Urteil des BVerfG vom 22.10.2009

BVerfG: bedingte entlassung, anhörung, freiheit der person, organisierte gruppe, verfassungsbeschwerde, bewährung, integration, gefahr, persönlichkeit, kriminalität

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 2549/08 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn F...,
- Bevollmächtigter:
Prof. Dr. Cornelius Nestler,
Bischof-Kindermann-Straße 4, 61462 Königstein -
gegen
a)
den Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 13. November 2008 -
3 Ws 1035/08 -,
b)
den Beschluss des Landgerichts Kassel vom 2. Oktober 2008 - 4 StVK 56/08 -
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten Voßkuhle,
den Richter Mellinghoff
und die Richterin Lübbe-Wolff
am 22. Oktober 2009 einstimmig beschlossen:
1. Die Beschlüsse des Landgerichts Kassel vom 2. Oktober 2008 - 4 StVK 56/08 - und des Oberlandesgerichts
Frankfurt am Main vom 13. November 2008 - 3 Ws 1035/08 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem
Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 Absatz 1 des Grundgesetzes. Sie
werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Kassel zurückverwiesen.
2. Das Land Hessen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zur erstatten.
Gründe:
A.
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Ablehnung einer Strafaussetzung zur Bewährung nach Verbüßung von zwei
Dritteln der Strafzeit (§ 57 Abs. 1 StGB).
I.
2
1. Der Beschwerdeführer wurde durch Urteil des Landgerichts Limburg vom 15. November 2006 wegen
bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in acht Fällen, davon in sieben Fällen in nicht geringen
Mengen, sowie wegen versuchter schwerer räuberischer Erpressung in Tateinheit mit Freiheitsberaubung und
gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt. Zwei Drittel der Strafe waren
am 5. Juni 2008 verbüßt; als Endstrafentermin ist der 7. Oktober 2010 vermerkt.
3
2. a) Am 8. Januar 2008 stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung des Restes
der Freiheitsstrafe.
4
b) Der Leiter der Justizvollzugsanstalt Kassel trat diesem Antrag mit Schreiben vom 9. Januar 2008 unter
Übersendung des Protokolls der letzten Vollzugsplankonferenz entgegen. In seiner ablehnenden Stellungnahme hob
er hervor, dass der Beschwerdeführer die Straftaten als Mitglied einer mafiös organisierten subkulturellen Gruppe von
Aussiedlern und Russen begangen habe, die Geschäfte mit Drogen bis in hessische Justizvollzugsanstalten hinein
organisiert hätten. Es habe sich hierbei um eine organisierte Gruppierung mit streng hierarchischer Gliederung, der
strikten ethnischen Abschottung nach außen, der Einschüchterung und Disziplinierung von Abweichlern sowie
Ablehnung jeglicher staatlicher Autorität gehandelt. In den abgeurteilten Gewalttätigkeiten sowie in einer egozentrisch
motivierten Ausrichtung der Lebensführung des Beschwerdeführers erkannte der Leiter der Justizvollzugsanstalt eine
dissoziale Lebensausrichtung, weswegen dem Beschwerdeführer empfohlen worden sei, sich um Aufnahme in eine
sozialtherapeutische Anstalt zu bemühen. Das Interesse des Beschwerdeführers hieran sei jedoch verlorengegangen,
weil er aufgrund der Länge der Behandlung auf eine bedingte Entlassung zum Zwei-Drittel-Zeitpunkt hätte verzichten
müssen. Zusammenfassend stellte er dem Beschwerdeführer trotz seines nunmehr angepassten Vollzugsverhaltens,
seiner Mitarbeit im Leistungsbereich und seiner familiären Bindungen nicht die für eine bedingte Entlassung
erforderliche positive Legalprognose.
5
c) Auch die Staatsanwaltschaft trat einer bedingten Entlassung entgegen. An eine Prognose, ob der
Beschwerdeführer sich künftig straffrei führen werde, seien mit Blick auf die Anlasstaten erhöhte Anforderungen zu
stellen. Das Verhalten des Beschwerdeführers und seine Persönlichkeitsstruktur (egozentrische Ausrichtung seiner
Lebensführung) seien nicht in der Lage, eine positive Sozialprognose zu begründen.
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d) Im Anschluss an die mündliche Anhörung des Beschwerdeführers am 10. April 2008 beschloss die
Strafvollstreckungskammer einen Tag später die Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens zu der
Frage, ob von dem Beschwerdeführer noch die Gefahr der Begehung von Straftaten ausgehe. Mit Schreiben vom 28.
Juli 2008 übersandte der Sachverständige sein Gutachten. Dabei kam er zusammenfassend zu dem Ergebnis, dass
er das Risiko schwerwiegender Straftaten bei dem Beschwerdeführer aus heutiger Sicht, relativ zu früher, als nicht
wesentlich geringer einschätze. Das Risiko erneuter Straffälligkeit resultiere aus einer nicht auszuschließenden
Bereitschaft zur erneuten Integration in eine kriminelle Subkultur sowie aus seiner dissozialen Kompetenz, die
allerdings keinen Krankheitswert aufweise. Wenn der Beschwerdeführer auf sich gestellt sei, werde seine
Gefährlichkeit als gering eingeschätzt. Bei ihm ließen sich Auffälligkeiten der Persönlichkeit und Akzentuierungen von
Persönlichkeitszügen, nicht aber psychische Störungen oder Krankheiten feststellen; spezielle psycho- oder
sozialtherapeutische Maßnahmen seien deshalb nicht angezeigt. Inwieweit das familiäre/soziale Umfeld in der Lage
sei, eine psychisch stabilisierende Wirkung auf den Probanden auszuüben, lasse sich nicht mit Sicherheit
einschätzen, werde insgesamt aber eher skeptisch gesehen. Der soziale Empfangsraum werde zum Teil auch durch
die Gruppe der russischen Aussiedler bestimmt. Berücksichtige man die vom Gericht festgestellte besondere Bindung
an subkulturelle Strukturen und die innerhalb der Strukturen beschriebene Einvernahme der Individuen, so falle auf,
dass der Beschwerdeführer keine Angaben bezüglich eventueller Probleme bei der Trennung von dieser Gemeinschaft
mache. Für eine Sozialprognose wären Lockerungsbewährungen über einen längeren Zeitraum förderlich. Insgesamt
sei fraglich, ob der Beschwerdeführer in der Lage sei, die mit einem normalen täglichen Erwerbsleben verbundenen
narzisstischen Kränkungen und Frustrationen zu ertragen und nicht den Verlockungen des schnellen illegalen
Gelderwerbs zu erliegen. Wenn der Beschwerdeführer seine positive Entwicklung am Beispiel der Abkehr von einer
materialistischen Lebensweise schildere, möge das unter den Bedingungen des Vollzuges zutreffen, sei aber nicht zu
vergleichen mit Situationen außerhalb der Haft.
7
e) Mit der Ladung zur mündlichen Anhörung des Gutachters fragte die Strafvollstreckungskammer am 4. September
2008 bei der Justizvollzugsanstalt nach der Anschrift des bei ihr tätig gewesenen Diplom-Psychologen an, dessen
zeugenschaftliche Einvernahme der Verteidiger des Beschwerdeführers mit Schreiben vom 17. September 2008
beantragte. Hintergrund für dessen Benennung als Zeuge waren 12 therapeutische Gespräche, die der
Beschwerdeführer in der Zeit von Juli 2007 bis Anfang 2008 mit dem Anstaltspsychologen geführt hatte. Im
Anschluss an diese Gespräche habe dieser erhebliche und relevante Veränderungsprozesse bei dem
Beschwerdeführer konstatiert, die Risikofaktoren deutlich abgeschwächt beziehungsweise beseitigt hätten. Mit ihm
seien die künftigen Lebensperspektiven, differenziert nach subjektiven und objektiven Zukunftsperspektiven,
ausführlich besprochen worden. Im Verlauf des therapeutischen Gesprächs habe der Beschwerdeführer auch den
Beschluss gefasst, zur beruflichen Weiterbildung an einem Schweißerlehrgang teilzunehmen, der seine Chancen auf
dem freien Arbeitsmarkt und damit die Möglichkeit des legalen Gelderwerbs deutlich erhöhe. Der Anstaltpsychologe
sei zu der Feststellung gekommen, dass der Beschwerdeführer sich aus der Subkultur gelöst habe. Unter Hinweis auf
weitere Einzelheiten, die in das Wissen des Anstaltspsychologen gestellt wurden, wies der Verteidiger des
Beschwerdeführers auf die Erheblichkeit dieses Beweisantrages hin, der im Zusammenhang mit der Feststellung des
Sachverständigen von der nicht auszuschließenden Bereitschaft des Beschwerdeführers zur erneuten Integration in
eine kriminelle Subkultur und der dissozialen Kompetenz zu sehen sei.
8
f) Bei der mündlichen Anhörung des Sachverständigen am 1. Oktober 2008 erläuterte dieser sein Gutachten. Dabei
wies er eingangs darauf hin, dass das Persönlichkeitsbild des Beschwerdeführers sich - trotz dissozialer Züge und
narzisstischer Charaktereigenschaften - im normalpsychologischen Bereich bewege, in dem die normale
persönlichkeitsbeurteilende Kompetenz eines Richters für die Prüfung der Legalprognose eines Verurteilten
ausreichend sei und er als Psychiater eigentlich auch nur Hinweise auf Regeln der allgemeinen Lebenserfahrungen,
vertieft durch kriminologische Zusatzerkenntnisse, geben könne.
9
Hinsichtlich der Stellungnahme des Verteidigers des Beschwerdeführers in seinem Schreiben vom 17. September
2008 ging der Sachverständige davon aus, dass man die dort angeführten Tatsachen als zutreffend unterstellen
könne, ohne dass sich dies entscheidend auf die angestellten prognostischen Erwägungen auswirke. Der
Beschwerdeführer sei imstande, sich taktisch auf Situationen einzurichten in dem Sinne, dass er sich durchaus auch
bewusst dafür entscheiden könne, legal zu leben und sich an Normen zu halten, genauso wie er sich zu Zeiten seiner
Straffälligkeit frei für den Weg der Kriminalität entschieden habe. Der Beschwerdeführer könne straffrei leben, wenn er
sich hierzu entschließe. Er sehe den Beschwerdeführer so, dass er zwar nicht erneut als Einzeltäter straffällig werde,
aber sich aus seiner Vergangenheit heraus die Möglichkeit aufzeige, dass er im Zusammenhang mit anderen
delinquent werden könne. Im Übrigen sei der unmittelbare zwingende Rückschluss von dem Verhalten des
Beschwerdeführers in der Haftsituation auf sein künftiges Leben in Freiheit nicht möglich. Es gebe nämlich
kriminalitätsförderliche Neigungen bei dem Beschwerdeführer, bei denen es letztlich in seinem Willen liege, ob er
ihnen nachgebe oder nicht. Dissoziale Züge wie bei dem Beschwerdeführer könne man aber durchaus auch bei
strafrechtlich nicht auffällig gewordenen Personen etwa aus der Unterhaltungsbranche oder dem Wirtschaftsleben
beobachten. Soweit vorgetragen werde, der Beschwerdeführer habe in den Gesprächen mit dem Anstaltspsychologen
Einsicht gezeigt, wolle er nicht ausschließen, dass er eine solche Einsicht gewonnen habe. Das Wissen um das
Unrecht seines Tuns und die Einsicht, ein ungeregelter Lebenswandel könne für ihn schädlich sein, würden aber nicht
zwingend ausschließen, dass er bei geeigneter Konstellation, das heißt beim Zusammenwirken mit entsprechend
geneigten Mittätern, in Freiheit erneut straffällig werden könnte.
10
Eine Vernehmung des Anstaltspsychologen, dessen Anschrift dem Gericht mit Schreiben vom 17. September 2008
mitgeteilt worden war, erfolgte nicht.
11
3. Mit Beschluss vom 2. Oktober 2008 lehnte die Strafvollstreckungskammer eine Strafaussetzung zur Bewährung
ab. Sie war der Ansicht, die Aussetzung der Reststrafe könne derzeit unter Berücksichtigung des
Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit nicht verantwortet werden. Schon vor den Anlassdelikten der vorliegenden
Vollstreckung sei es dem Beschwerdeführer nicht gelungen, sich gänzlich straffrei zu führen. Die der Vollstreckung
der jetzigen Strafe zugrunde liegenden Straftaten selbst zeugten von erheblicher krimineller Energie. Der
Beschwerdeführer habe sich an einem in Justizvollzugsanstalten hineinreichenden und mafiös organisierten Ring von
Drogenschmugglern beteiligt. Für den Weg in die Kriminalität habe sich der Beschwerdeführer seinerzeit frei und ohne
Druck innerpsychischer Zwänge entschlossen; die Bindungen zu seiner Ehefrau hätten ihn davon nicht abhalten
können.
12
Zwar habe sich der Beschwerdeführer während des Strafvollzuges beanstandungsfrei geführt. Auch habe er durch
berufsbildende Maßnahmen in der Haft die Bereitschaft gezeigt, sich eine legale Lebensperspektive für die Zeit nach
seiner Haftentlassung aufzubauen. Er sei nach seinen Darlegungen auch bemüht gewesen, Einsicht in die Ursachen
seiner Straffälligkeit durch Gespräche mit einem Anstaltspsychologen zu gewinnen.
13
Gleichwohl habe sich das Gericht nicht die erforderliche Überzeugung zu verschaffen gemocht, dass der
Beschwerdeführer sich mit der für eine bedingte Entlassung erforderlichen Gewissheit straffrei führen werde. Er sei
nach den plausiblen Darlegungen des Sachverständigen zwar nicht aus Gründen einer bei ihm bestehenden
psychischen Beeinträchtigung mit Krankheitswert rückfallgefährdet, weise aber Charakterzüge auf, die ihn als in
besonderer Weise rückfallgefährdet erscheinen ließen. Der Sachverständige habe für das Gericht überzeugend und
nachvollziehbar auf narzisstische Persönlichkeitszüge und einzelne dissoziale Charaktereigenschaften, insbesondere
mangelnde Empathie, hingewiesen, die hier die Gefahr einer erneuten Straffälligkeit begründeten.
14
Das Gericht könne insoweit die Darlegungen aus dem Schreiben des Verteidigers des Beschwerdeführers vom 17.
September 2008 als zutreffend unterstellen, ohne dass sich hieraus durchgreifende Zweifel an der Richtigkeit der
Einschätzung des Sachverständigen oder ein Anlass zu weiteren Maßnahmen der Sachaufklärung ergeben würden.
Es werde durchaus als glaubhaft angesehen, dass sich der Beschwerdeführer derzeit unter der besonderen Situation
einer längeren Strafhaft und einer von ihm angestrebten Entlassung von subkulturellen Kreisen der Haftanstalt
distanziert habe und derzeit eine auf eine legale Lebensperspektive ausgerichtete Lebensplanung verfolge. Dem
Gericht sei nicht die Glaubwürdigkeit dieser gegenwärtigen Einstellung, sondern ihre künftige Stabilität unter den
besonderen Bedingungen und Anforderungen des Lebens in Freiheit zweifelhaft. Der Beschwerdeführer habe sich
bereits einmal angesichts der materiellen Einschränkungen des Lebens in Freiheit für den Weg der Kriminalität
entschieden und könne eine solche Entscheidung jederzeit erneut treffen, falls seine derzeit bekundete Einstellung zu
einer legalen Lebensführung wieder in sich zusammenbreche. Die Stabilität des derzeit bekundeten
Einstellungswandels sei dem Gericht auch deshalb zweifelhaft geblieben, weil der Beschwerdeführer die ihm
angetragene Behandlung in der Sozialtherapie abgelehnt habe. Obwohl dem Sachverständigen darin zu folgen sein
möge, dass solche Maßnahmen nicht indiziert gewesen seien, sei dies doch weder dem Beschwerdeführer noch der
Justizvollzugsanstalt damals bekannt gewesen. Dass der Beschwerdeführer nicht auf die Chance einer Zwei-Drittel-
Entlassung verzichten wollte, um durch ein Durchlaufen des ihm angetragenen Therapieprogramms bis zur
Endstrafenverbüßung sodann seine längerfristige Chance auf ein legales Leben in Freiheit zusätzlich abzusichern,
lasse es als durchgreifend zweifelhaft erscheinen, ob der derzeitige Entschluss längere Zeit über eine Haftentlassung
hinaus andauern könne. Die Gefahr erneuter Straffälligkeit rühre im Kern aus der vom Sachverständigen aufgezeigten
dissozialen Handlungskompetenz zusammen mit seinen narzisstischen (selbstbezogenen, auf materielle
Bedürfnisbefriedigung ausgerichteten) Persönlichkeitsanteilen her.
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Zu durchgreifenden Zweifeln an der Richtigkeit der Einschätzung des Sachverständigen sehe das Gericht keinen
Anlass; dieser habe sein Gutachten in der mündlichen Erläuterung überzeugend gegen die Einwendungen des
Beschwerdeführers verteidigt. Der Sachverständige habe dabei klargestellt, dass der Beschwerdeführer durchaus
infolge seiner hinter den Delikten stehenden Persönlichkeitszüge erhöht rückfallgefährdet erscheine.
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Schließlich sei auch nicht zu erkennen, dass die erforderliche Stabilität einer Entscheidung des Beschwerdeführers
für den Weg des legalen Lebens hier durch geeignete Bewährungsauflagen abgestützt werden könne. Er weise keine
Beeinträchtigung seiner Impulskontrolle oder einer Aggressionsneigung auf, der wirksam mit der Weisung zur
Teilnahme an einem Fußfesselprojekt entgegengetreten werden könne.
17
4. Hiergegen legte der Beschwerdeführer sofortige Beschwerde ein. Die Entscheidung des Landgerichts sei in sich
widersprüchlich. Die Kammer stütze ihre Prognose auf vom Sachverständigen festgestellte narzissistische
Persönlichkeitszüge sowie einzelne dissoziale Charaktereigenschaften. Dies sei mit den als zutreffend unterstellten
Darlegungen im Schriftsatz vom 17. September 2008 nicht zu vereinbaren. Darin sei dargelegt, dass der
Anstaltspsychologe der Justizvollzugsanstalt Kassel im Verlauf von 12 therapeutischen Einzelgesprächen bei diesem
erhebliche und relevante Veränderungsprozesse konstatiert habe, welche die ehemals vorhandenen Risikofaktoren
deutlich abgeschwächt beziehungsweise beseitigt hätten. Das Gericht sei seiner von Verfassungs wegen
bestehenden Aufklärungspflicht nicht nachgekommen, indem es sich nicht um zusätzliche Erkenntnisse durch die
Anhörung des - inzwischen ausgeschiedenen - Anstaltspsychologen bemüht habe. Das Gericht habe sich zudem mit
einigen wesentlichen Gesichtspunkten nicht auseinandergesetzt. Nicht berücksichtigt sei, dass er schon seit dem
8. Oktober 2003 ununterbrochen in Haft sei und die Taten zum Zeitpunkt der Verurteilung bereits mehr als drei
beziehungsweise vier Jahre zurücklägen. Auch fehle die Auseinandersetzung mit dem Umstand, dass er erstmals
eine Freiheitsstrafe verbüße. Ferner berücksichtige das Gericht nicht, dass sich sein sozialer Empfangsraum
grundlegend geändert habe. Für den Fall weiterer Verfehlungen habe seine Ehefrau einen Scheidungsantrag
angekündigt. Zudem verhalte sich die Entscheidung nicht dazu, ob das durch die angenommenen Defizite begründete
Rückfallrisiko nicht durch Auflagen und Weisungen ausgeräumt werden könne. Schließlich lasse die Entscheidung
unberücksichtigt, dass die Klausel von der Verantwortbarkeit der Reststrafenaussetzung ein vertretbares Restrisiko
einschließe. Zu guter Letzt habe das Gericht nicht vermocht, das angenommene unvertretbar hohe Risiko erneuter
Straffälligkeit zu begründen. Es fehle an konkreten Tatsachen für diese Risikoeinschätzung. Anhaltspunkte dafür,
dass die gegenwärtige Entscheidung für eine legale Lebensführung wieder in sich zusammenbräche, lägen nicht vor.
Das Landgericht habe sich bei seiner Abwägung nicht an die „Wahrunterstellung“ der im Schreiben vom 17.
September 2008 dargelegten Tatsachen gehalten und zudem nicht die vom Sachverständigen anhand von Tests
festgestellte statistische Rückfallwahrscheinlichkeit, die ein geringes Rückfallrisiko belege, berücksichtigt.
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5. Das Oberlandesgericht verwarf das Rechtsmittel mit Beschluss vom 13. November 2008 unter Bezugnahme auf
die Gründe der angefochtenen Entscheidung. Das Beschwerdevorbringen rechtfertige keine abweichende
Entscheidung. Nach der gebotenen prognostischen Gesamtwürdigung bestehe noch keine ausreichend belegbare
Chance dafür, dass sich der Beschwerdeführer in Freiheit bewähren werde. Auf den Grundsatz, dass bei einem
Erstverbüßer im allgemeinen erwartet werden könne, der Strafvollzug übe auf ihn eine deutliche Wirkung aus und halte
ihn von der Begehung weiterer Straftaten ab, könne sich der Beschwerdeführer vorliegend nicht berufen. Jener
Grundsatz gelte nicht ausnahmslos. Es sei insbesondere das vom Gesetzgeber in den Vordergrund gestellte
Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit zu berücksichtigen. Aufgrund der begangenen, besonders schwerwiegenden
und gefährlichen Straftaten seien erhöhte Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit der Legalbewährung zu stellen.
Gegen eine günstige Sozialprognose sprächen die Ausführungen des Sachverständigen in seinem Gutachten vom 28.
Juli 2008, wonach es sehr fraglich sei, ob der Beschwerdeführer in der Lage sei, die mit einem normalen Erwerbsleben
verbundenen Frustrationen zu ertragen und nicht den Verlockungen des schnellen illegalen Gelderwerbs zu erliegen.
Das Risiko der Begehung schwerwiegender Straftaten schätze der Sachverständige im Verhältnis zu früher als nicht
wesentlich geringer ein. Zwar seien die gefestigten sozialen Bindungen zu seiner Familie grundsätzlich positiv zu
bewerten; sie hätten ihn jedoch in der Vergangenheit nicht von der Begehung von Straftaten abhalten können. Soweit
der Beschwerdeführer vortragen lasse, er habe nach seiner Ablehnung einer Aufnahme in die sozialtherapeutische
Anstalt ab Juli 2007 12 therapeutische Einzelgespräche mit dem Anstaltspsychologen geführt, ergebe sich hierzu aus
dem Vollzugsplan, dass diese keinen therapeutischen Hintergrund gehabt hätten und keinen Ersatz zu einer
Behandlungsmaßnahme in der sozialtherapeutischen Anstalt darstellen könnten. Die Kammer sei deshalb auch nicht
gehalten gewesen, eine zusätzliche Stellungnahme des Anstaltspsychologen einzuholen.
II.
19
1. Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 104 Abs. 1 GG sowie
aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip. Die angegriffenen Beschlüsse würden die
besondere Bedeutung und Tragweite des verfassungsrechtlich verbürgten Freiheitsrechts verkennen, weil sie
Umstände, die für eine günstige Sozialprognose sprächen, nicht hinreichend würdigten beziehungsweise nicht in ihre
Abwägung einbezogen hätten. So hätten die Gerichte zwar gesehen, dass er Erstverbüßer sei; gleichwohl hätten sie,
obwohl er sich im Strafvollzug einwandfrei geführt habe, von der Regelvermutung, dass bei Erstverbüßern eine
positive Prognose zu vermuten sei, abgesehen. Auch hätten sie seine gefestigten sozialen Bindungen zu seiner
Familie und sein Bemühen, Einsicht in die Ursachen der Straffälligkeit zu gewinnen, ebenso zur Kenntnis genommen
wie den Umstand, dass er eine Schweißerlehre aufgenommen und dadurch Bereitschaft gezeigt habe, sich eine legale
Lebensperspektive für die Zeit nach der Haft aufzubauen. Gleichwohl sei Strafaussetzung zur Bewährung abgelehnt
worden, gestützt vor allem auf die negative Prognose des Sachverständigen, der sich die Gerichte ohne eigene
substantielle Prüfung angeschlossen hätten. Dabei seien einige wichtige Aspekte nicht erörtert worden, zum Beispiel
das anhand standardisierter Testverfahren ermittelte geringe Risiko künftiger Gewalttaten sowie vor allem seine
biografische Entwicklung, an deren Ende er alles ihm Mögliche unternommen habe, schon während der Strafhaft seine
Lebensbedingungen so zu gestalten, dass ein Rückfall in das kriminelle Milieu nach Entlassung ganz
unwahrscheinlich werde.
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Darüber hinaus hätten die Vollstreckungsgerichte den verfahrensrechtlichen Anforderungen des Freiheitsrechts nicht
genügt, indem sie auf eine Anhörung des Anstaltspsychologen verzichtet und so das Gebot bestmöglicher
Sachaufklärung verletzt hätten. Er habe mit dem Psychologen im Zeitraum zwischen Juli 2007 und Anfang 2008 12
therapeutische Einzelgespräche geführt, bei denen für diesen erhebliche und relevante Veränderungsprozesse seiner
Person erkennbar geworden wären. Erkenntnisse aus diesen Gesprächen wären in die Prognoseentscheidung
einzustellen gewesen. Dagegen spreche auch nicht die Erwägung des Oberlandesgerichts, aus dem Vollzugsplan
vom 13. Dezember 2007 ergebe sich, dass die Gespräche keinen therapeutischen Hintergrund gehabt hätten und
keinen Ersatz für eine Behandlungsmaßnahme in der sozialtherapeutischen Anstalt darstellen könnten. Denn eine
solche Behandlungsmaßnahme sei auch nach Einschätzung des Sachverständigen zu keinem Zeitpunkt indiziert
gewesen.
21
2. Die Hessische Staatskanzlei hat Stellungnahmen der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Frankfurt am Main
und der Strafrechtsabteilung des Hessischen Ministeriums der Justiz, für Integration und Europa übersandt. Diese
halten die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Von einer eigenen Stellungnahme hat die Staatskanzlei
abgesehen.
22
a) Die Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Frankfurt am Main ist der Ansicht, dass eine fehlerhafte Anwendung
des § 57 Abs. 1 StGB, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts oder
vom Umfang seines Schutzbereichs beruhen könnte, nicht erkennbar sei. Die getroffene Prognoseentscheidung, die
nach Einholung eines Prognosegutachtens eines externen psychiatrischen Sachverständigen erfolgt sei, liege im
fachgerichtlichen Wertungsrahmen. Die Gerichte hätten eine eigene prognostische Gesamtwürdigung vorgenommen
und dabei angesichts der von dem Beschwerdeführer begangenen Straftaten erhöhte Anforderungen an die
Wahrscheinlichkeit der Legalbewährung gestellt. Auch ein Verstoß gegen das Gebot bestmöglicher Sachaufklärung
liege nicht vor. Es sei unbedenklich, dass auf die Einholung einer Stellungnahme des Anstaltspsychologen verzichtet
worden sei. Diese Gespräche hätten keinen therapeutischen Hintergrund gehabt. Zudem sei nicht ersichtlich, weshalb
nach einem externen Gutachten noch weitere Erkenntnisquellen hinzugezogen werden sollten. Zweifel an der
Sachkompetenz des Sachverständigen hätten nicht bestanden.
23
b) Die Strafrechtsabteilung des Hessischen Ministeriums der Justiz, für Integration und Europa geht davon aus,
dass die Gerichte eine eigenständige Bewertung unter Würdigung aller Umstände vorgenommen haben. Sämtliche für
den Beschwerdeführer sprechende Umstände seien einbezogen worden, auch dessen Bemühungen, Voraussetzungen
für ein künftig straffreies Leben zu schaffen. Der vom Beschwerdeführer herausgehobene Umstand seiner familiären
Bindung sei hinreichend berücksichtigt worden. Die gegen ihn sprechenden Gesichtspunkte (Schwere der Straftat,
Vollzugsverhalten vor Verlegung in die Justizvollzugsanstalt Kassel, mangelnde Bereitschaft zur Teilnahme an einer
aus damaliger Sicht empfehlenswerten Behandlung in der sozialtherapeutischen Anstalt) seien zurückhaltend und
damit eher wohlwollend in die Abwägung eingeflossen. Gerade die Gefährlichkeit der vorausgegangenen Taten sei
jedoch ein wesentlicher Aspekt. Schließlich sei nicht zu beanstanden, dass der Anstaltspsychologe der
Justizvollzugsanstalt nicht ergänzend gehört worden sei. Die Gespräche mit ihm hätten keinen therapeutischen
Charakter gehabt; außerdem sei die Thematik in der mündlichen Anhörung unter Beteiligung des Sachverständigen,
des Beschwerdeführers und seines Verteidigers umfassend erörtert worden.
24
3. Das Vollstreckungsheft des Beschwerdeführers hat dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen.
B.
25
Die Verfassungsbeschwerde wird zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1
BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist (§ 93b i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen
des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für eine der Verfassungsbeschwerde stattgebende Entscheidung der Kammer sind
gegeben; die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden.
I.
26
1. Die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, Art. 104 Abs. 1 und 2 GG) darf nur aus besonders gewichtigen
Gründen und unter strengen formellen Gewährleistungen eingeschränkt werden (vgl. BVerfGE 70, 297 <307>). Daraus
ergeben sich für die Strafgerichte Mindesterfordernisse für eine zuverlässige Wahrheitserforschung, die nicht nur im
strafprozessualen Hauptverfahren, sondern auch bei den im Vollstreckungsverfahren zu treffenden Entscheidungen zu
beachten sind. Sie setzen unter anderem Maßstäbe für die Aufklärung des Sachverhalts und damit für eine
hinreichende tatsächliche Grundlage richterlicher Entscheidungen. Denn es ist unverzichtbare Voraussetzung
rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf
zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die
der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht (vgl. BVerfGE 70, 297 <307>).
27
Um eine diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen unterliegende Entscheidung im strafprozessualen
Vollstreckungsverfahren handelt es sich, wenn darüber zu befinden ist, ob die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe zur
Bewährung ausgesetzt wird.
28
a) Gemäß § 57 Abs. 1 Satz 1 StGB setzt das Gericht die Vollstreckung des Restes einer zeitigen Freiheitsstrafe zur
Bewährung aus, wenn zwei Drittel der verhängten Strafe verbüßt sind, der Verurteilte einwilligt und dies unter
Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann. Nach § 57 Abs. 1 Satz 2
StGB sind bei der danach anstehenden Prüfung, ob der Verurteilte außerhalb des Strafvollzugs keine Straftaten mehr
begehen wird, namentlich seine Persönlichkeit, sein Vorleben, die Umstände seiner Tat, das Gewicht des bei einem
Rückfall bedrohten Rechtsguts, sein Verhalten im Vollzug, seine Lebensverhältnisse und die Wirkungen zu
berücksichtigen, die von der Aussetzung für ihn zu erwarten sind. Damit ist den Vollstreckungsrichtern eine
prognostische Gesamtwürdigung abverlangt, die keine Gewissheit künftiger Straffreiheit voraussetzt (vgl. BVerfG,
Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 3. Dezember 2003 - 2 BvR 1661/03 -, juris), es also
miteinschließt, dass ein vertretbares Restrisiko eingegangen wird (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des
Zweiten Senats vom 22. März 1998 - 2 BvR 77/97 -, NJW 1998, S. 2202 <2203> im Rahmen einer Entscheidung nach
§ 57a StGB), dabei jedoch dem Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit in angemessener Weise Rechnung zu tragen
hat (vgl. BVerfGE 117, 71 <101 f.>).
29
b) Bei der nach § 57 Abs. 1 StGB zu treffenden Entscheidung handelt es sich um die Auslegung und Anwendung
von Gesetzesrecht, die Sache der Strafgerichte sind. Sie werden vom Bundesverfassungsgericht nur daraufhin
nachgeprüft, ob das Strafvollstreckungsgericht in objektiv unvertretbarer Weise vorgegangen ist oder die
verfassungsrechtliche Bedeutung und Tragweite eines Grundrechts - hier insbesondere des durch Art. 2 Abs. 2 Satz
2, 104 Abs. 1 und 2 GG verbürgten Freiheitsrechts - verkannt hat (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f., 96>; 72, 105
<113 ff.>).
30
Die aus dem Freiheitsrecht abzuleitenden Anforderungen richten sich insbesondere an die Prognoseentscheidung.
Für deren tatsächlichen Grundlagen gilt von Verfassungs wegen das Gebot bestmöglicher Sachaufklärung (vgl.
BVerfGE 70, 297 <309>). Es verlangt, dass der Richter die Grundlagen seiner Prognose selbständig bewertet,
verbietet mithin, dass er die Bewertung einer anderen Stelle überlässt. Darüber hinaus fordert es vom Richter, dass er
sich um eine möglichst breite Tatsachenbasis bemüht und sich so ein möglichst umfassendes Bild über die zu
beurteilende Person verschafft (vgl. BVerfGE 70, 297 <310 f.>; ferner jüngst BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des
Zweiten Senats vom 26. März 2009 - 2 BvR 2543/08 -, juris; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats
vom 30. April 2009 - 2 BvR 2009/08 -, NJW 2009, S. 1941 <1942>).
31
2. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen das verfassungsrechtliche Gebot bestmöglicher Sachaufklärung.
32
a) Das Landgericht hat das verfassungsrechtliche Gebot bestmöglicher Sachaufklärung verletzt, indem es davon
abgesehen hat, den früheren Anstaltspsychologen, mit dem der Beschwerdeführer über ein halbes Jahr lang
regelmäßig Gespräche zur Tat- und Deliktsaufarbeitung geführt hat, anzuhören.
33
Es ist schon für sich genommen naheliegend, dass ein Bericht des früheren Anstaltspsychologen wichtige
Anhaltspunkte für die Legalprognose ergeben und damit zu einem umfassenderen Bild des Verurteilten beitragen
kann. Jedenfalls unter den Besonderheiten des vorliegenden Falls konnte das Landgericht nicht ausschließen, dass
eine Vernehmung des Anstaltspsychologen zu einer für den Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung hätte führen
können.
34
Maßgebend für die Sozialprognose des Beschwerdeführers war die Frage, ob es ihm gelingen werde, sich in Freiheit
aus seiner bisherigen Verstrickung aus dem - vom Leiter der Justizvollzugsanstalt als mafiös organisierte Gruppe mit
strenger Hierarchie und strikter Sanktionierung jedes Abweichlertums beschriebenen - subkulturellen, kriminellen
Milieu zu lösen. Seinen diesbezüglichen Befund hatte der Sachverständige bei seiner mündlichen Anhörung mit den
Worten zusammengefasst, dass er dem Beschwerdeführer trotz der diagnostizierten dissozial-narzisstischen
Persönlichkeitsanteile zutraue, ein legales Leben zu führen, sofern er sich dazu entschließen wolle, und er im Übrigen
vor dem Hintergrund der Vergangenheit des Beschwerdeführers eine Gefahr straffälligen Verhaltens nur im
Zusammenwirken mit anderen - das heißt namentlich mit Angehörigen des bisherigen Milieus - sehe. Der
Beschwerdeführer hatte aber nennenswerte Bemühungen unternommen, um sich einerseits schon im Vollzug von
diesem - nach den Worten des Leiters der Justizvollzugsanstalt auch dort wirkungsvoll agierenden, weil
gewaltbereiten, dichten und abgeschotteten - subkulturellen Milieu zu distanzieren und um sich andererseits die
Möglichkeit eines legalen Gelderwerbs nach Haftentlassung aufzubauen mit dem Ziel, die im Vollzug begonnene
Distanzierung in Freiheit fortzusetzen und vor allem durchzuhalten. So hat der Beschwerdeführer zum einen sein
Vollzugsverhalten in auffälliger Weise geändert. Nachdem er während seines anfänglichen Aufenthalts in der
Justizvollzugsanstalt Weiterstadt noch in vielfacher Weise milieutypische Auffälligkeiten im Vollzugsverhalten - wie
Besitz von Haschisch, Bedrohung von Mitgefangenen und Besitz unerlaubter Gegenstände - gezeigt hatte, verhielt er
sich nach seiner Verlegung Anfang April 2007 in die Justizvollzugsanstalt Kassel nach der im Prognosegutachten des
Sachverständigen wiedergegebenen Stellungnahme der Anstalt vom 9. Januar 2008 hausordnungsgemäß. Damit war
es dem Beschwerdeführer immerhin gelungen, über einen Zeitraum von über acht Monaten milieutypische
Verhaltensweisen zu vermeiden. Hinzukommt, dass der Beschwerdeführer seine Verlegung innerhalb der
Justizvollzugsanstalt initiierte, die zu einer räumlichen Trennung von dem bisherigen Milieu führte. Auch dies konnte
als weiterer Nachweis für ein ernsthaftes Bemühen um Distanzierung von dieser - nach der Stellungnahme des Leiters
der Justizvollzugsanstalt gerade gegenüber Abweichlern rigorosen und gewaltbereiten - Gruppe verstanden werden.
Weiter hat der Beschwerdeführer - offenbar von sich aus - den Weg zum Anstaltspsychologen gesucht und mit
diesem über einen nicht unerheblichen Zeitraum von sechs Monaten 12 Gespräche geführt. Diese Gespräche dienten
auch nach den Angaben des Protokolls der Vollzugsplankonferenz der psychologischen Beratung und führten -
unterstellt man wie das Landgericht die Angaben im Schreiben vom 17. September 2008 als zutreffend - im Rahmen
einer Delikts- und Tataufbereitung zu Veränderungsprozessen beim Beschwerdeführer, die die Risikofaktoren deutlich
abschwächen. Schließlich hat der Beschwerdeführer mit dem Schweißerlehrgang, für den er finanzielle Einbußen bei
seinem Hausgeld durch geringeren Verdienst in Kauf genommen hat, seine Chancen auf einen legalen Gelderwerb in
Freiheit zumindest erhöht.
35
Bei diesen beträchtlichen - und angesichts der in der Stellungnahme des Leiters der Justizvollzugsanstalt
geschilderten Funktionsweise des subkulturellen Milieus nicht gering zu schätzenden - Anhaltspunkten für eine
Veränderung der Persönlichkeit im Sinne einer Emanzipation von dieser Gruppe war es für die Sozialprognose
ersichtlich von Bedeutung, wie ernsthaft es dem Beschwerdeführer um seine Loslösung aus den bisherigen, massiven
Verstrickungen zu tun ist und als wie tragfähig sich seine Bemühungen um Distanzierung im Vollzug unter den
besonderen Belastungen in Freiheit erweisen.
36
Dass die Vernehmung des Anstaltspsychologen geeignet sein konnte, gerade dazu Erkenntnisse zu liefern, musste
sich dem Landgericht jedenfalls nach dem Schreiben des Verteidigers des Beschwerdeführers vom 17. September
2008 aufdrängen. Das Schreiben enthielt zahlreiche konkrete Hinweise darauf, dass der Anstaltspsychologe weitere
Details über die konkrete Lebensplanung des Beschwerdeführers bekunden sowie Einschätzungen über die
Ernsthaftigkeit und Tragfähigkeit der bisherigen Distanzierungsbemühungen treffen kann. Angesichts der in das
Wissen des Anstaltspsychologen gestellten erheblichen Veränderungsprozesse beim Beschwerdeführer ist es
jedenfalls nicht auszuschließen, dass das Landgericht bei Vernehmung des Psychologen zu einer für den
Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung hätte kommen können. Dies gilt umso mehr, als das Landgericht das
Fehlen einer hinreichend positiven Sozialprognose weniger mit Zweifeln an der Glaubhaftigkeit der - aus Sicht des
Landgerichts von ernstzunehmender Distanzierung gegenüber dem bisherigen kriminellen Umfeld getragenen -
Einstellung des Beschwerdeführers begründet als vielmehr mit Zweifeln an deren Belastbarkeit. Diese Zweifel werden
aber in der Sache ausschließlich auf das Versagen des Beschwerdeführers in der Vergangenheit gestützt. Dagegen
wird die Aussagekraft seines Vollzugsverhaltens unter dem Gesichtspunkt der Emanzipation von dem subkulturellen
Milieu nicht angemessen in den Blick genommen. Bei solchermaßen begründeten Zweifeln an einer günstigen
Sozialprognose, die sich maßgeblich auf die zur Tat führenden Umstände und die strafrechtliche Vergangenheit des
Beschwerdeführers stützen, war die Vernehmung des Anstaltspsychologen zur Verbreiterung der Tatsachenbasis für
die Prognoseentscheidung verfassungsrechtlich unverzichtbar. Sie konnte zusätzliche wie aktuelle Erkenntnisse für
die Belastbarkeit der unter dem Eindruck der Haft eingetretenen Veränderung der Einstellung des Beschwerdeführers
versprechen.
37
Die mündliche Anhörung des Anstaltspsychologen war nicht deshalb entbehrlich, weil das Landgericht die
Darlegungen aus dem Schreiben des Verteidigers des Beschwerdeführers vom 17. September 2008 im Rahmen
seiner Gefahreneinschätzung (pauschal) als zutreffend unterstellt hat. Dabei kann dahinstehen, ob die Kammer sich -
wie der Beschwerdeführer meint - in der Begründung ihrer Entscheidung zu dieser „Wahrunterstellung“ in Widerspruch
gesetzt hat. Denn sie war unter den besonderen Umständen des Falles und unter Berücksichtigung der Tatsache,
dass die Einschätzung des Anstaltspsychologen offenbar nicht - wie sonst üblich - Eingang in die Stellungnahme der
Justizvollzugsanstalt gefunden hatte, in jedem Fall zur Anhörung des Psychologen verpflichtet: Von ihm waren - über
die in sein Wissen gestellten Umstände hinaus - durchaus weitere Angaben zu erwarten, die auch zu weiteren
Erkenntnissen über die von der Kammer in Zweifel gezogene Stabilität der Einstellung des Beschwerdeführers führen
konnten. So wie die Kammer sich auf die Angaben des Gutachters gestützt hat, der nach eigener Einschätzung
lediglich durch kriminologische Zusatzerkenntnisse vertiefte „Hinweise auf Regeln der allgemeinen Lebenserfahrung“
gegeben hat, war sie zur bestmöglichen Beurteilung der Persönlichkeit des Beschwerdeführers gehalten, auch die
tatsächlichen Erkenntnisse des Anstaltspsychologen zu berücksichtigen, der den Beschwerdeführer über einen
längeren Zeitraum und wohl auch intensiver als der Gutachter kennengelernt hatte. Aus diesem Grund konnte auch
die mündliche Anhörung, die sich mit den im Schreiben der Verteidigung vom 17. September 2008 dargelegten
Umständen befasst hat, einen Verzicht auf die Anhörung des früheren Anstaltspsychologen nicht rechtfertigen. Dem
Landgericht, das zuvor selbst dessen Ladung zum Termin in Betracht gezogen hatte, musste sich aufdrängen, dass
eine solche Erörterung, mag sie auch in Anwesenheit aller Verfahrensbeteiligten erfolgen, die verfassungsrechtlich
gebotene Anhörung des Anstaltspsychologen nicht ersetzen konnte.
38
b) Die Entscheidung des Oberlandesgerichts, die auf die Gründe der Ausgangsentscheidung Bezug nimmt, leidet
unter den gleichen verfassungsrechtlichen Mängeln. Diese werden auch durch die weiteren Erwägungen des Senats
nicht ausgeräumt. Insbesondere entfällt die Verletzung des Gebots bestmöglicher Sachaufklärung nicht mit Blick auf
das Argument des Senats, die Gespräche mit dem Sachverständigen hätten keinen therapeutischen Hintergrund
gehabt, weshalb seine zusätzliche Anhörung nicht erforderlich gewesen sei. Unabhängig von der Frage, ob die
Gespräche mit dem Anstaltspsychologen eine therapeutische Zielrichtung (im engeren Sinne) hatten, steht doch nach
dem Protokoll der Vollzugsplankonferenz vom 13. Dezember 2007 fest, dass der Beschwerdeführer jedenfalls
psychologische Beratung in Anspruch genommen hat. Damit war - wie oben dargelegt - gerade nicht auszuschließen,
dass die Vernehmung des Psychologen eine verlässlichere Beurteilung der entscheidenden Frage ermöglicht hätte, ob
die Bemühungen des Beschwerdeführers um Loslösung von dem kriminellen Milieu so tragfähig und belastbar sind,
dass sie das mit der bedingten Entlassung verbundene Restrisiko als vertretbar erscheinen lassen.
II.
39
Die Entscheidung über die Aufhebung und Zurückverweisung beruht auf § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2
BVerfGG.
III.
40
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 34 Abs. 2 BVerfGG.
Voßkuhle
Mellinghoff
Lübbe-Wolff