben und die Sache - im Hinblick auf die Erledigung nur noch zur Entscheidung über die Kosten - an das
Landgericht zurückzuverweisen.
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3. Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 32 Abs. 1 BVerfGG.
30
4. Die Entscheidung über die Erstattung der Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG. Insoweit erledigt sich der
Antrag des Beschwerdeführers auf Gewährung von Prozesskostenhilfe.
31
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).
Broß
Lübbe-Wolff
Gerhardt