Urteil des BVerfG vom 15.01.1999

BVerfG: rechtliches gehör, staatssicherheit, faires verfahren, veröffentlichung, meinungsfreiheit, ausgabe, einstweilige verfügung, verfassungsbeschwerde, grundrecht, begriff

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 1274/92 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
der "a..." GmbH,
vertreten durch die Geschäftsführer
- Bevollmächtigte:
1. Rechtsanwalt Hans-Christian Ströbele,
Holsteiner Ufer 22, Berlin,
2. Professor Dr. Ulrich K. Preuß,
Eichendorffstraße 15, Bremen -
gegen a)
das Urteil des Kammergerichts
vom 14. Juli 1992 - 9 U 279/92 -,
b)
das Urteil des Landgerichts Berlin
vom 26. November 1991 - 27 O 728/91 -
hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den
Vizepräsidenten Papier
und die Richter Grimm,
Hömig
gemäß § 93 b in Verbindung mit § 93 a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I
S. 1473)
am 15. Januar 1999 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe:
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft zivilgerichtliche Entscheidungen, mit denen der Beschwerdeführerin die
Veröffentlichung der Gehaltsliste des Ministeriums für Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik unter
Nennung des Namens des Antragstellers des Ausgangsverfahrens untersagt worden ist.
I.
2
1. Die Beschwerdeführerin gab seit Januar 1990 die Wochenzeitung "a..." heraus. Im Zusammenhang mit der
Diskussion über das "Stasi-Unterlagen-Gesetz" (BGBl 1991 I S. 2272) veröffentlichte sie in einer Beilage zu der
Ausgabe vom 20. März 1991 (Nr. 12/91) die authentische Gehaltsliste des Ministeriums für Staatssicherheit der
Deutschen Demokratischen Republik.
3
Die Beilage wurde auf dem Titelblatt der Ausgabe mit der Schlagzeile "Die Hauptamtlichen" und der Unterzeile "Teil
1: Die oberen Zweitausend auf den Gehaltslisten der Stasi" angekündigt. Diese Überschriften kehren zu Beginn der
Beilage wieder. Auf den ersten beiden Seiten folgen vier namentlich gezeichnete Beiträge, die sich unter
verschiedenen Aspekten mit der Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit befassen. Seite III der Beilage ist mit der
Überschrift versehen: "Die oberen Zweitausend auf den Gehaltslisten der Stasi". Anschließend wird die Gehaltsliste
wiedergegeben, in der jeweils eine Schlüsselnummer, Geburtsdatum, Name und Jahresgehalt verzeichnet sind. Der
Antragsteller des Ausgangsverfahrens ist auf Seite IV der Beilage mit der Schlüsselnummer 308300 aufgeführt. Ab
Seite X ist der Diensteinheitenschlüssel abgedruckt, der die Zuordnung der einzelnen Schlüsselnummern zum
jeweiligen Organisationsbereich ermöglicht. Die dem Antragsteller zugeordnete Schlüsselnummer ist darin nicht
enthalten, so daß seine organisatorische Einordnung in den Staatssicherheitsdienst nicht erkennbar wird.
4
Der Abdruck der Stasi-Gehaltsliste wurde in den vier folgenden Ausgaben wiederholt. In die Ausgabe Nr. 15/91 vom
April 1991 war eine vom Antragsteller mitunterzeichnete "Erklärung von Mitarbeitern der Sportvereinigung 'Dynamo'"
eingerückt, daß die unter der Schlüsselnummer 308300 genannten Personen als Angestellte des Ministeriums des
Innern Mitarbeiter des sportmedizinischen Dienstes des SV Dynamo Berlin gewesen seien. Ihre Bezahlung habe sich
nach dem Dienstvertrag mit diesem Ministerium gerichtet. Wie 97 Prozent aller Angestellten in der Sportmedizin seien
sie zu keiner Zeit hauptamtliche Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit gewesen. Die finanztechnische
Gestaltung der Gehaltszahlung sei aufgrund einer Vereinbarung zwischen dem Ministerium des Innern und dem
Ministerium für Staatssicherheit erfolgt, die den Betroffenen nicht bekannt gewesen sei. Beim erneuten Abdruck des
Dokuments in der Ausgabe Nr. 24/91 vom 12. Juni 1991 wurden die beim SV Dynamo beschäftigten Personen
gesondert unter der Überschrift "SV Dynamo" zusammengestellt. Zusätzlich waren mehrere Namen - darunter auch
der Name des Antragstellers - mit einem Sternchen versehen, das auf die Erläuterung hinwies:
5
"a..." ist gerichtlich aufgefordert, die Gehaltslisten an dieser Stelle nicht ohne den Zusatz, daß die aufgeführte Person
lediglich als Arzt tätig war, abzudrucken.
6
2. a) Das Landgericht hat der Beschwerdeführerin mit Beschluß vom 26. September 1991 im Wege einstweiliger
Verfügung untersagt,
7
Namenslisten der hauptamtlichen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der ehemaligen DDR zu verbreiten,
in denen der Name des Antragstellers aufgenommen ist, oder in sonstiger Weise den Antragsteller in
Presseveröffentlichungen als ehemaligen hauptamtlichen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit zu
bezeichnen.
8
Der Widerspruch der Beschwerdeführerin blieb erfolglos. Das Landgericht hat die einstweilige Verfügung mit dem
angegriffenen Urteil bestätigt und zur Begründung im wesentlichen ausgeführt, dem Antragsteller stehe ein
Unterlassungsanspruch analog §§ 12, 862, 1004 BGB zu, weil es sich bei der Aussage, er sei hauptamtlicher
Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit gewesen, um eine unwahre Tatsachenbehauptung handele.
Wiederholungsgefahr sei zu vermuten, weil bereits ein Eingriff stattgefunden habe.
9
b) Das Kammergericht hat die Berufung der Beschwerdeführerin zurückgewiesen, weil zu befürchten sei, daß sie
den Antragsteller auch künftig wahrheitswidrig als früheren hauptamtlichen Mitarbeiter des Ministeriums für
Staatssicherheit bezeichnen werde.
10
Das Grundrecht auf Pressefreiheit rechtfertige es nicht, einen anderen der Wahrheit zuwider als in die
verbrecherischen Aktivitäten des Ministeriums für Staatssicherheit verstrickt anzuschwärzen. Auch das Grundrecht
auf Meinungsfreiheit könne einen solchen Vorwurf nicht rechtfertigen, weil es sich um eine unwahre
Tatsachenbehauptung handele, die den Schutz des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG nicht genieße. Ungeachtet der nach dem
Lohnniveau der Deutschen Demokratischen Republik weit überdurchschnittlichen Vergütung seiner Tätigkeit für die
"Sportvereinigung der Schutz- und Sicherheitsorgane der DDR 'Dynamo'" habe der Antragsteller nicht zu dem
Personenkreis der "hauptamtlichen Mitarbeiter" in dem Sinn gehört, wie dieser Begriff vom Publikum verstanden
werde. Die Beschwerdeführerin habe nicht dargelegt, daß der Antragsteller über seine Tätigkeit im sportmedizinischen
Dienst des SV Dynamo hinaus in das rechtsstaatswidrige Tun des Ministeriums für Staatssicherheit eingebunden
gewesen sei. Eben dieser Eindruck werde aber beim Leser erweckt, der die Gesamtheit der Beiträge und die
Gehaltsliste auf sich wirken lasse. Er müsse die "oberen Zweitausend" auf der Gehaltsliste zu denjenigen rechnen,
die unmittelbar in den Bespitzelungs- und Unterdrückungsapparat des Ministeriums für Staatssicherheit eingegliedert
waren und dessen "eigentliche Ziele" durch ihre Berufstätigkeit direkt unterstützt hätten.
11
Es könne dahingestellt bleiben, ob die Beschwerdeführerin zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung wegen des
öffentlichen Informationsinteresses in Wahrnehmung berechtigter Interessen gehandelt und ihre journalistische
Sorgfaltspflicht erfüllt habe. Selbst wenn man dies zu ihren Gunsten annehme, fehle es bei einer Wiederholung der
Veröffentlichung an der Wahrnehmung berechtigter Interessen, weil sie jetzt nicht mehr davon ausgehen dürfe, daß
der Antragsteller zu den von ihr an den Pranger gestellten "Hauptamtlichen" im Sinn des Leserverständnisses zähle.
Die Gefahr, daß die Behauptung gleichwohl wiederholt werde (Erstbegehungsgefahr), folge daraus, daß die
Beschwerdeführerin sich nach wie vor des Rechts berühme, in derselben Weise wie in der Ausgabe Nr. 12/91 über
den Antragsteller zu berichten, wie die ausführliche Erörterung gerade dieses Umstandes in der mündlichen
Verhandlung vor dem Senat erkennen lasse. Sie habe nicht eindeutig und unmißverständlich zum Ausdruck gebracht,
daß diese Berühmung ausschließlich ihrer Rechtsverteidigung gedient habe und nicht als Inanspruchnahme eines
Rechts zur Wiederholung der beanstandeten Meldung anzusehen gewesen sei. Die mündlichen Äußerungen des
Geschäftsführers und des Prozeßbevollmächtigten der Beschwerdeführerin hätten bei den beteiligten Richtern im
Gegenteil den Eindruck erweckt, daß die Beschwerdeführerin, die in einer kurz zuvor verhandelten Parallelsache die
Unzulässigkeit ihres Verhaltens eingesehen zu haben schien, sich für befugt halte, in der gerügten Art und Weise zu
berichten. Daher scheide eine Erstbegehungsgefahr auch nicht deshalb aus, weil die Beschwerdeführerin in der
Ausgabe Nr. 24/91 den Namen des Antragstellers mit einem erläuternden Zusatz versehen und unter der Überschrift
"SV Dynamo" veröffentlicht habe.
12
3. Die Beschwerdeführerin rügt die Verletzung ihrer Grundrechte auf Meinungs- und Pressefreiheit aus Art. 5 Abs. 1
Satz 1 und 2 GG, die Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG sowie einen Verstoß
gegen Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 6
EMRK.
13
a) Landgericht und Kammergericht hätten bei der Würdigung des Sachverhalts und bei der Einordnung der
Veröffentlichung als unwahre Tatsachenbehauptung den Grundrechtsschutz der Meinungsfreiheit unzulässig verkürzt.
14
Den angegriffenen Entscheidungen liege eine unzutreffende Deutung des Inhalts der Beilage zu "a..." Nr. 12/91
zugrunde. Es werde verkannt, daß sich die Überschrift "Die Hauptamtlichen" nicht direkt auf die Gehaltsliste beziehe.
Die Überschrift über der Gehaltsliste laute: "Die oberen Zweitausend auf der Gehaltsliste der Stasi". Dieser
Tatsachenteil der Veröffentlichung sei wahr. Demgegenüber beziehe sich die Überschrift von Seite I "Die
Hauptamtlichen" unmittelbar auf die auf den Seiten I und II abgedruckten Beiträge und Kommentare und lasse sich
allenfalls als Überschrift der gesamten Beilage, nicht nur der Gehaltsliste deuten. Landgericht und Kammergericht
hätten sich somit allein für die zur Verurteilung führende Deutung entschieden, ohne überzeugende Gründe für den
Ausschluß anderer, ebenfalls möglicher Deutungen zu geben.
15
Selbst wenn man die Überschrift "Die Hauptamtlichen" auf die Stasi-Gehaltsliste beziehe, handele es sich bei der
darin enthaltenen Aussage aber um eine Meinungsäußerung und nicht, wie die Gerichte annähmen, um eine
Tatsachenbehauptung. Der Begriff "Hauptamtlicher" beinhalte keine Tatsachenbehauptung, sondern sei der
zusammenfassende wertende Begriff für eine bestimmte Personenkategorie, nämlich derer, die vom Ministerium für
Staatssicherheit bezahlt worden seien und dabei ein weit überdurchschnittliches Einkommen bezogen hätten. Auch
die Erläuterungen des Begriffs in den angegriffenen Entscheidungen enthielten überwiegend wertende Elemente, die
gerade nicht dem Beweis zugänglich seien.
16
Hilfsweise rügt die Beschwerdeführerin, daß die Gerichte bei Unterstellung einer unrichtigen Tatsachenbehauptung
jedenfalls die nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gebotene Abwägung nicht vorgenommen hätten. Auch eine unrichtige
Tatsachenbehauptung falle nicht völlig aus dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG heraus. Im Rahmen der
Güterabwägung müsse das überragende Berichterstattungsinteresse Berücksichtigung finden.
17
b) Auch das Grundrecht auf Pressefreiheit sei verletzt, weil durch das Verbot in die spezifische Informationsaufgabe
der Presse eingegriffen werde. Bei der Veröffentlichung des Namens des Antragstellers im Rahmen einer Tabelle
handele es sich um eine wahre Tatsache, deren Veröffentlichung nicht gegen gesetzliche Vorschriften verstoße und
deshalb auch nicht untersagt werden könne. Im übrigen werde durch das Verbot der Überschrift in die
pressespezifische Freiheit der Gestaltung der Information eingegriffen.
18
c) Die Annahme einer Erstbegehungsgefahr durch das Kammergericht beruhe auf einer Verletzung des Anspruchs
auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG sowie des Rechts auf ein faires Verfahren aus Art. 20 Abs. 3 GG, Art.
6 EMRK in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG.
19
Die Beschwerdeführerin habe in der Berufungsinstanz schriftsätzlich vorgetragen, daß sie nach der Einführung des
Akteneinsichtsrechts der Betroffenen durch das Stasi-Unterlagen-Gesetz, das am 1. Januar 1992 in Kraft getreten ist,
keinen Anlaß für eine Veröffentlichung mehr sehe. Der Geschäftsführer habe eindringlich vorgetragen, daß eine
weitere Veröffentlichung nicht geplant, ja sogar völlig ausgeschlossen sei. Er habe dies mit der durch das Stasi-
Unterlagen-Gesetz veränderten Situation begründet.
20
Nach der Entscheidung des Kammergerichts in einem Parallelverfahren vom 31. Mai 1992 sei zudem in der
mündlichen Verhandlung auf die in der Ausgabe Nr. 24/91 praktizierte Form der Veröffentlichung hingewiesen worden.
Daß das Gericht gleichwohl den Eindruck gewonnen habe, es bestehe eine Erstbegehungsgefahr, sei in der
mündlichen Verhandlung nicht zum Ausdruck gekommen, sondern erstmals in der schriftlichen Urteilsbegründung
dargelegt worden. Das Kammergericht sei unter diesen Umständen verpflichtet gewesen, auf seinen - im Gegensatz
zum schriftsätzlichen Vortrag der Beschwerdeführerin stehenden - Eindruck und die darauf gegründete Annahme einer
Erstbegehungsgefahr hinzuweisen.
21
4. Die Berliner Senatsverwaltung für Justiz und der Antragsteller des Ausgangsverfahrens hatten Gelegenheit zur
Stellungnahme.
II.
22
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil die Annahmevoraussetzungen des § 93
a Abs. 2 BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) nicht vorliegen. Diese
sind gemäß Art. 8 des Fünften Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht vom 2.
August 1993 (BGBl I S. 1442) auch auf vorher anhängig gewordene Verfahren anzuwenden. Der
Verfassungsbeschwerde kommt keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung im Sinn von § 93 a Abs. 2
Buchstabe a BVerfGG zu. Die von ihr aufgeworfenen Fragen sind in der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts geklärt. Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist auch nicht zur
Durchsetzung der von der Beschwerdeführerin geltend gemachten Rechte angezeigt.
23
1. Das Urteil des Kammergerichts verstößt nicht gegen Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.
24
a) Da es um die Zulässigkeit der Veröffentlichung in der beanstandeten Form geht, ist das Urteil an dieser
Vorschrift, nicht am Grundrecht auf Pressefreiheit zu messen (vgl. BVerfGE 85, 1 <12 f.>).
25
Die Veröffentlichung der Stasi-Gehaltsliste fällt unabhängig von ihrer Einordnung als Meinungsäußerung oder
Tatsachenbehauptung in den Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. Meinungsäußerungen sind stets von Art. 5
Abs. 1 Satz 1 GG geschützt. Tatsachenbehauptungen genießen den Schutz der Meinungsfreiheit jedenfalls dann,
wenn sie der Meinungsbildung dienen (vgl. BVerfGE 61, 1 <8>; 94, 1 <7>). Das ist bei der Veröffentlichung, die im
Zusammenhang mit der Diskussion über das Stasi-Unterlagen-Gesetz stand, der Fall.
26
Der Grundrechtsschutz hängt auch nicht vom Wahrheitsgehalt der mitgeteilten Tatsachen ab. Nur diejenige
Tatsachenbehauptung, deren Unwahrheit dem sich Äußernden bekannt ist oder bereits im Zeitpunkt der Äußerung
feststeht, wird vom Schutzbereich des Grundrechts von vornherein nicht erfaßt (vgl. BVerfGE 61, 1 <8>; 90, 241
<247, 254>). Im übrigen ist die Wahrheitsfrage erst im Zusammenhang mit der Verfassungsmäßigkeit der
Grundrechtsbeeinträchtigung von Bedeutung. Im vorliegenden Fall handelt es sich weder um eine erwiesen noch um
eine evident wahrheitswidrige Tatsachenbehauptung. Die Authentizität der abgedruckten Gehaltsliste war vielmehr
unbestritten, und die Beschwerdeführerin ging davon aus, daß die auf der Gehaltsliste des Ministeriums für
Staatssicherheit stehenden Personen "hauptamtliche" Mitarbeiter dieser Institution gewesen waren.
27
b) Die Meinungsfreiheit findet ihre Schranken gemäß Art. 5 Abs. 2 GG in den allgemeinen Gesetzen, den
Bestimmungen zum Schutz der Jugend und dem Recht der persönlichen Ehre. Dazu gehören auch §§ 12, 862, 1004
BGB und § 186 StGB, auf die das Kammergericht seine Entscheidung gestützt hat und gegen deren
Verfassungsmäßigkeit keine Bedenken bestehen.
28
Auslegung und Anwendung dieser Normen sind Sache der Zivilgerichte. Sie haben dabei jedoch das Grundrecht der
Meinungsfreiheit zu berücksichtigen, damit dessen wertsetzende Bedeutung auch auf der Rechtsanwendungsebene
gewahrt bleibt (vgl. BVerfGE 7, 198 <208>). Das verlangt regelmäßig eine Abwägung zwischen den Einbußen, die der
Meinungsfreiheit im konkreten Fall durch die Anwendung der zivilrechtlichen Normen drohen, und den Gefahren, die
sich durch die Meinungsäußerung für das von den zivilrechtlichen Normen geschützte Rechtsgut ergeben.
29
Da das Gewicht der Meinungsfreiheit im Abwägungsvorgang davon abhängt, ob die Äußerung als Werturteil oder
Tatsachenbehauptung anzusehen ist und ob sie im Fall des Werturteils eine Formalbeleidigung oder Schmähkritik
darstellt und im Fall der Tatsachenbehauptung wahr oder falsch ist, unterliegt auch die Qualifizierung der umstrittenen
Äußerung
in
diesen
Hinsichten
verfassungsrechtlichen
Anforderungen,
deren
Einhaltung
vom
Bundesverfassungsgericht nachgeprüft werden kann (vgl. BVerfGE 82, 272 <281>).
30
Voraussetzung einer korrekten Anwendung der zivilrechtlichen Vorschriften auf die umstrittene Äußerung ist
allerdings, daß diese in ihrem Sinn zutreffend erfaßt worden ist, weil andernfalls Äußerungen entgegen Art. 5 Abs. 1
Satz 1 GG unterdrückt werden könnten, die bei zutreffendem Verständnis erlaubt gewesen wären (vgl.
zusammenfassend BVerfGE 93, 266 <295 ff.>). Das Bundesverfassungsgericht prüft freilich nur die Beachtung der
verfassungsrechtlichen Anforderungen nach, bestimmt aber nicht selbst, wie eine Äußerung zu verstehen ist (vgl.
BVerfGE 94, 1 <9 f.>).
31
c) Die angegriffene Entscheidung läßt sich verfassungsrechtlich unter keinem dieser Gesichtspunkte beanstanden.
32
(1) Die der rechtlichen Würdigung zugrunde liegende Deutung des Aussagegehalts der Beilage zu Nr. 12/91 von
"a..." hält der verfassungsrechtlichen Nachprüfung stand. Die Rüge der Beschwerdeführerin, das Kammergericht habe
die Beilagenüberschrift "Die Hauptamtlichen" fälschlich auf die ab Blatt III wiedergegebene Gehaltsliste bezogen,
greift nicht durch.
33
Die Interpretation des Kammergerichts, der Beilage sei die Behauptung zu entnehmen, der Antragsteller gehöre zu
den hauptamtlichen Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit, beruht auf der Annahme, die Schlagzeile "Die
Hauptamtlichen" beziehe sich auf die gesamte MfS-Gehaltsliste und kennzeichne damit die dort aufgeführten
Personen. Dieses Verständnis ist naheliegend. Die Schlagzeile "Die Hauptamtlichen Teil 1: Die oberen Zweitausend
auf den Gehaltslisten der Stasi" befindet sich bereits auf dem Titelblatt der Ausgabe Nr. 12/91 und macht auf die
Beilage und deren Inhalt aufmerksam. Es ist nicht ersichtlich, daß die auf Seite I der Beilage wiederholten
Überschriften eine andere Funktion haben könnten, als Thema und Inhalt der Beilage insgesamt zu charakterisieren.
Die Beschränkung der Überschrift "Die Hauptamtlichen" auf den redaktionellen Teil unter Ausschluß der MfS-
Gehaltsliste liegt demgegenüber derart fern, daß das Kammergericht sie als Deutung nicht in Betracht zu ziehen
brauchte.
34
(2) Auch die Einordnung der Äußerung als unwahre Tatsachenbehauptung ist verfassungsrechtlich nicht zu
beanstanden.
35
Mit dem Landgericht ist das Kammergericht davon ausgegangen, daß als "hauptamtlicher Mitarbeiter" nur
angesehen werde, wer in das "rechtsstaatswidrige Tun des Ministeriums für Staatssicherheit eingebunden war". Dies
finde eine Bestätigung in dem einleitenden Artikel zur Beilage, aus dem sich ebenfalls ergebe, daß mit den
"Hauptamtlichen" diejenigen Personen gemeint seien, die "unmittelbar in den Bespitzelungs- und
Unterdrückungsapparat des Ministeriums für Staatssicherheit eingegliedert waren und dessen eigentliche Ziele durch
ihre Berufstätigkeit direkt unterstützten".
36
Dieses Verständnis trägt dem Umstand Rechnung, daß im Rahmen der Prüfung, ob eine Äußerung eine
ehrverletzende Wirkung hat, primär darauf abzustellen ist, wie die Äußerung vom Empfänger, hier also dem
Durchschnittsleser der Zeitschrift, verstanden wird. Wie die Äußerung subjektiv gemeint war, ist demgegenüber von
sekundärer Bedeutung, weil das Verständnis des Adressatenkreises vom durchschnittlichen, faktischen
Sprachgebrauch bestimmt wird. Dieser weist aber in die vom Kammergericht angenommene Richtung.
37
Ausgehend von diesem Begriff des "hauptamtlichen Mitarbeiters" konnte das Kammergericht verfassungsrechtlich
unbeanstandet annehmen, daß in der Äußerung die tatsächlichen Elemente bei weitem überwiegen (vgl. BVerfGE 85,
1 <15>). Ob der Antragsteller des Ausgangsverfahrens "unmittelbar in den Bespitzelungs- und Unterdrückungsapparat
des MfS eingegliedert" und über seine Tätigkeit als Arzt im sportmedizinischen Dienst des SV Dynamo hinaus "in das
rechtsstaatswidrige Tun des MfS eingebunden" war, ist eine Frage, die anhand objektiver Kriterien beantwortet werden
kann und deshalb dem Beweis zugänglich ist.
38
Bedenkenfrei ist auch die Feststellung, daß die Tatsachenbehauptung unwahr sei, weil der Kläger des
Ausgangsverfahrens im Sinn der zuvor gegebenen Begriffsbestimmung kein hauptamtlicher Mitarbeiter des
Ministeriums für Staatssicherheit gewesen sei.
39
(3) Schließlich enthalten die angegriffenen Entscheidungen auch kein verfassungsrechtlich erhebliches
Abwägungsdefizit.
40
Im Rahmen der Abwägung zwischen den Belangen der Meinungsfreiheit und des Persönlichkeitsschutzes ist zu
berücksichtigen, daß Tatsachenbehauptungen auch dann von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG geschützt sein können, wenn
sie sich nachträglich als falsch herausstellen. Zwar ist jeder, der Tatsachenbehauptungen zum Nachteil Dritter
aufstellt, zur Wahrheit verpflichtet. Das gilt wegen der großen Breitenwirkung in besonderem Maß für die Medien.
Doch führt die Unwahrheit einer Tatsachenbehauptung nicht automatisch zum Vorrang des Persönlichkeitsschutzes.
Vielmehr darf die Wahrheitspflicht nicht übersteigert werden, weil sonst eine Einschränkung und Lähmung des
Kommunikationsprozesses zu befürchten wäre (vgl. BVerfGE 54, 208 <220>; 61, 1 <8>; 85, 1 <15, 22>).
41
Deshalb kommt es für die Frage der Rechtmäßigkeit einer Erstveröffentlichung maßgeblich darauf an, ob der sich
Äußernde den Sorgfaltspflichten genügt hat, die bei der Mitteilung nachteiliger Tatsachen über Dritte beachtet werden
müssen. Sind diese erfüllt, ist die Tatsachenbehauptung im Zeitpunkt der Äußerung berechtigterweise aufgestellt
worden. Eine Verurteilung zur Unterlassung wegen der Erstveröffentlichung kommt dann, weil mangels eines
rechtswidrigen Eingriffs eine tatsächliche Vermutung für das Vorliegen einer Wiederholungsgefahr nicht besteht, nur in
Betracht, wenn sich konkret eine Erstbegehungsgefahr feststellen läßt (vgl. BGH, VersR 1986, S. 1075 <1077>;
BGH, AfP 1987, S. 597 <599>). Da es kein berechtigtes Interesse an der Aufrechterhaltung der Tatsachenbehauptung
mehr gibt, nachdem diese sich als unwahr erwiesen hat (vgl. BVerfGE 97, 125 <149>), kann für die Zukunft eine
Unterlassungsverpflichtung ausgesprochen werden, wenn der sich Äußernde trotz erwiesener Unwahrheit weiterhin an
seiner Behauptung festhalten will und dadurch eine Erstbegehungsgefahr gegeben ist.
42
Diesen Grundsätzen ist zwar das Landgericht nicht gerecht geworden, indem es allein die Unrichtigkeit der
Tatsachenbehauptung für die Unterlassungsverpflichtung hat ausreichen lassen und ohne Prüfung der Rechtmäßigkeit
der Erstveröffentlichung eine Wiederholungsgefahr angenommen hat. Jedoch hat das Kammergericht diesen Fehler
geheilt, weil es zugunsten der Beschwerdeführerin davon ausgegangen ist, daß sie bei der Erstveröffentlichung nicht
rechtswidrig gehandelt hat. Es hat auch die aus dieser Unterstellung gebotene Konsequenz gezogen und den
Unterlassungsanspruch nicht wegen Wiederholungsgefahr, sondern aufgrund einer Erstbegehungsgefahr für begründet
erachtet. Ob es diese Gefahr zu Recht angenommen hat, beurteilt sich nicht nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.
43
2. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist auch nicht zur Durchsetzung des Anspruchs der
Beschwerdeführerin auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG angezeigt.
44
Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet die Gerichte, die Ausführungen der Prozeßbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in
Erwägung zu ziehen. Grundsätzlich verlangt er jedoch weder ein Rechtsgespräch (vgl. BVerfGE 31, 364 <370>) noch
einen Hinweis auf die Rechtsauffassung des Gerichts (vgl. BVerfGE 66, 116 <147>; 74, 1 <5>). Eine dem
verfassungsrechtlichen Anspruch genügende Gewährung rechtlichen Gehörs setzt aber voraus, daß der
Verfahrensbeteiligte bei Anwendung der von ihm zu verlangenden Sorgfalt zu erkennen vermag, auf welchen
Tatsachenvortrag es für die Entscheidung ankommen kann. Es stellt deshalb eine Verletzung des Anspruchs auf
rechtliches Gehör dar, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis Anforderungen an den Sachvortrag stellt oder auf
einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozeßbeteiligter - selbst
unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen - nicht zu rechnen brauchte, so daß dies im
Ergebnis der Verhinderung eines Vortrags gleichkommt (vgl. BVerfGE 84, 188 <190>; 86, 133 <144 f.>).
45
Diesen Anforderungen hätte das Kammergericht nicht genügt, wenn die Beschwerdeführerin in der mündlichen
Verhandlung unmißverständlich und eindeutig zum Ausdruck gebracht haben sollte, daß sie keinesfalls eine erneute
Veröffentlichung beabsichtige, und wenn sie - was schriftsätzlich nicht geschehen war - als ausschließlichen Grund
für die Veränderung ihres Prozeßverhaltens gegenüber den Parallelverfahren, in denen sie Unterlassungserklärungen
abgegeben hatte, das Ziel des Obsiegens im Verfahren verdeutlicht haben sollte. Ob dies der Fall ist, läßt sich indes
weder dem Protokoll zur mündlichen Verhandlung noch dem Urteil mit Sicherheit entnehmen.
46
Aber auch wenn hiervon zugunsten der Beschwerdeführerin ausgegangen würde, stünde der Annahme der
Verfassungsbeschwerde insoweit jedenfalls entgegen, daß der geltend gemachte Verfassungsverstoß kein
besonderes Gewicht hätte und die Beschwerdeführerin auch nicht existentiell beträfe (vgl. zu diesen Erfordernissen
BVerfGE 90, 22 <25>). Anhaltspunkte dafür, daß das Kammergericht die Gewährleistung des Art. 103 Abs. 1 GG
verkannt, mit ihr leichtfertig umgegangen sein oder sonst kraß rechtsstaatliche Grundsätze verletzt haben könnte,
sind nicht ersichtlich. Auch eine für die Beschwerdeführerin existentielle Belastung ist nicht gegeben. Da die weitere
Verbreitung der Behauptung nicht statthaft ist, wirkt sich die Bejahung der Erstbegehungsgefahr zu Lasten der
Beschwerdeführerin nur hinsichtlich der für sie nachteiligen Kostenentscheidung aus. Hierdurch ist die
Beschwerdeführerin nicht existentiell betroffen. Hätte die Berufung mangels Vorliegens einer Erstbegehungsgefahr
Erfolg gehabt, so wäre die Beschwerdeführerin lediglich von den erstinstanzlichen Kosten in Höhe von rund 4.500 DM
verschont geblieben. Die Kosten des Berufungsverfahrens hätte sie mangels Vortrags zur Erstbegehungsgefahr in
erster Instanz gem. § 97 Abs. 2 ZPO in jedem Fall zu tragen gehabt. Es gibt keinen Anhaltspunkt, daß die
Kostenbelastung in Höhe von 4.500 DM existentielle wirtschaftliche Bedeutung für die Beschwerdeführerin hat. Eine
höhere Belastung ergibt sich auch nicht daraus, daß nach den Angaben der Beschwerdeführerin noch zehn weitere
Parallelfälle zur Entscheidung anstehen. Die Beschwerdeführerin hat es in diesen Fällen in der Hand, sich
gegebenenfalls durch ergänzenden Vortrag zur Frage der Erstbegehungsgefahr eindeutig und zweifelsfrei zu erklären.
47
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Papier
Grimm
Hömig