Urteil des BVerfG vom 29.10.2009

BVerfG: zugang, rechtliches gehör, verfassungsbeschwerde, absendung, widerspruchsverfahren, beweislast, post, gewalt, abweisung, kenntnisnahme

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 1729/09 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
der A...,
vertreten durch den Geschäftsführer,
gegen
a)
den Beschluss des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 2. Juni 2009 - L 9
B 64/09 AS NZB RG -,
b)
den Beschluss des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 25. Februar 2009 -
L 9 B 189/08 AS NZB -,
c)
das Urteil des Sozialgerichts Köln 13. Oktober 2008 - S 28 AS 78/08 -
hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterin Hohmann-Dennhardt
und die Richter Gaier,
Kirchhof
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S.
1473) am 29. Oktober 2009 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe:
1
Die Beschwerdeführerin, ein Träger der Grundsicherung für Arbeitssuchende, macht die Verletzung rechtlichen
Gehörs im Sinne von Art. 103 Abs. 1 GG in einem sozialgerichtlichen Klageverfahren geltend.
I.
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1. Die Beschwerdeführerin und ein Empfänger von Arbeitslosengeld II (im Folgenden: Leistungsempfänger) stritten
vor dem Sozialgericht über die Übernahme der Rechtsanwaltskosten, die dem Leistungsempfänger in einem
erfolgreichen Widerspruchsverfahren entstanden sind. Die Beschwerdeführerin hatte einen auf § 31 Abs. 2 SGB II
gestützten Bescheid über die Absenkung des Arbeitslosengeldes II wegen Versäumnis eines Meldetermins
aufgehoben, nachdem der anwaltlich vertretene Leistungsempfänger im Widerspruchsverfahren vorgetragen hatte, er
habe die Einladung zu dem Meldetermin nicht erhalten. Die Übernahme der im Widerspruchsverfahren entstandenen
Rechtsanwaltskosten lehnte sie mit der Begründung ab, die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten sei nicht im Sinne
von § 63 Abs. 2 SGB X notwendig gewesen, weil der Leistungsempfänger auf die vor Erlass des
Absenkungsbescheids durchgeführte schriftliche Anhörung nicht reagiert habe.
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Da der zuständige Kammervorsitzende in der beigezogenen Verwaltungsakte der Beschwerdeführerin lediglich ein
Anhörungsschreiben, nicht jedoch den Fragebogen, auf den im Anhörungsschreiben Bezug genommen und um
dessen Ausfüllung dort gebeten wurde, finden konnte, bat er die Beschwerdeführerin um Übersendung des
Fragebogens. Nach dessen Übersendung trug der Leistungsempfänger vor, er habe „den nunmehr im Klageverfahren
übersandten Anhörungsbogen“ nicht erhalten. Die Beschwerdeführerin wandte daraufhin unter anderem ein, da ein
Anhörungsschreiben inklusive des dazugehörigen Antwortschreibens automatisch zusammen zentral versandt werde,
sei es nahezu ausgeschlossen, das der Leistungsempfänger zwar das Anhörungsschreiben selbst, nicht jedoch das
dazugehörige Antwortschreiben erhalten haben wolle. Im Termin zur mündlichen Verhandlung wies sie nach einem
entsprechenden Hinweis des Kammervorsitzenden darauf hin, dass sich auf dem in der Akte befindlichen
Anhörungsschreiben kein Absendevermerk befinden könne, weil Anhörungsschreiben zentral versandt würden. Sie
trug weiterhin vor, dass der Leistungsempfänger nicht bestritten habe, das Anhörungsschreiben erhalten zu haben. Er
habe lediglich vorgetragen, dass er den Anhörungsbogen nicht erhalten habe. Sie glaube daher nicht, dass er das
Anhörungsschreiben selbst nicht erhalten habe.
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Das Sozialgericht verurteilte die Beschwerdeführerin ohne Zulassung der Berufung zur Übernahme der im
Widerspruchsverfahren entstandenen Rechtsanwaltskosten des Leistungsempfängers in Höhe von 309,40 Euro. Zur
Begründung führte es aus, die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten für das Widerspruchsverfahren sei in der Regel
notwendig. Es sei nicht erkennbar, dass im vorliegenden Fall im Hinblick auf den Vortrag der Beschwerdeführerin
andere Maßstäbe gelten könnten. Denn die Beschwerdeführerin verkenne, dass der Leistungsempfänger vorgetragen
habe, ein Anhörungsschreiben nicht erhalten zu haben. Die Beschwerdeführerin trage jedoch die Beweislast für den
Zugang des Anhörungsschreibens. Diesen Nachweis habe sie nicht führen können. Sie habe noch nicht einmal
nachweisen können, dass sie ein Anhörungsschreiben überhaupt abgesandt habe. Soweit sie die Auffassung vertrete,
die Ausführungen des Leistungsempfängers seien nicht glaubhaft, überzeuge dies nicht.
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Gegen die Entscheidung des Sozialgerichts legte die Beschwerdeführerin Nichtzulassungsbeschwerde ein und rügte
die Verletzung des Amtsermittlungsgrundsatzes. Das Sozialgericht habe den Sachverhalt passend gemacht, indem
es fälschlich behauptet habe, der Leistungsempfänger habe vorgetragen, ein Anhörungsschreiben nicht erhalten zu
haben. Es sei jedoch im gesamten Schriftverkehr stets zwischen dem Anhörungsschreiben und dem Anhörungsbogen
unterschieden worden. Weiterhin rügte sie, das Sozialgericht habe ihr gar nicht die Möglichkeit des Beweises des
Zugangs eröffnet, da es nur darauf abgestellt habe, dass in der Verwaltungsakte ein „Ab-Vermerk“ fehle. Ein solcher
könne jedoch in den Akten nicht vorhanden sein, da entsprechende Schreiben zentral von der Bundesagentur für
Arbeit in Nürnberg aus versandt würden. Nunmehr könne sie jedoch in Gestalt des Druckprotokolls aus Nürnberg den
Nachweis führen, dass das Anhörungsschreiben abgesendet worden sei.
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Das Landessozialgericht wies die Nichtzulassungsbeschwerde als unbegründet zurück. Zur Begründung führte es
aus, ein von der Beschwerdeführerin gerügter Verfahrensmangel liege nicht vor. Das Sozialgericht habe zutreffend
ausgeführt, dass die Beschwerdeführerin die Beweislast für den Zugang des Anhörungsschreibens trage; § 37 SGB X
gelte für ein Anhörungsschreiben nicht. Zu weiteren Ermittlungen habe sich das Sozialgericht schon deshalb nicht
gedrängt fühlen müssen, weil die Beschwerdeführerin ihrer Darlegungs- und Beweispflicht nicht nachgekommen sei.
Den Zugang des Anhörungsschreibens habe sie bis heute nicht nachgewiesen. Dem Senat sei auch nicht ersichtlich,
wie die Beschwerdeführerin zu dem Schluss komme, das Sozialgericht habe den Sachverhalt passend gemacht.
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Die hiergegen erhobene Anhörungsrüge wies das Landessozialgericht als unbegründet zurück. Dabei wies es
ergänzend darauf hin, zwischen der Absendung eines Schreibens und dessen Zugang sei zu differenzieren. Selbst
wenn man zu Gunsten der Beschwerdeführerin von der Absendung des Schreibens ausginge, sei damit gerade der
Zugang dieses Schreibens, den der Leistungsempfänger bestreite, weder dargelegt noch bewiesen.
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2. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin, das Sozialgericht habe von ihr etwas Unmögliches
verlangt, nämlich einen „Ab-Vermerk“ auf einem zentral über die Bundesagentur für Arbeit versandten Schreiben, ohne
ihr die Möglichkeit zu eröffnen, in dieser Frage einen tatsächlichen Beweis in Gestalt der Vorlage des Druckprotokolls
erbringen zu können. Sozialgericht und Landessozialgericht seien auch nicht auf ihren wesentlichen Tatsachenvortrag
eingegangen, nämlich dass der Leistungsempfänger den Zugang des Anhörungsschreibens nicht bestreite. Durch die
Vorlage des Druckprotokolls und in Verbindung mit dem Umstand, dass der Kläger bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt
den Zugang des Anhörungsschreibens nicht bestritten habe, wäre der geforderte Beweis erbracht worden.
II.
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Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen. Annahmegründe im Sinne von § 93a Abs. 2
BVerfGG liegen nicht vor. Der Verfassungsbeschwerde kommt keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung
zu, denn die von ihr aufgeworfenen Fragen sind in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung geklärt (vgl. etwa
BVerfGE 86, 133 <146>; 89, 381 <392 f.>; 96, 205 <216 f.>). Sie ist auch nicht zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1
BVerfGG genannten Rechte angezeigt, denn sie hat keine Aussicht auf Erfolg. Es spricht bereits viel dafür, dass die
Verfassungsbeschwerde unzulässig ist, weil die Beschwerdebegründung den Anforderungen von § 23 Abs. 1 Satz 2,
§ 92 BVerfGG nicht genügt. In jedem Fall ist die Verfassungsbeschwerde unbegründet.
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1. Die Beschwerdeführerin ist nicht in ihrem allein als verletzt gerügten grundrechtsähnlichen Recht auf rechtliches
Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG, auf das sie sich auch als Träger öffentlicher Gewalt berufen kann (vgl. BVerfGE
61, 82 <104 f.>), verletzt.
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a) Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin haben weder das Sozialgericht noch das Landessozialgericht
Art. 103 Abs. 1 GG dadurch verletzt, dass sie den wesentlichen „Tatsachenvortrag“ der Beschwerdeführerin, wonach
der Leistungsempfänger lediglich den Zugang des Fragebogens zum Anhörungsschreiben, nicht jedoch den Zugang
des Anhörungsschreibens selbst bestritten habe, übergangen, d.h. nicht zur Kenntnis genommen und erwogen haben.
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Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das zur Entscheidung berufene Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur
Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Es ist allerdings grundsätzlich davon auszugehen, dass das Gericht
das von ihm entgegengenommene Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat.
Das Gericht ist insbesondere nicht gehalten, sich in den Gründen der Entscheidung mit jedem Vorbringen zu
befassen. Art. 103 Abs. 1 GG bietet vor allem keinen Schutz gegen Entscheidungen, die den Sachvortrag eines
Beteiligten aus Gründen des formellen oder des materiellen Rechts teilweise oder ganz unberücksichtigt lassen (vgl.
BVerfGE 96, 205 <216>). Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist nur anzunehmen, wenn sich aus
den besonderen Umständen des Falls ergibt, dass das Gericht seiner Pflicht nicht nachgekommen ist (vgl. BVerfGE
69, 141 <144>; 79, 51 <62>; 86, 133 <146>). Besondere Umstände liegen etwa vor, wenn das Gericht auf den
wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags einer Partei zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung
ist, nicht eingeht, sofern er nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder aber offensichtlich
unsubstantiiert war (vgl. BVerfGE 86, 133 <146>).
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Auch wenn sich weder das Sozialgericht noch das Landessozialgericht ausdrücklich mit dem Vortrag der
Beschwerdeführerin, bei dem es sich im Übrigen nicht um eigenen Tatsachenvortrag, sondern um die Interpretation
des Tatsachenvortrags des Leistungsempfängers durch die Beschwerdeführerin gehandelt hat, auseinander gesetzt
haben, liegt nach diesen Grundsätzen eine Verletzung der Pflicht, das Vorbringen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis
zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, nicht vor.
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In der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht hat der Kammervorsitzende ausweislich des Protokolls
ausgeführt, es sei rechtlich unerheblich, ob der Leistungsempfänger den Tatsachenvortrag der Beschwerdeführerin
bestreite, da die Kammer von Amts wegen zu prüfen habe, ob das Anhörungsschreiben zugegangen sei. Dies zeigt
bereits, dass der Kammervorsitzende den Vortrag der Beschwerdeführerin offensichtlich zur Kenntnis genommen und
erwogen, ihn jedoch für rechtlich unerheblich gehalten hat.
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Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den Ausführungen im Urteil des Sozialgerichts, in dem es heißt, der
Leistungsempfänger habe vorgetragen, er habe ein Anhörungsschreiben von der Beschwerdeführerin nicht erhalten.
Offensichtlich hat das Sozialgericht den Vortrag des Leistungsempfängers von vornherein anders verstanden als die
Beschwerdeführerin und angenommen, dass der Leistungsempfänger nicht nur den Zugang des Fragebogens zum
Anhörungsschreiben, sondern implizit auch den Zugang des Anhörungsschreibens selbst bestritten hat. Eine solche
Interpretation liegt auch nahe. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Leistungsempfänger in gleicher
Weise wie die Beschwerdeführerin zwischen dem Anhörungsschreiben und dem diesem beigefügten Fragebogen
unterschieden hat. Zudem hat die Beschwerdeführerin selbst vorgetragen, dass das Anhörungsschreiben und der
Fragebogen üblicherweise zusammen in einem Umschlag versendet werden, so dass ein Zugang des
Anhörungsschreibens ohne den Fragebogen oder umgekehrt wenig plausibel erscheint. Nach dem Rechtsstandpunkt
des Sozialgerichts war die Interpretation des Vortrags des Leistungsempfängers durch die Beschwerdeführerin mithin
von vornherein unzutreffend und ihr Vortrag insoweit unerheblich, so dass in den Entscheidungsgründen nicht auf ihn
eingegangen werden musste.
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Auch das Landessozialgericht hat ausweislich seiner Ausführungen in der Entscheidung über die Anhörungsrüge
angenommen, dass der Leistungsempfänger den Zugang des Anhörungsschreibens selbst bestritten hat. In der
Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde ist es zudem ausdrücklich auf das Vorbringen der
Beschwerdeführerin, das Sozialgericht habe sich den Sachverhalt „passend gemacht“, indem es fälschlich behauptet
habe, der Leistungsempfänger habe vorgetragen, ein Anhörungsschreiben nicht erhalten zu haben, eingegangen. Es
hat dieses Vorbringen jedoch für nicht einleuchtend gehalten.
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Die Beschwerdeführerin ist letztlich auch selbst nicht davon ausgegangen, dass der Zugang des
Anhörungsschreibens - gegebenenfalls ohne den Fragebogen - „unstreitig“ sei. Ihre schriftlichen und mündlichen
Ausführungen zum angeblich fehlenden Bestreiten des Zugangs des Anhörungsschreibens selbst zielten vielmehr
darauf ab, die Glaubhaftigkeit des Vorbringens des Leistungsempfängers in Frage zu stellen. Mit diesem wesentlichen
Kern ihres Vorbringens hat sich das Sozialgericht in den Entscheidungsgründen des angegriffenen Urteils
ausdrücklich befasst. In der Sache wendet sich die Beschwerdeführerin dagegen, dass die Fachgerichte dem
angeblich fehlenden Bestreiten des Zugangs des Anhörungsschreibens keine rechtliche Relevanz, insbesondere bei
der Bewertung der Glaubhaftigkeit des Vortrags des Leistungsempfängers, beigemessen haben. Art. 103 Abs. 1 GG
verpflichtet die Gerichte jedoch nicht dazu, der Rechtsansicht eines Beteiligten zu folgen (vgl. BVerfGE 64, 1 <12>;
87, 1 <33>).
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b) Soweit die Beschwerdeführerin weiterhin rügt, die Fachgerichte hätten ihr den Nachweis der Absendung des
Schreibens durch das später im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde vorgelegte Druckprotokoll abgeschnitten,
ist Art. 103 Abs. 1 GG jedenfalls deshalb nicht verletzt, weil die angefochtenen Entscheidungen nicht auf dem geltend
gemachten Gehörsverstoß beruhen.
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Eine Entscheidung beruht nur dann auf einem Gehörsverstoß und verletzt damit Art. 103 Abs. 1 GG, wenn nicht
ausgeschlossen werden kann, dass das betreffende Gericht bei Kenntnisnahme und Berücksichtigung des angeblich
übergangenen Vorbringens eine für den Beschwerdeführer günstigere Entscheidung getroffen hätte (vgl. BVerfGE 62,
392 <396>; 89, 381 <392 f.>). Nach den Ausführungen in den angefochtenen Entscheidungen kann jedoch
ausgeschlossen werden, dass dem Begehren der Beschwerdeführerin auf Abweisung der Klage entsprochen worden
wäre, wenn sie das Druckprotokoll hinsichtlich des Anhörungsschreibens in das Verfahren hätte einführen können.
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Unabhängig davon, ob aus dem Druckprotokoll zwingend der Schluss gezogen werden kann, dass das Schreiben
tatsächlich versandt, d.h. ausreichend frankiert zur Post gegeben worden ist, haben sowohl das Sozialgericht als
auch das Landessozialgericht entscheidend darauf abgestellt, dass die Beschwerdeführerin den Zugang des
Anhörungsschreiben nicht habe nachweisen können. Ob die Beschwerdeführerin das Schreiben nachweislich
abgesandt hat oder nicht, war aus Sicht der Gerichte nicht erheblich. Entscheidend war aus ihrer Sicht allein, dass
selbst bei unterstellter Absendung der Zugang des Schreibens beim Leistungsempfänger weder dargelegt noch
bewiesen ist. Dies hat das Landessozialgericht in der Entscheidung über die Anhörungsrüge ausdrücklich klargestellt.
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Es kann dahinstehen, ob mit diesen ergänzenden Erwägungen ein etwaiger zuvor begangener Gehörsverstoß geheilt
worden ist (vgl. dazu BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 24. Februar 2009 - 1 BvR 188/09 -,
juris, Rn. 13 ff.). In jedem Fall geht auch aus den übrigen angefochtenen Entscheidungen hinreichend deutlich hervor,
dass selbst bei unterstellter Absendung des Anhörungsschreibens nach Auffassung der Fachgerichte nicht
feststünde, dass das Schreiben in den Machtbereich des Leistungsempfängers gelangt ist, und deshalb zu Lasten der
Beschwerdeführerin, die die Feststellungslast (materielle Beweislast) hinsichtlich des für sie günstigen Umstandes
des Zugangs des Schreibens trägt, davon auszugehen wäre, dass der Leistungsempfänger das Anhörungsschreiben
nicht erhalten hat.
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Das Landessozialgericht hat in der Entscheidung über die Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde
ausgeführt, dass die Zugangsvermutung des § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X für ein Anhörungsschreiben nicht gilt, und
deutlich gemacht, dass keine Vermutung dafür besteht, dass mit einfacher Post versandte Schreiben auch zugehen.
Dies entspricht im Übrigen der höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl. z.B. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des
Ersten Senats vom 15. Mai 1991 - 1 BvR 1441/90 -, juris, Rn. 13 m.w.N.).
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Das Sozialgericht hat zwar in dem angefochtenen Urteil ausgeführt, die Beschwerdeführerin habe noch nicht einmal
nachgewiesen, dass sie ein Anhörungsschreiben überhaupt abgesandt habe. Hierbei handelt es sich jedoch erkennbar
um eine nicht selbstständig tragende Hilfserwägung. Für die Entscheidung des Sozialgerichts tragend war die
Erwägung, dass die Beschwerdeführerin den Nachweis des Zugangs des Anhörungsschreibens nicht habe führen
können. Hieran würde nach der in dem angefochtenen Urteil zum Ausdruck gebrachten Rechtsauffassung des
Sozialgerichts der Nachweis der Absendung nichts ändern. Soweit die Beschwerdeführerin sinngemäß meint, den
protokollierten Ausführungen des Kammervorsitzenden in der mündlichen Verhandlung entnehmen zu können, dass
das Sozialgericht bei Nachweis der Absendung des Schreibens zumindest weitere Ermittlungsmaßnahmen
hinsichtlich seines Zugangs angestellt hätte, findet sich hierfür, unabhängig davon, dass es sich bei den
protokollierten Ausführungen des Kammervorsitzenden ebenfalls nur um Hilfserwägungen gehandelt haben dürfte,
jedenfalls in dem angefochtenen Urteil keine Grundlage. Wie auch das Landessozialgericht in der Entscheidung über
die Nichtzulassungsbeschwerde ausgeführt hat, kämen auch bei Nachweis der Absendung des Anhörungsschreibens
weitere Ermittlungsmaßnahmen von Amts wegen hinsichtlich des Zugangs des Schreibens nicht in Betracht. Etwaige
Beweismittel für den Zugang des Anhörungsschreibens hat die Beschwerdeführerin nicht benannt und sind auch nicht
ersichtlich. Hält man, wie das Sozialgericht, den Vortrag des Leistungsempfängers nicht von vornherein für
unglaubhaft und den Zugang des Anhörungsschreibens dementsprechend für nicht geklärt, d.h. für beweisbedürftig,
hätte die Beschwerdeführerin den erforderlichen Beweis des Zugangs nur führen können, wenn sie das Schreiben
etwa mittels Einschreiben und Rückschein versandt oder mit Postzustellungsurkunde zugestellt hätte. Diese - freilich
kostenaufwändigen -Möglichkeiten hätten ihr als Behörde im Sinne von § 1 Abs. 2 SGB X in Verbindung mit § 44b
Abs. 3 Satz 1 SGB II durchaus offen gestanden (vgl. Krasney, in: Kasseler Kommentar zum
Sozialversicherungsrecht, Juli 2009, § 65 SGB X, Rn. 2). Vor diesem Hintergrund haben die Fachgerichte, wie das
Landessozialgericht in der Entscheidung über die Anhörungsrüge zutreffend ausgeführt hat, von der
Beschwerdeführerin auch nichts Unmögliches verlangt.
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2. Die angefochtenen Entscheidungen verstoßen auch nicht gegen das Willkürverbot, das aufgrund des
Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3 GG) und des objektiv-rechtlichen Gehalts des Art. 3 Abs. 1 GG auch gegenüber
der Beschwerdeführerin als Träger öffentlicher Gewalt gewährleistet ist (vgl. BVerfGE 35, 263 <271 f.>; 89, 132
<141>), wobei dahinstehen kann, ob die Beschwerdeführerin einen entsprechenden Verstoß mit der
Verfassungsbeschwerde geltend machen könnte (vgl. insoweit auch BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten
Senats vom 26. Februar 2008 - 1 BvR 2327/07 -, juris, Rn. 14). Dass das Sozialgericht den Zugang des
Anhörungsschreibens für nicht bewiesen erachtet und insoweit eine Beweislastentscheidung getroffen hat, und dass
das Landessozialgericht insoweit einen Verfahrensfehler des Sozialgerichts verneint hat, ist nicht schlechthin
unvertretbar.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Hohmann-Dennhardt
Gaier
Kirchhof