Urteil des BVerfG vom 13.08.2012

BVerfG: rente, verfassungsbeschwerde, akte, berufsunfähigkeit, wiederholungsgefahr, rechtsschutz, gerichtsverfahren, ausstattung, überlastung, angemessenheit

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 1098/11 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
der Frau M…
gegen die Dauer des Verfahrens S 8 RA 166/03 vor dem Sozialgericht
Bremen
hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten Kirchhof,
den Richter Schluckebier
und die Richterin Baer
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11.
August 1993 (BGBl I S. 1473) am 13. August 2012 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe:
A.
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Dauer eines erstinstanzlichen sozialgerichtlichen
Verfahrens.
I.
2
1. Die Beschwerdeführerin begehrte gegenüber dem zuständigen Rentenversicherungsträger
die Gewährung von Rente wegen Berufs- und wegen Erwerbsunfähigkeit. Nachdem der
Rentenversicherungsträger ihr eine Rente wegen Berufsunfähigkeit gewährt, aber den Antrag
auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit abgelehnt hatte, erhob sie am 12.
September 2003 Klage beim Sozialgericht mit dem Ziel der Gewährung von Rente wegen
Erwerbsunfähigkeit.
3
Nach Eingang der Klageerwiderung, Einholung einer Arbeitgeberauskunft durch das
Sozialgericht sowie Eingang einer hierzu angeforderten Stellungnahme der Beklagten des
Ausgangsverfahrens teilte das Sozialgericht den Beteiligten mit Schreiben vom 11. Februar
2004 mit, dass das Gericht den Sachverhalt für aufgeklärt halte und bis zur Anberaumung eines
Termins zur mündlichen Verhandlung keine weiteren Maßnahmen treffen werde. Auf eine beim
Sozialgericht am 23. Februar 2004 eingegangene Anfrage der Beschwerdeführerin, „wann in
etwa“ mit der Anberaumung eines Termins zur mündlichen Verhandlung zu rechnen sei,
reagierte das Sozialgericht Anfang März 2004 mit einer Antwort, deren Inhalt sich der Akte des
Sozialgerichts nicht entnehmen lässt. In der Folgezeit wurde das Verfahren weder durch das
Sozialgericht noch durch die Beschwerdeführerin betrieben.
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Mit Schreiben vom 23. August 2006 erbat die Beklagte des Ausgangsverfahrens beim
Sozialgericht die Rückgabe ihrer eigenen Akte zur Erledigung von Verwaltungsarbeiten, die ihr
sodann am 4. September 2006 übersandt wurde. Die Akte ging am 8. März 2007 wieder beim
Sozialgericht ein. Zugleich legte die Beklagte des Ausgangsverfahrens einen Bescheid vor, in
dem die Rente wegen Berufsunfähigkeit neu berechnet worden war. Dieser Bescheid – so die
Beklagte – sei nach § 96 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Gegenstand des Klageverfahrens
geworden.
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Am 17. April 2007 bestimmte das Sozialgericht Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 15.
Mai 2007. Am 25. April 2007 legte die Beklagte des Ausgangsverfahrens dem Sozialgericht
erneut unter Hinweis auf § 96 Abs. 1 SGG einen Bescheid vor, in dem die Rente wegen
Berufsunfähigkeit neu berechnet worden war.
6
Mit Schreiben vom 26. April 2007 hob das Gericht den Termin zur mündlichen Verhandlung auf
Antrag des Bevollmächtigten der Beschwerdeführerin wieder auf und fragte bei ihr an, ob am
Klagebegehren festgehalten werde, obwohl der Beschwerdeführerin aufgrund Hinzuverdienstes
ein Zahlbetrag für eine Erwerbsunfähigkeitsrente ohnehin nicht zustünde. Das Sozialgericht
bezog sich insoweit auf die beiden die Berufsunfähigkeitsrente betreffenden
Neuberechnungsbescheide.
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Nach Eingang der Antwort der Beschwerdeführerin, dass sie an ihrer Klage festhalte, und nach
Einholung einer Stellungnahme der Beklagten des Ausgangsverfahrens und einer weiteren
Stellungnahme der Beschwerdeführerin, die beim Sozialgericht am 11. März 2008 einging,
bestimmte das Sozialgericht am 10. Oktober 2008 Termin zur mündlichen Verhandlung auf den
5. November 2008. An diesem Tag wies das Sozialgericht die Klage ab.
8
2. Die Berufung wurde vom Landessozialgericht mit Urteil vom 27. Januar 2010 zurückgewiesen.
Die vom Landessozialgericht zugelassene Revision wurde vom Bundessozialgericht mit
Beschluss vom 8. Februar 2011 verworfen.
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3. Nachdem die Beschwerdeführerin ihre Verfassungsbeschwerde teilweise zurückgenommen
hat, wendet sie sich nur noch gegen die Dauer des erstinstanzlichen Verfahrens und rügt eine
Verletzung ihres Grundrechts aus Art. 19 Abs. 4 GG. Die Beschwerdeführerin ist der Ansicht,
dass ihr weitere überlange Gerichtsverfahren drohen, also eine Wiederholung der behaupteten
Grundrechtsverletzung zu befürchten sei.
II.
10
Zu der Verfassungsbeschwerde haben der Senator für Justiz und Verfassung der Freien
Hansestadt Bremen und als Beklagte des Ausgangsverfahrens die Deutsche
Rentenversicherung Bund Stellung genommen.
11
1. Der Senator für Justiz und Verfassung der Freien Hansestadt Bremen verweist für den
Zeitraum vom 24. Februar 2004 bis zum 4. September 2006 auf personelle, auch durch längere
Arbeitsunfähigkeitszeiten bedingte Engpässe im richterlichen Bereich bei gleichzeitig hohen
Verfahrenszahlen beim Sozialgericht. Für Verfahrensverzögerungen außerhalb des genannten
Zeitraums sehe er keine erheblichen Anhaltspunkte.
12
2. Die Deutsche Rentenversicherung Bund verweist darauf, dass das Sozialgericht zu dem
Begehren der Beschwerdeführerin, abgesehen von der Anfrage bei deren Arbeitgeber, keinerlei
Ermittlungen angestellt habe. Insbesondere seien zu keinem Zeitpunkt medizinische Gutachten
in Auftrag gegeben oder Befundberichte angefordert worden. Auch das schließlich ergangene
Urteil des Sozialgerichts setze sich mit der Frage der Erwerbsunfähigkeit nicht auseinander. Das
Sozialgericht habe also in einem mehr als fünfjährigen Verfahrenszeitraum zum Begehren der
Beschwerdeführerin anfangs gar keine, mindestens aber unzureichende Ermittlungen
durchgeführt, um es dann ab dem Jahr 2007 völlig aus den Augen zu verlieren. Es habe sich mit
dem Rentenbegehren nicht einmal befasst, als die Beschwerdeführerin es in der mündlichen
Verhandlung vom 5. November 2008 mit ihrem Antrag bekräftigt habe. Diese Herangehensweise
habe dazu geführt, dass auch die nachfolgenden Instanzen das auf Zahlung von Rente wegen
Erwerbsunfähigkeit gerichtete Begehren der Beschwerdeführerin nicht mehr erörtert hätten.
Stattdessen habe sich das Sozialgericht seit dem Jahr 2007 ausschließlich mit der Frage
befasst, ob die Deutsche Rentenversicherung Bund befugt gewesen sei, die ohnehin bewilligte
und damit gar nicht in Streit stehende Rente der Beschwerdeführerin wegen Berufsunfähigkeit
neu festzustellen und die Erstattung von Überzahlungen geltend zu machen. Der Bescheid über
die Bewilligung von Berufsunfähigkeitsrente, der während des Gerichtsverfahrens mehrfach
geändert worden sei, sei gar nicht Gegenstand der Klage gewesen. Vielmehr sei nur der
Bescheid streitgegenständlich gewesen, mit dem festgestellt worden sei, dass ein Anspruch der
Beschwerdeführerin auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nicht bestehe.
III.
13
Die Akte des Ausgangsverfahrens hat dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen.
B.
14
Die Verfassungsbeschwerde, die sich nur noch gegen die Dauer des erstinstanzlichen
Verfahrens richtet, nachdem die Beschwerdeführerin sie im Übrigen zurückgenommen hat (vgl.
zur Zulässigkeit der Teilrücknahme BVerfGE 126, 1 <17 f.>), ist nicht zur Entscheidung
anzunehmen, weil die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegen.
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Zwar begegnet die Dauer des Verfahrens vor dem Sozialgericht mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 Satz
1 GG erheblichen Bedenken (unter I.). Jedoch kann dahinstehen, ob und inwieweit der Umstand,
dass die Beschwerdeführerin selbst zu keinem Zeitpunkt gegenüber dem Sozialgericht die
weitere Bearbeitung des Verfahrens angemahnt hat, für die Frage, ob Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG
verletzt ist, von Bedeutung ist. Denn die Verfassungsbeschwerde ist jedenfalls mangels
Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig (unter II.).
I.
16
1. Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gewährleistet nicht nur das formelle Recht, die Gerichte gegen
Handlungen der öffentlichen Gewalt anzurufen, sondern auch die Effektivität des
Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 93, 1 <13>). Wirksamer Rechtsschutz bedeutet auch
Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit (vgl. BVerfGE 55, 349 <369>; 93, 1 <13>). Dem
Grundgesetz lassen sich allerdings keine allgemein gültigen Zeitvorgaben dafür entnehmen,
wann von einer unangemessenen Verfahrensdauer auszugehen ist. Vielmehr ist die
Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens nach den besonderen Umständen des einzelnen
Falles zu bestimmen (vgl. BVerfGE 55, 349 <369>). Dabei können insbesondere die
Schwierigkeit der zu entscheidenden Materie, die Notwendigkeit von Ermittlungen in
tatsächlicher Hinsicht, die Bedeutung des Verfahrens für die Prozessbeteiligten sowie deren
eigenes Prozessverhalten von Bedeutung sein.
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2. Vor diesem Hintergrund ist die Dauer des Verfahrens vor dem Sozialgericht nicht mehr
angemessen gewesen. Insbesondere ist es bei einer isolierten Betrachtung mit Art. 19 Abs. 4
Satz 1 GG unvereinbar, dass das Sozialgericht das Verfahren über einen Zeitraum von 30
Monaten nicht mehr bearbeitet hat, obwohl es den Beteiligten im Februar 2004 mitgeteilt hatte,
dass es die Ermittlungen für abgeschlossen halte. Zwar lässt sich der Verfassung keine konkrete
Vorgabe dafür entnehmen, innerhalb welchen Zeitraums nach Abschluss der gerichtlichen
Ermittlungen es zu einer mündlichen Verhandlung kommen muss. Aber jedenfalls ein Abwarten
von 30 Monaten genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht.
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Im Übrigen ist auch im weiteren Verlauf das Verfahren seitens des Sozialgerichts in einer Weise
gehandhabt worden, die – wenn man das Verhalten der Beschwerdeführerin ausblendet – mit
Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht zu vereinbaren ist. Zwar lagen dem Sozialgericht zwischen Ende
August 2006 und März 2007 die Verwaltungsakten der Beklagten des Ausgangsverfahrens nicht
vor, weil die Akten anforderungsgemäß an die Beklagte übersandt worden waren. Das
Sozialgericht war hierdurch aber nicht daran gehindert, Ermittlungen zur Aufklärung des
Sachverhalts durchzuführen oder das Verfahren abzuschließen, wenn es weitere Ermittlungen
weiterhin nicht für notwendig erachtet hätte. Angesichts der zum damaligen Zeitpunkt bereits
erheblichen Dauer des Verfahrens hätte es nötigenfalls Kopien der Verwaltungsakte anlegen
müssen. Die verfassungsrechtlich relevante Untätigkeit des Sozialgerichts war erst mit der am
17. April 2007 erfolgten, kurz darauf auf Antrag des Bevollmächtigten der Beschwerdeführerin
aufgehobenen Bestimmung eines Termins zur mündlichen Verhandlung für den 15. Mai 2007
beendet, bevor zwischen dem 11. März 2008 und der Terminsbestimmung am 10. Oktober 2008
erneut eine – vor dem Hintergrund der inzwischen erreichten Verfahrensdauer erhebliche –
Phase der gerichtlichen Untätigkeit folgte.
19
Soweit der Senator für Justiz und Verfassung der Freien Hansestadt Bremen auf die knappe
personelle Ausstattung des Sozialgerichts verweist, führt dies zu keiner anderen Beurteilung.
Die Überlastung eines Gerichts fällt – anders als unvorhersehbare Zufälle oder schicksalhafte
Ereignisse – in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft (vgl. BVerfGE
36, 264 <275>). Es obliegt in ihrem Zuständigkeitsbereich den Ländern, für eine hinreichende
materielle und personelle Ausstattung der Gerichte zu sorgen, damit diese ihrem
Rechtsprechungsauftrag in einer Weise nachkommen können, die den Anforderungen des
Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG genügt (vgl. BVerfGE 36, 264 <275>; Ibler, in: Friauf/Höfling, Berliner
Kommentar zum GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 25 ; Huber, in: von
Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2010, Art. 19 Rn. 380). Die Länder müssen dabei
gegebenenfalls auch auf längere Arbeitsunfähigkeitszeiten beim richterlichen Personal durch
geeignete Maßnahmen reagieren.
II.
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Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen. Die Beschwerdeführerin
hat angesichts des Umstandes, dass das fachgerichtliche Verfahren inzwischen abgeschlossen
ist, kein Rechtsschutzbedürfnis mehr für das Ziel, eine überlange Verfahrensdauer durch das
Bundesverfassungsgericht feststellen zu lassen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des
Ersten Senats vom 24. August 2010 – 1 BvR 331/10 –, juris, Rn. 16). Ein solches
Rechtsschutzbedürfnis kann insbesondere nicht durch die von der Beschwerdeführerin
behauptete Gefahr, dass es in zukünftigen, von ihr geführten sozialgerichtlichen Verfahren
erneut zu einer überlangen Verfahrensdauer komme, begründet werden. Zwar hat das
Bundesverfassungsgericht unter der früheren Rechtslage ein fortbestehendes
Rechtsschutzbedürfnis wegen Wiederholungsgefahr unter bestimmten Voraussetzungen
anerkannt (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 24. August 2010 – 1
BvR 331/10 –, juris, Rn. 17 ff.). Der Annahme einer Wiederholungsgefahr, die ein
fortbestehendes Rechtsschutzbedürfnis für das Verfassungsbeschwerdeverfahren begründen
könnte, steht jedoch mittlerweile das am 3. Dezember 2011 in Kraft getretene Gesetz über den
Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom
24. November 2011 (BGBl I S. 2302) entgegen. Aufgrund dieses Gesetzes stehen auch im
sozialgerichtlichen Verfahren fachgerichtliche Rechtsbehelfe gegen überlange
Gerichtsverfahren zur Verfügung (§ 202 Satz 2 SGG in Verbindung mit §§ 198 ff.
Gerichtsverfassungsgesetz), die den Fortbestand einer für das
Verfassungsbeschwerdeverfahren relevanten Wiederholungsgefahr ausschließen.
21
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Kirchhof
Schluckebier
Baer