Urteil des BVerfG vom 27.08.1999

BVerfG: getrennt leben, alleinerziehender vater, freibetrag, eigenbedarf, deckung, minderung, halbfamilie, existenzminimum, papier, gesetzgebungsverfahren

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvL 18/90 -
In dem Verfahren
zur verfassungsrechtlichen Prüfung des §10 Absatz 2 des Bundeskindergeldgesetzes in der Fassung des Artikels 1
Nr. 3 Buchstabe b des Elften Gesetzes zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes vom 27. Juni 1985 (BGBl I S.
1251) - Aussetzungs- und Vorlagebeschluß des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 14. Februar 1990 (S 20 Kg 22/88) -
hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den
Vizepräsidenten Papier
und die Richter Grimm,
Hömig
gemäß § 81 a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung
vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 27. August 1999
einstimmig beschlossen:
Die Vorlage ist unzulässig.
Gründe:
I.
1
Die Vorlage betrifft Fragen der Kindergeldkürzung bei Besserverdienenden.
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1. Der Kläger des Ausgangsverfahrens ist alleinerziehender Vater zweier Kinder. Er erhielt im Jahre 1987 für das
erste Kind 50 DM und für das zweite Kind 100 DM Kindergeld monatlich. Nachdem seine Einkommensverhältnisse
mit Steuerbescheid für das Jahr 1987 abschließend festgestellt worden waren und sich ein für den Kindergeldbezug
maßgebliches Einkommen in Höhe von 42.405 DM ergeben hatte, minderte die zuständige Behörde das Kindergeld für
das zweite Kind auf 70 DM pro Monat und forderte den zu viel bezahlten Betrag von insgesamt 360 DM für das Jahr
1987 zurück. Zur Begründung führte sie im wesentlichen aus, daß der Kläger des Ausgangsverfahrens die
Freibetragsgrenze für Alleinerziehende mit zwei Kindern von 37.400 DM um mehr als 5.000 DM überschritten habe.
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2. Die für diese Entscheidung maßgebliche Regelung des § 10 Abs. 1 und 2 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG)
in der Fassung des Elften Gesetzes zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes vom 27. Juni 1985 (BGBl I S.
1251) lautete:
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§ 10
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Höhe des Kindergeldes
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(1) Das Kindergeld beträgt für das 1. Kind 50 Deutsche Mark, für das 2. Kind 100 Deutsche Mark, für das 3. Kind 220
Deutsche Mark und für das 4. und jedes weitere Kind je 240 Deutsche Mark monatlich. Bei der Anwendung des
Satzes 1 gelten Kinder, Geschwister und Pflegekinder eines Berechtigten, dem auch Kindergeld nach § 1 Abs. 2
zusteht oder ohne Anwendung des § 8 Abs. 1 zustehen würde, als 2. oder weiteres Kind, wenn sie zuvor bei den
Eltern des Berechtigten berücksichtigt wurden.
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(2) Das Kindergeld für das 2. und jedes weitere Kind wird nach dem in Satz 4 genannten Maßstab stufenweise bis auf
einen Sockelbetrag von
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70 Deutsche Mark für das 2. Kind,
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140 Deutsche Mark für jedes weitere Kind
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gemindert, wenn das Jahreseinkommen des Berechtigten und seines nicht dauernd von ihm getrenntlebenden
Ehegatten den für ihn maßgeblichen Freibetrag um wenigstens 480 Deutsche Mark übersteigt. Für die Minderung des
nach § 8 Abs. 2 bemessenen Kindergeldes verringert sich der Sockelbetrag des Satzes 1 um den Betrag der bei der
Bemessung nach § 8 Abs. 2 berücksichtigten anderen Leistung. Der Freibetrag setzt sich zusammen aus
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26600 Deutsche Mark für Berechtigte, die verheiratet sind und von ihrem Ehegatten nicht dauernd getrennt leben,
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19000 Deutsche Mark für sonstige Berechtigte
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sowie 9200 Deutsche Mark für jedes Kind, für das dem Berechtigten Kindergeld zusteht oder ohne Anwendung des
§ 8 Abs. 1 zustehen würde. Für je 480 Deutsche Mark, um die das Jahreseinkommen den Freibetrag übersteigt, wird
das Kindergeld um 20 Deutsche Mark monatlich gemindert; kommt die Minderung des für mehrere Kinder zu
zahlenden Kindergeldes in Betracht, wird sie beim Gesamtkindergeld vorgenommen.
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3. Der alleinerziehende Vater erhob gegen die Kürzung des Kindergeldes Anfechtungsklage. Das zuständige
Sozialgericht setzte daraufhin das Verfahren aus und legte dem Bundesverfassungsgericht die Vorschrift des § 10
Abs. 2 BKGG zur verfassungsrechtlichen Prüfung vor. Die Bestimmung führe zu einer verfassungswidrigen
Benachteiligung berufstätiger Alleinerziehender und verstoße gegen Art. 3 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1
GG.
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a) Die Einräumung eine Freibetrages von nur 19.000 DM für einen berufstätigen Alleinerziehenden stelle im Vergleich
zu dem Freibetrag für Ehegatten von 26.600 DM eine sachwidrige Gleichbehandlung oder Ungleichbehandlung von
Kindergeldberechtigten dar. Die unterschiedliche Freibetragshöhe berücksichtige nicht, daß berufstätige
Alleinerziehende mit Kindern zwangsläufig zusätzliche Aufwendungen für die Kindesbetreuung hätten, die bei
Ehepaaren typischerweise nicht entstünden oder - bei Berufstätigkeit beider Ehepartner - leichter getragen werden
könnten. Bei dieser Sachlage werde der Alleinerziehende höher belastet als gemeinsam erziehende Ehepaare. Für
diese in § 10 Abs. 2 BKGG enthaltene Gleich- bzw. Ungleichbehandlung alleinerziehender und verheirateter
Kindergeldberechtigter lasse sich bei einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise kein sachlich
einleuchtender Grund finden, da sich die wirtschaftliche Situation Alleinerziehender ohnehin schwieriger gestalte als
die von Ehepaaren.
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b) Die Regelung verstoße auch gegen Art. 6 Abs. 1 GG. Zur Familie im Sinne dieser Vorschrift gehöre auch die
sogenannte Halbfamilie. Diese habe sich mit den dargelegten besonderen wirtschaftlichen Schwierigkeiten
auseinanderzusetzen, die durch den Mehraufwand entstünden. Sie bedürfe deshalb zumindest des gleichen Schutzes
wie eine Vollfamilie. Im übrigen würden durch die praktischen wirtschaftlichen Folgen der Kindergeldkürzung auch
Kinder wirtschaftlich benachteiligt, die ohnehin bereits Nachteile durch Elternverluste erlitten hätten.
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c) Letztlich verstoße die Regelung auch gegen das in Art. 20 Abs. 1 GG verankerte Sozialstaatsprinzip in
Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG. Durch den niedrigeren Freibetrag würden die Grundsätze der sozialen und
faktischen Chancengleichheit verletzt, weil der Halbfamilie ein geringerer wirtschaftlicher Familienlastenausgleich
gewährt werde als der Vollfamilie, obgleich ihre tatsächlichen Belastungen und Aufwendungen höher seien.
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4. Zu dem Verfahren hat unter anderem das Bundesministerium für Familie und Senioren Stellung genommen. Es
hat darauf hingewiesen, daß die Regelung des § 10 Abs. 2 Satz 3 BKGG zwischen einer Berechtigtenkomponente
(19.000 DM für Alleinerziehende und 26.600 DM für nicht dauernd getrennt lebende Ehepaare) und einer
Kinderkomponente (9.200 DM pro Kind) unterscheide. Die Berechtigtenkomponente trage allein der Tatsache
Rechnung, daß der Eigenbedarf zusammenlebender Ehepaare höher sei als der Eigenbedarf Alleinstehender; die dafür
gewählte Relation von 100:71,4 sei für die Alleinstehenden günstig. Der Betreuungsaufwand werde im Rahmen der
Kinderkomponente berücksichtigt. Die Kinderkomponente gehe weit über das Existenzminimum der Kinder hinaus und
sei so hoch bemessen, daß damit dem typischerweise gegebenen Unterhaltsbedarf von Kindern großzügig Rechnung
getragen werde.
II.
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Die Vorlage ist unzulässig.
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1. Die Richtervorlage genügt nicht den Begründungsanforderungen des § 80 Abs. 2 BVerfGG. Nach dieser Vorschrift
muß die Begründung angeben, inwiefern von der Gültigkeit der Rechtsvorschrift die Entscheidung des vorlegenden
Gerichts abhängt und mit welchen übergeordneten Rechtsvorschriften sie unvereinbar ist. Dem genügt eine
Richtervorlage nur, wenn das Gericht die für seine Entscheidung maßgeblichen Erwägungen nachvollziehbar darlegt
und sich dabei jedenfalls mit naheliegenden Gesichtspunkten auseinandersetzt (vgl. BVerfGE 86, 52 <57>; 88, 198
<201>). Dabei hat es auch die in Rechtsprechung und Literatur entwickelten Rechtsauffassungen zu berücksichtigen,
die für die Auslegung und Prüfung der vorgelegten Norm von Bedeutung sind (BVerfGE 78, 165 <171 f.>; 80, 96
<100>; 89, 329 <336 f.>). Gegebenenfalls muß sich das vorlegende Gericht auch mit den Gründen
auseinandersetzen, die im Gesetzgebungsverfahren für den Erlaß einer bestimmten gesetzlichen Regelung
maßgeblich waren (BVerfGE 78, 201 <204>; 81, 275 <276 f.>).
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2. Diesen Anforderungen wird der Vorlagebeschluß des Sozialgerichts nicht gerecht.
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a) Das Sozialgericht stellt schon nicht klar, ob es von der Verfassungswidrigkeit sämtlicher Sätze des § 10 Abs. 2
BKGG überzeugt ist oder nur von der Verfassungswidrigkeit des § 10 Abs. 2 Satz 3 BKGG. Auf die von der Vorlage
mitumfaßten Bestimmungen des § 10 Abs. 2 Satz 1, 2 und 4 BKGG geht es in der Begründung nicht ein. Ebenso
fehlt eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Verfassungsmäßigkeit der Kinderkomponente in § 10 Abs. 2 Satz 3
BKGG. Vielmehr macht der Vorlagebeschluß in seiner Begründung nur die Verfassungswidrigkeit der
Berechtigtenkomponente in § 10 Abs. 2 Satz 3 BKGG geltend.
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b) Die Begründung des Sozialgerichts für die behauptete Verfassungswidrigkeit der Berechtigtenkomponente setzt
sich mit naheliegenden Gesichtspunkten nicht auseinander. Sie läßt eine Auseinandersetzung mit der einschlägigen
Literatur und Rechtsprechung vermissen und befaßt sich insbesondere nicht mit der in den Gesetzgebungsmaterialien
näher ausgeführten Gesamtkonzeption der Freibetragsregelung. Nach dem Willen des Gesetzgebers sollte durch die
Aufteilung des Freibetrages in eine Berechtigten- und eine Kinderkomponente den unterschiedlichen Familiengrößen
der Kindergeldberechtigten Rechnung getragen werden (vgl. BTDrucks 9/2074 S. 85 f.; BTDrucks 9/2140 S. 85 f.;
BTDrucks 10/2886 S. 6). Wie das Bundesministerium für Familie und Senioren ausführt, kommt nach der Systematik
des § 10 Abs. 2 Satz 3 BKGG der Berechtigtenkomponente allein die Funktion zu, dem notwendigen Eigenbedarf des
Alleinerziehenden oder des gemeinsam erziehenden Ehepaares in typisierender Weise Rechnung zu tragen. Hingegen
hat die Kinderkomponente die Funktion, den Unterhaltsbedarf der Kinder abzudecken. Bei dieser Gesamtkonzeption
hätte sich das vorlegende Gericht mit der naheliegenden Frage befassen müssen, ob der Gesetzgeber den
notwendigen Betreuungsbedarf der Kinder im Rahmen der Kinderkomponente hinreichend berücksichtigt hat. Diese
Frage lag nicht zuletzt deswegen nahe, weil das für den reinen Lebensunterhalt erforderliche Existenzminimum eines
Kindes im Jahre 1987 bei 4.416 DM lag (vgl. BVerfG, Beschluß des Zweiten Senats vom 10. November 1998 - 2 BvL
42/93 -, Umdruck S. 31 f.) und damit nicht einmal die Hälfte der Kinderkomponente von 9.200 DM ausmachte. Das
Sozialgericht konnte daher nicht ohne nähere Prüfung davon ausgehen, daß die andere Hälfte der Kinderkomponente
für die Deckung des notwendigen Betreuungsbedarfs eines Kindes nicht ausreichte. Da der Zweite Senat des
Bundesverfassungsgerichts den notwendigen Betreuungsbedarf eines Kindes mit maximal 4.000 DM pro Kind und
Jahr veranschlagt hat (vgl. Beschluß vom 10. November 1998 - 2 BvR 1057/91 u.a. -, Umdruck S. 44 f.), spricht
umgekehrt viel dafür, daß die Kinderkomponente in § 10 Abs. 2 Satz 3 BKGG nicht nur für die Deckung der
notwendigen Lebenshaltungskosten eines Kindes, sondern auch für die Deckung der notwendigen Betreuungskosten
ausreicht.
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Das Sozialgericht hätte ferner die verfassungsrechtliche Frage näher prüfen müssen, ob die bei berufstätigen
Alleinerziehenden zwangsläufig anfallenden finanziellen Betreuungskosten einen ausreichenden Grund für die von ihm
geforderte stärkere finanzielle Unterstützung Alleinerziehender darstellen. Da Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG die
Gleichbehandlung von Alleinerziehenden mit Kindern (Halbfamilien) und Ehepaaren mit Kindern (Vollfamilien) fordert,
hätte das Sozialgericht sich die Frage stellen müssen, ob der Gesetzgeber nicht umgekehrt verpflichtet ist, alle
Familien - unabhängig von der Berufstätigkeit der Erziehungsberechtigten - im Hinblick auf die notwendigen
Betreuungskosten der Kinder gleich zu behandeln. Denn der Betreuungsbedarf der Kinder ist bei allen Familien gleich.
Außerdem nehmen die Erziehungsberechtigten, die ihre Kinder selbst betreuen, durch den damit verbundenen
Verzicht auf Erwerbstätigkeit in vergleichbarer Weise Einkommenseinbußen hin wie berufstätige
Erziehungsberechtigte, die für die Kindesbetreuung durch Dritte ein Entgelt bezahlen. Soweit § 10 Abs. 2 Satz 3
BKGG im Rahmen der Kinderkomponente den Betreuungsbedarf der Kinder bei allen Familien in gleicher Höhe
berücksichtigt, entspricht dies durchaus dem verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgebot (vgl. BVerfG, Beschluß
des Zweiten Senats vom 10. November 1998 - 2 BvR 1057/91 u.a. -, Umdruck S. 27 f.).
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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Papier Grimm Hömig