Urteil des BVerfG vom 12.12.2007

BVerfG: literarisches werk, kunstfreiheit, persönlichkeitsrecht, lehrer, künstler, papier, gestaltung, unterordnung, presse, bibliothek

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 350/02 -
- 1 BvR 402/02 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerden
1. des Herrn H...,
gegen a) den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 18. Dezember 2001 - VI ZR 401/00 -,
b)
das Urteil des Oberlandesgerichts Hamm vom 20. September 2000 - 3 U 211/99 -
- 1 BvR 350/02 -,
2. des Herrn L...
gegen a) den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 18. Dezember 2001 - VI ZR 401/00 -,
b)
das Urteil des Oberlandesgerichts Hamm vom 20. September 2000 - 3 U 211/99 -
- 1 BvR 402/02 -
hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Präsidenten Papier,
die Richterin Hohmann-Dennhardt
und den Richter Hoffmann-Riem
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I
S. 1473) am 12. Dezember 2007 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerden werden verbunden und nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe:
1
1. Gegenstand der Verfassungsbeschwerden sind zivilgerichtliche Entscheidungen, durch die Klagen auf
Unterlassung und Entschädigung wegen der Verletzung des Persönlichkeitsrechts der Beschwerdeführer durch die
Veröffentlichung des autobiographischen Romans „Pestalozzis Erben“ abgewiesen wurden. Die Beschwerdeführer, die
Lehrer sind oder waren, sehen sich durch die Darstellung bestimmter Lehrer in dem umstrittenen Roman, die
Ähnlichkeiten zu ihnen aufwiesen, in ihrer Ehre verletzt.
2
2. Die Verfassungsbeschwerden sind nicht zur Entscheidung anzunehmen. Sie haben in der Sache keine Aussicht
auf Erfolg. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführer nicht in ihrem durch Art. 2 Abs. 1 in
Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG gewährleisteten allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Die von dem Oberlandesgericht
angestellte und von dem Bundesgerichtshof bestätigte Abwägung des Persönlichkeitsrechts der Beschwerdeführer
mit der durch Art. 5 Abs. 3 GG gewährleisteten Kunstfreiheit des Autors des Romans ist verfassungsrechtlich nicht
zu beanstanden.
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a) Geraten Persönlichkeitsrecht und Kunstfreiheit in Konflikt, so ist dem durch eine umfassende Abwägung
Rechnung zu tragen, die alle wesentlichen Gesichtspunkte berücksichtigt. Die Schwere der Beeinträchtigung des
Rechnung zu tragen, die alle wesentlichen Gesichtspunkte berücksichtigt. Die Schwere der Beeinträchtigung des
Persönlichkeitsrechts hängt dabei sowohl davon ab, in welchem Maß der Künstler es dem Leser nahelegt, den Inhalt
seines Werks auf wirkliche Personen zu beziehen, wie von der Intensität der Persönlichkeitsrechtsbeeinträchtigung,
wenn der Leser diesen Bezug herstellt.
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Zu den Spezifika erzählender Kunstformen wie dem Roman gehört, dass sie zwar häufig an reales Geschehen
anknüpfen, der Künstler dabei aber eine neue ästhetische Wirklichkeit schafft. Das erfordert eine kunstspezifische
Betrachtung zur Bestimmung des durch den Roman im jeweiligen Handlungszusammenhang dem Leser nahegelegten
Wirklichkeitsbezugs. Dabei ist zu beachten, ob und inwieweit das „Abbild“ gegenüber dem „Urbild“ durch die
künstlerische Gestaltung des Stoffs und seine Ein- und Unterordnung in den Gesamtorganismus des Kunstwerks so
verselbständigt erscheint, dass das Individuelle, Persönlich-Intime zugunsten des Allgemeinen, Zeichenhaften der
„Figur“ objektiviert ist. Ein literarisches Werk, das sich als Roman ausweist, ist zunächst als Fiktion anzusehen, die
keinen Faktizitätsanspruch erhebt. Diese Vermutung der Fiktionalität gilt im Ausgangspunkt auch dann, wenn hinter
den Romanfiguren reale Personen als Urbilder erkennbar sind. Zwischen dem Maß, in dem der Autor eine von der
Wirklichkeit abgelöste ästhetische Realität schafft und der Intensität der Verletzung des Persönlichkeitsrechts besteht
dabei eine Wechselbeziehung (vgl. BVerfG, Beschluss vom 13. Juni 2007 - 1 BvR 1783/05 -, Rn. 81 ff.,
www.bundesverfassungsgericht.de).
5
b) Nach diesen Maßstäben bestehen gegen die angegriffenen Entscheidungen keine verfassungsrechtlichen
Bedenken.
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Das Oberlandesgericht hat ausgeführt, die Passagen des Romans, in denen die Beschwerdeführer sich
wiedererkennen, seien nicht als persönliche Abrechnungen gerade mit den Beschwerdeführern zu lesen. Die
porträtierten Lehrer würden als Beispiele bestimmter Lehrertypen beschrieben, um Missstände und Merkwürdigkeiten
des gymnasialen Schulbetriebs aufzuzeigen.
7
Mit dieser Interpretation der umstrittenen Romanteile hat das Oberlandesgericht der aus der Kunstfreiheit folgenden
Vermutung der Fiktionalität eines literarischen Textes in nicht zu beanstandender Weise Rechnung getragen. In der
Folge konnten die Gerichte den Konflikt von Kunstfreiheit und Persönlichkeitsrecht im vorliegenden Fall ohne
Verfassungsverstoß zugunsten der Kunstfreiheit entscheiden.
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Demgegenüber dringen die Beschwerdeführer nicht mit dem Argument durch, sie würden in dem Roman verzerrt und
einseitig negativ dargestellt. Auf diese Weise machen sie dem Autor des Romans gerade die Fiktionalität seines
Werks zum Vorwurf. Damit, dass die Beschwerdeführer erkennbar Vorbilder der Romanfiguren Zuche und Albers sind,
ist noch nicht gesagt, dass der Roman seinem Leser nahelegt, alle Handlungen und Eigenschaften dieser Figuren den
Beschwerdeführern zuzuschreiben (vgl. BVerfG, a.a.O., Rn. 94). Für ein literarisches Werk, das an reale
Geschehnisse anknüpft, ist vielmehr typischerweise kennzeichnend, dass es tatsächliche und fiktive Schilderungen
vermengt. Unter diesen Umständen verfehlte es den Grundrechtsschutz solcher Literatur, wenn man die
Persönlichkeitsrechtsverletzung bereits in der Erkennbarkeit als Vorbild einerseits und in den negativen Zügen einer
Romanfigur andererseits sähe (vgl. BVerfG, a.a.O., Rn. 99).
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3. Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
10
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Papier
Hohmann-Dennhardt
Hoffmann-Riem