Urteil des BVerfG vom 17.11.2010

BVerfG: schutz der familie, politische rechte, verfassungsbeschwerde, emrk, tod, hinterbliebenenrente, begriff, mutterschaft, witwenrente, verweigerung

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 1883/10 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
der Frau R...
- Bevollmächtigter:
Rechtsanwalt Dr. Heinrich Comes,
in Sozietät Rechtsanwälte Dr. Comes und Haakshorst
Boisseréestraße 3, 50674 Köln -
gegen
a)
den Beschluss des Bundessozialgerichts vom 22. April 2010 - B 5 R 74/10 B -,
b)
den Beschluss des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 2. Dezember 2009 - L
4 R 446/09 -,
c)
das Urteil des Sozialgerichts Mainz vom 3. September 2009 - S 1 R 546/07 -
hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten Kirchhof
und die Richter Bryde,
Schluckebier
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S.
1473) am 17. November 2010 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe:
1
Die Beschwerdeführerin begehrt die Gewährung von Hinterbliebenenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung
aufgrund des Todes ihres nichtehelichen Lebensgefährten.
I.
2
Die im Februar 1960 geborene Beschwerdeführerin hatte mit ihrem am 30. November 2004 verstorbenen
Lebensgefährten nach eigener Darstellung bis zu dessen Tod sechzehn Jahre zusammengelebt. Der Beziehung
entstammt eine im Mai 2000 geborene Tochter. Die Beschwerdeführerin und ihr Lebensgefährte schlossen am 15. Juli
2004 nach buddhistischem Zen-Ritus in Frankreich eine Ehe. Nach dem Vortrag der Beschwerdeführerin
beabsichtigten sie auch eine standesamtliche Eheschließung, die auf den 21. Februar 2005 terminiert gewesen sei.
3
Nach dem Tod ihres Lebenspartners beantragte die Beschwerdeführerin im Dezember 2004 eine Witwenrente beim
zuständigen Rentenversicherungsträger. Dieser lehnte den Antrag unter Hinweis auf die fehlende Witweneigenschaft
im Sinne von § 46 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) ab. Das Widerspruchsverfahren blieb erfolglos.
4
Die hiergegen gerichtete Klage wurde vom Sozialgericht mit angegriffenem Urteil abgewiesen. Das
Landessozialgericht lehnte sodann die Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren mit
angegriffenem Beschluss mangels Erfolgsaussichten ab. Die Berufung selbst wurde vom Landessozialgericht mit
nicht vorgelegtem und nicht angegriffenem Beschluss zurückgewiesen. Die Nichtzulassungsbeschwerde wurde vom
Bundessozialgericht mit angegriffenem Beschluss als unzulässig verworfen, weil sie keine Rechtsfrage von
grundsätzlicher Bedeutung benannt habe und auch nicht die Klärungsbedürftigkeit des von ihr angesprochenen
Fragekomplexes dargelegt habe.
5
Mit der Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin, dass die Gerichte den Begriff der „Witwe“ in einer mit
Art. 6 GG in Verbindung mit Art. 8 EMRK nicht zu vereinbarenden Weise ausgelegt hätten. Zwar verstünden die
deutschen Gesetze, wenn sie den Begriff „Witwe“ oder „Witwer“ verwenden, durchweg die Überlebenden aus einer
formal geschlossenen Ehe. Eine davon abweichende Auslegung gebiete aber der fürsorgerische Gedanken, der auch
Überlebende aus einer nichtehelichen Partnerschaft als schutzbedürftig erscheinen lasse, der verfassungsrechtliche
Schutz der Familie aus Art. 6 Abs. 1 GG, der nicht nur ehelich begründete Familien umfasse, sowie Art. 8 EMRK, der
auch faktische Beziehungen schütze. In dieselbe Richtung weise auch Art. 23 Abs. 1 des Internationalen Pakts über
bürgerliche und politische Rechte. Dass eine verfassungskonforme Interpretation des Begriffs „Witwe“ jede
überlebende Partnerin einer familiären Beziehung unabhängig vom bürgerlich rechtlichen Familienstand jedenfalls
dann erfasse, wenn sie zugleich Mutter eines gemeinsamen Kindes sei, ergebe sich zudem aus Art. 6 Abs. 4 und
Abs. 5 GG. Bei einer anderen Auslegung des Witwenbegriffs stelle sich die Frage der Verfassungsmäßigkeit der
gesetzlichen Regelungen. Die Verweigerung einer Witwenrente verstoße darüber hinaus gegen Art. 14 EMRK und
Art. 1 des 12. Zusatzprotokolls zur EMRK.
II.
6
Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil die Annahmevoraussetzungen des § 93a
Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegen. Sie hat keine Aussicht auf Erfolg.
7
1. Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Landessozialgerichts über die Ablehnung von
Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren richtet, ist sie verfristet (§ 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Der Beschluss
ist am 9. Dezember 2009 beim Bevollmächtigten der Beschwerdeführerin eingegangen; die Verfassungsbeschwerde
ist indes erst am 22. Mai 2010 erhoben worden.
8
2. Die Verfassungsbeschwerde ist - unbeschadet der Beantwortung weiterer Zulässigkeitsfragen - unbegründet,
soweit sie sich gegen die Sachentscheidung des Sozialgerichts richtet. Die Auslegung des Begriffs „Witwe“ in § 46
SGB VI durch das Sozialgericht dahingehend, dass nur die Überlebende einer zivilrechtlich geschlossenen Ehe
hierunter zu verstehen sei, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
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a) Das Bundesverfassungsgericht prüft die Auslegung und die Anwendung einfachen Rechts nur darauf, ob sie
Auslegungsfehler enthält, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung der betroffenen
Grundrechte beruhen, und ob sie willkürlich ist (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f.>; 85, 248 <257 f.>; 108, 351 <365>).
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b) Dies ist hier nicht Fall. Zum einen ist die Auslegung des Sozialgerichts nicht willkürlich. Die Beschwerdeführerin
geht selbst und zu Recht davon aus, dass die deutschen Gesetze - hier konkret § 46 SGB VI - unter „Witwe“ nur den
Überlebenden einer - hier unstreitig nicht vorliegenden - zivilrechtlich wirksam geschlossenen Ehe verstehen (vgl.
etwa BSGE 53, 137 <138>; BSG, Urteil vom 30. März 1994 - 4 RA 18/93 -, NJW 1995, S. 3270 <3271>; Löns, in:
Kreikebohm, SGB VI, 3. Aufl. 2008, § 46 Rn. 4). Diese Auslegung des einfachen Rechts liegt auch der
Rechtsprechung der Bundesverfassungsgerichts zugrunde (vgl. BVerfGE 112, 50 <65>).
11
c) Sie ist zum anderen auch mit dem Grundgesetz vereinbar. Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt
entschieden, dass es dem Gesetzgeber wegen des besonderen verfassungsrechtlichen Schutzes der Ehe, den Art. 6
Abs. 1 GG anordnet, nicht verwehrt ist, die Ehe gegenüber anderen Lebensformen zu begünstigen (vgl. BVerfGE 6,
55 <76>; 105, 313 <348>; 124, 199 <225>; BVerfGK 12, 169 <175, 177>). Dies gilt insbesondere im Verhältnis der
Ehe zu nichtehelichen Lebensgemeinschaften (vgl. BVerfGE 117, 316 <327>); sie fallen nicht unter den Begriff der
Ehe (vgl. BVerfGE 36, 146 <165>; 82, 6 <15>; 112, 50 <65>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats
vom 30. Juli 2003 - 1 BvR 1587/99 -, NJW 2003, S. 3691). Daher ist es gerechtfertigt, die Partner im Falle der
Auflösung der Ehe durch Tod besser zu stellen als Menschen, die in weniger verbindlichen Paarbeziehungen
zusammenleben (vgl. BVerfGE 124, 199 <225>). Dem entspricht die Nichteinbeziehung von überlebenden
nichtehelichen Lebensgefährten in die Hinterbliebenenrente der gesetzlichen Rentenversicherung.
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d) Etwas anderes folgt auch nicht aus Art. 6 Abs. 4 und Abs. 5 GG, deren Verletzung die Beschwerdeführerin rügt.
Art. 6 Abs. 4 GG betrifft nur Situationen, in denen die Mutter Nachteile erleidet, die auf ihre Mutterschaft
zurückzuführen sind (vgl. BVerfGE 60, 68 <74>), nicht aber Regelungen für Sachverhalte, die nicht allein Mütter
betreffen (vgl. BVerfGE 87, 1 <42>; 94, 241 <259>; Aubel, Der verfassungsrechtliche Mutterschutz, 2003, S. 177 ff.).
Der Ausschluss nichtehelicher Partner von der Hinterbliebenenrente in § 46 SGB VI knüpft aber weder an die
Mutterschaft an noch betrifft er ausschließlich Mütter. Art. 6 Abs. 5 GG schließlich begünstigt nur nichteheliche
Kinder, nicht aber deren Eltern (vgl. BVerfGE 79, 203 <209>; 112, 50 <67>).
13
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Kirchhof
Bryde
Schluckebier