Urteil des BVerfG vom 29.05.2012

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BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 640/11 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
der V... GmbH,
vertreten durch den Geschäftsführer
- Bevollmächtigter:
Rechtsanwalt Prof. Dr. Christian Jahndorf,
Piusallee 121, 48147 Münster -
gegen den Beschluss des Bundesfinanzhofs vom 31. Januar 2011 - XI R
11/10 -
hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten Kirchhof
und die Richter Eichberger,
Masing
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11.
August 1993 (BGBl I S. 1473) am 29. Mai 2012 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe:
1
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, da kein Annahmegrund
(§ 93a Abs. 2 BVerfGG) vorliegt. Ihr kommt weder grundsätzliche verfassungsrechtliche
Bedeutung zu noch ist ihre Annahme zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten
Rechte angezeigt. Insbesondere ist nicht erkennbar, dass der Bundesfinanzhof seine
Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV in einer Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzenden Weise
gehandhabt hätte.
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1. Der Europäische Gerichtshof ist gesetzlicher Richter im Sinne von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.
Das nationale Gericht ist unter den Voraussetzungen des Art. 267 Abs. 3 AEUV von Amts wegen
gehalten, den Europäischen Gerichtshof anzurufen. Das Bundesverfassungsgericht überprüft
allerdings nur, ob die Auslegung und Anwendung der Zuständigkeitsregel des Art. 267 Abs. 3
AEUV bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr
verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist (vgl. BVerfGE 82, 159 <194 ff.>; 126, 286
<315 ff.>).
3
Die Vorlagepflicht wird insbesondere in den Fällen offensichtlich unhaltbar gehandhabt, in
denen ein letztinstanzliches Hauptsachegericht eine Vorlage trotz der - seiner Auffassung nach
bestehenden - Entscheidungserheblichkeit der unionsrechtlichen Frage überhaupt nicht in
Erwägung zieht, obwohl es selbst Zweifel hinsichtlich der richtigen Beantwortung der Frage hegt
(grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht), oder in denen das letztinstanzliche
Hauptsachegericht in seiner Entscheidung bewusst von der Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs zu entscheidungserheblichen Fragen abweicht und gleichwohl nicht oder nicht
neuerlich vorlegt (bewusstes Abweichen ohne Vorlagebereitschaft). Liegt zu einer
entscheidungserheblichen Frage des Gemeinschaftsrechts einschlägige Rechtsprechung des
Gerichtshofs noch nicht vor oder hat eine vorliegende Rechtsprechung die
entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet oder
erscheint eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht nur als entfernte
Möglichkeit, so wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nur dann verletzt, wenn das letztinstanzliche
Hauptsachegericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in
unvertretbarer Weise überschritten hat (Unvollständigkeit der Rechtsprechung; vgl. BVerfGE 82,
159 <195 f.>; 126, 286 <316 f.>). Dabei kommt es für die Prüfung einer Verletzung von Art. 101
Abs. 1 Satz 2 GG nicht in erster Linie auf die Vertretbarkeit der fachgerichtlichen Auslegung des
für den Streitfall maßgeblichen materiellen Unionsrechts an, sondern auf die Vertretbarkeit der
Handhabung der Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV (BVerfG, Beschluss vom 19. Juli
2011 - 1 BvR 1916/09 -, NJW 2011, S. 3428 <3433 f.> m.w.N.).
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2. Gemessen an diesen Grundsätzen liegt keine verfassungsgerichtlich zu beanstandende
Entziehung des gesetzlichen Richters vor. Der Bundesfinanzhof hat die Beschwerdeführerin vor
der Beschlussfassung über den angegriffenen Beschluss gemäß § 126a FGO unterrichtet und
insbesondere auf sein Urteil vom 16. September 2010 - V R 57/09 - (BFHE 230, 504)
hingewiesen. In diesem Urteil hatte sich der Bundesfinanzhof mit den Rechtsfragen zur
Durchbrechung der Bestandskraft bei unionsrechtswidrigen Steuerbescheiden eingehend
auseinandergesetzt und hierbei den Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts vom 4. September 2008 - 2 BvR 1321/07 - (BVerfGK 14, 217)
vertretbar gewürdigt.
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Auch wenn man mit der 2. Kammer des Zweiten Senats davon ausgeht, dass der Europäische
Gerichtshof die Fragen zur Durchbrechung der Bestandskraft unionsrechtswidriger belastender
Verwaltungsakte (hier konkret: Steuerbescheide) bisher noch nicht erschöpfend beantwortet hat,
ist nicht erkennbar, dass der Bundesfinanzhof den ihm zukommenden Beurteilungsrahmen in
unvertretbarer Weise überschritten hat. Das gilt insbesondere für die Annahme, dass die
Behörde nach nationalem Recht befugt sein müsse, den sich im nachhinein als
unionsrechtswidrig erweisenden Hoheitsakt zurückzunehmen. Aus dem Beschluss der
2. Kammer des Zweiten Senats, in welchem die Vertretbarkeit der damaligen Auffassung des
Bundesfinanzhofs in gleicher Weise ausdrücklich bejaht und näher begründet wurde (BVerfGK
14, 217 <221>), ist keine verfassungsrechtliche Pflicht des Bundesfinanzhofs zur Vorlage an den
Europäischen Gerichtshof abzuleiten. Auch vor dem Hintergrund der seitherigen Entwicklung der
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs verbleibt die Auffassung des Bundesfinanzhofs
vielmehr innerhalb seines Beurteilungsrahmens (im Ergebnis ebenso Gräber/Levedag, FGO, 7.
Auflage 2010, Anhang, Rn. 107 ff.; Kahl, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Auflage 2011, Art. 4
EUV, Rn. 74; Stadie, in: Rau/Dürrwächter, UStG, Vorbemerkung, Rn. 659 ff.; Streinz/Kruis, NJW
2010, S. 3745 <3750>; vgl. ferner Hummel, DStZ 2011, S. 832 und de Weerth, DStR 2008, S.
1669 <1671>).
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3. Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
7
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Kirchhof
Eichberger
Masing