Urteil des BVerfG vom 15.05.2014

BVerfG: verfassungsbeschwerde, anwartschaft, aeuv, beurteilungsspielraum, eugh, direktversicherung, grundrecht, rechtsschutz, zugang, bibliothek

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 2681/11 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn S…,
- Bevollmächtigter:
Rechtsanwalt Dr. Lutz Liebenau
in Sozietät Rechtsanwälte Prof. Dr. Hansjürgen Tuengerthal, Dr. Lutz Liebenau, Markus T.
Stephani, Christian Andorfer,
Talstraße 1 (Hübsch'sche Mühle), 69198 Schriesheim -
1. unmittelbar gegen
a) den Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 19. Juli 2011 - 3 AZN
131/11 -,
b) das Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 27. Oktober 2010 -
8 Sa 1552/10 -,
c) das Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 21. März 2006 - 16
Ca 7194/05 -,
2. mittelbar gegen
§ 30f des Gesetzes zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung
(Betriebsrentengesetz - BetrAVG) vom 19. Dezember 1974
hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten Kirchhof,
den Richter Masing
und die Richterin Baer
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11.
August 1993 (BGBl I S. 1473) am 15. Mai 2014 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe:
I.
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft Fragen des Eigentumsschutzes nach Art. 14 Abs. 1 GG für
Anwartschaften auf Leistungen der betrieblichen Altersversorgung, der Zulässigkeit von
Stichtagsregelungen nach Art. 3 Abs. 1 GG sowie des gesetzlichen Richters aus Art. 101 Abs. 1
Satz 2 GG wegen Nichtvorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union.
2
Im Ausgangsverfahren begehrte der Beschwerdeführer nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens
über das Vermögen seiner ehemaligen Arbeitgeberin vom Insolvenzverwalter die Auszahlung
des Rückkaufswerts einer zu seinen Gunsten von seiner ehemaligen Arbeitgeberin vor mehr als
fünf Jahren abgeschlossenen Direktversicherung. Nach der versicherungsrechtlichen
Vereinbarung stand der Arbeitgeberseite das Recht zu, alle Versicherungsleistungen für sich in
Anspruch zu nehmen, wenn die Versicherung noch keine zehn Jahre bestanden hatte. Die
Leistungen der betrieblichen Altersversorgung waren vor dem 1. Januar 2001 zugesagt worden,
so dass nach § 30f Abs. 1 BetrAVG noch keine unverfallbare Anwartschaft zugunsten des
Beschwerdeführers bestand.
II.
3
Die Voraussetzungen für die Annahme der Verfassungsbeschwerde liegen nicht vor. Sie hat
keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung (§ 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG) und
ihre Annahme erscheint auch nicht zur Durchsetzung von Grundrechten oder
grundrechtsgleichen Rechten des Beschwerdeführers angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b
BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg, weil sie unbegründet ist.
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1. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen nicht das in Art. 14 Abs. 1 GG geschützte
Grundrecht des Beschwerdeführers auf Eigentum.
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a) Die Eigentumsgarantie nach Art. 14 Abs. 1 GG schützt nicht nur dingliche oder sonstige
gegenüber jedermann allgemein wirkende Rechtspositionen, sondern auch schuldrechtliche
Ansprüche und sozialversicherungsrechtliche Rentenansprüche und Rentenanwartschaften, die
auf nicht unerheblichen Eigenleistungen beruhen und der Sicherung seiner Existenz dienen (vgl.
BVerfGE 128, 90 <101>) und im Geltungsbereich des Grundgesetzes erworben worden sind.
Auch unverfallbare Anwartschaften auf Betriebsrenten sind eigentumsrechtlich geschützt. Doch
reicht der Schutz des Art. 14 Abs. 1 GG nur so weit, wie Ansprüche bereits bestehen, verschafft
diese selbst aber nicht (vgl. BVerfGE 131, 66 <79 f.> m.w.N.; BVerfGK 11, 130 <143>; BVerfG,
Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 17. Dezember 2012 - 1 BvR 488/10, 1 BvR
1047/10 - juris, Rn. 22; BAG, Urteil vom 15. Oktober 2013 - 3 AZR 294/11 -, juris, Rn. 47).
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b) Danach verletzen die angegriffenen Entscheidungen den Beschwerdeführer nicht in Art. 14
Abs. 1 GG. Das Arbeitsverhältnis des Beschwerdeführers endete zu einem Zeitpunkt, zu dem die
frühere Arbeitgeberin nach dem versicherungsrechtlichen Vorbehalt, der sich an der
gesetzlichen Regelung des § 30f Abs. 1 BetrAVG orientierte, noch berechtigt war, alle
Versicherungsleistungen für sich in Anspruch zu nehmen. Aus Art. 14 Abs. 1 GG ergibt sich kein
Anspruch des Beschwerdeführers, so gestellt zu werden, als wenn dieser Vorbehalt entfallen
und die Anwartschaft bereits unverfallbar geworden wäre. Ob die Versicherungsleistungen der
Prämienzahlung des Arbeitgebers in eine Direktversicherung auf Eigenleistungen des
Beschwerdeführers beruhten, kann deswegen offen bleiben.
7
2. Der Beschwerdeführer wird durch die Stichtagsregelung des § 30f Abs. 1 BetrAVG nicht in
seinem Grundrecht auf Gleichbehandlung aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzt.
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a) Stichtagsregelungen sind verfassungsrechtlich grundsätzlich zulässig. Dem Gesetzgeber ist
es durch Art. 3 Abs. 1 GG nicht verwehrt, zur Regelung bestimmter Lebenssachverhalte
Stichtage einzuführen, obwohl jeder Stichtag unvermeidlich gewisse Härten mit sich bringt.
Voraussetzung ist allerdings, dass sich die Einführung des Stichtags überhaupt und die Wahl
des Zeitpunkts am gegebenen Sachverhalt orientieren und damit sachlich vertretbar sind (vgl.
BVerfGE 101, 239 <270>; 117, 272 <301>; stRspr).
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b) Diesen Anforderungen wird die angegriffene gesetzliche Stichtagsregelung gerecht. Nach
§ 30f Abs. 1 BetrAVG werden Anwartschaften auf Leistungen der betrieblichen Altersvorsorge,
die vor dem 1. Januar 2001 zugesagt worden sind, grundsätzlich erst unverfallbar, wenn die
Versorgungszusage zehn Jahre bestanden hat, während für spätere Zusagen nach § 1b Abs. 1
BetrAVG eine Frist von nur noch fünf Jahren gilt. Die Verkürzung der Frist, ab der
Anwartschaften auf Versorgungsansprüche unverfallbar werden, wäre rechtssicher ohne eine
Stichtagsregelung nicht durchführbar. Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Wahl
des konkreten Datums sachwidrig wäre.
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3. Das Bundesarbeitsgericht hat den Anspruch des Beschwerdeführers auf Gewährung
effektiven Rechtsschutzes aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip nicht
verletzt, indem es die Nichtzulassungsbeschwerde zurückgewiesen und damit die Möglichkeit
einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union nach 267 Abs. 3 AEUV im
Revisionsverfahren abgeschnitten hat.
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a) Hat der Gesetzgeber sich für bei der Ausgestaltung des gerichtlichen Rechtsschutzes dafür
entschieden, eine weitere Instanz zu eröffnen, und sieht die betreffende Prozessordnung
dementsprechend ein Rechtsmittel vor, so darf der Zugang dazu nicht in unzumutbarer, aus
Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 77, 275
<284>; 78, 88 <99>; 88, 118 <124>). Das Rechtsmittelgericht darf ein von der jeweiligen
Prozessordnung eröffnetes Rechtsmittel nicht ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer
leerlaufen lassen (vgl. BVerfGE 78, 88 <98 f.>; 96, 27 <39>; 104, 220 <232>). Die
Zurückweisung einer Nichtzulassungsbeschwerde mangels grundsätzlicher Bedeutung schließt
zwangsläufig die Entscheidung des Fachgerichts ein, die Rechtsfrage auch im Blick auf das
Unionsrecht als hinreichend geklärt anzusehen und die ihm angetragene Frage des
Unionsrechts nicht dem Gerichtshof der Europäischen Union vorzulegen (vgl. BVerfG, Beschluss
der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. März 2014 - 1 BvR 2534/10 -, juris, Rn. 26). Das
Bundesverfassungsgericht überprüft daher auch, ob ein Gericht im Rahmen einer solchen
Entscheidung die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV beachtet hat.
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Der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz wird ebenso wie der Anspruch auf den gesetzlichen
Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG jedoch nur dann verletzt, wenn der Umgang eines
Gerichts mit der Vorlagepflicht nicht vertretbar ist, also nicht mehr verständlich erscheint und
offensichtlich unhaltbar ist (vgl. BVerfGE 82, 159 <194 f.>; 126, 286 <315>; 128, 157 <187>).
Liegt zu einer entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts noch keine einschlägige
Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union vor oder hat eine Rechtsprechung
die entscheidungserhebliche Frage noch nicht erschöpfend beantwortet oder erscheint eine
Fortentwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht nur als
entfernte Möglichkeit, kommt dem Fachgericht notwendig ein Beurteilungsspielraum zu, der nicht
in unvertretbarer Weise überschritten werden darf (vgl. BVerfGE 126, 286 <316 f.>; 129, 78
<106 f.>).
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b) Vorliegend hat das Bundesarbeitsgericht das grundrechtsgleiche Recht des
Beschwerdeführers auf den gesetzlichen Richter nicht verletzt. Die Handhabung der
Vorlagepflicht ist vertretbar. Die Frage, ob die nationalen Regelungen zur Insolvenzsicherung
von Anwartschaften auf Leistungen der betrieblichen Altersversorgung mit Art. 8 der Richtlinie
80/987/EWG beziehungsweise mit Art. 8 der Richtlinie 2008/94/EG in Einklang stehen, war
bisher nicht Gegenstand der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union. Die
vom Beschwerdeführer angeführte Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union
(Urteil vom 25. Januar 2007, Robins, C-278/05, Slg. 2007, I-1053) betraf kein vergleichbares
System der Insolvenzsicherung für Ansprüche aus betrieblicher Altersversorgung. Vielmehr
räumt Art. 8 der Richtlinie 987/80/EWG beziehungsweise Art. 8 der Richtlinie 2008/94/EG nach
der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union den Mitgliedstaaten einen weiten
Ermessensspielraum bei der Festlegung des Schutzniveaus ein (vgl. EuGH, Urteil vom 25.
Januar 2007, Robins, C-278/05, Slg. 2007, I-1053, Rn. 45; EuGH, Urteil vom 25. April 2013,
Hogan, C-398/11, juris, Rn. 42)
.
aus betrieblicher Altersversorgung wird auch in der Fachliteratur als mit europäischem Recht in
Einklang stehend beurteilt (vgl. Rolfs, in: Blomeyer/ Rolfs/Otto, Gesetz zur Verbesserung der
betrieblichen Altersversorgung, 5. Aufl. 2010, § 7 Rn. 4; Steinmeyer, in: ErfK, 14. Aufl. 2014, § 7
BetrAVG Rn. 4; Kreil, ZESAR 2008, 186 <187>). Daher konnte das Bundesarbeitsgericht die
richtige Anwendung des Unionsrechts hier als derart offenkundig ansehen, dass eine
abweichende Auslegung durch den Gerichtshof der Europäischen Union lediglich als entfernte
Möglichkeit erscheint und sich daher eine Nichtvorlage im Beurteilungsspielraum hält.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Kirchhof
Masing
Baer