Urteil des BVerfG vom 15.03.2010

BVerfG: verfassungsbeschwerde, vollziehung, versorgung, entziehung, erlass, rechtsschutzgarantie, verwaltung, belastung, gesundheit, exekutive

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 722/10 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
der M ... GmbH, vertreten durch den Geschäftsführer H...
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Hiddemann, Kleine-Cosack, Hefer, Ristow,
Maria-Theresia-Straße 2, 79102 Freiburg -
gegen
a)
den Beschluss des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 9. Februar 2010 - L
7 KA 169/09 B ER -,
b)
den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 20. November 2009 - S 83 KA 673/09
ER -
hier: Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterin Hohmann-Dennhardt
und die Richter Gaier,
Kirchhof
am 15. März 2010 einstimmig beschlossen:
Die sofortige Vollziehung des Beschlusses des Berufungsausschusses für Ärzte, Zulassungsbezirk Berlin, vom 15.
Juli 2009, mit dem unter Zurückweisung des Widerspruchs gegen den Beschluss des Zulassungsausschusses für
Ärzte vom 27. April 2009 der Beschwerdeführerin die Zulassung zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung
entzogen wurde, wird bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs
Monaten, vorläufig ausgesetzt.
Das Land Berlin hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen für das Verfahren über die einstweilige
Anordnung zu erstatten.
Gründe:
I.
1
Die Beschwerdeführerin, die ein medizinisches Versorgungszentrum betreibt, wendet sich mit der
Verfassungsbeschwerde gegen die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Entziehung ihrer Zulassung zur
Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung.
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Sie rügt eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4, jeweils in Verbindung mit Art. 19
Abs. 3 GG, und begehrt den Erlass einer einstweiligen Anordnung.
II.
3
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist begründet.
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1. Nach §§ 32, 93d Abs. 2 BVerfGG kann die Kammer im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung
vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen
Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts
vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erweist sich
von
vornherein
als
unzulässig
oder
offensichtlich
unbegründet.
Bei
offenem
Ausgang
des
Verfassungsbeschwerdeverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn eine
einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen
abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde
aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 88, 25 <35>; 89, 109 <110 f.>).
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2. Die Verfassungsbeschwerde ist weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet.
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Durch die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Entziehung der Zulassung zur Teilnahme an der
vertragsärztlichen Versorgung wird die berufliche Betätigung der Beschwerdeführerin beeinträchtigt. Nach der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind solche vorläufigen Eingriffe in die durch Art. 12 Abs. 1 GG
geschützte Berufsfreiheit nur unter strengen Voraussetzungen zum Schutze wichtiger Gemeinschaftsgüter und unter
strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit statthaft. Die hohe Wahrscheinlichkeit, dass das
Hauptsacheverfahren zum Nachteil des Betroffenen ausgehen wird, reicht nicht aus. Die Anordnung der sofortigen
Vollziehung setzt vielmehr voraus, dass überwiegende öffentliche Belange es rechtfertigen, den
Rechtsschutzanspruch des Betroffenen gegen die Grundverfügung einstweilen zurückzustellen, um unaufschiebbare
Maßnahmen im Interesse des allgemeinen Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten (vgl. BVerfGE 44, 105 <117 ff.>;
stRspr). Ob diese Voraussetzungen gegeben sind, hängt von einer Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls
und insbesondere davon ab, ob eine weitere Berufstätigkeit schon vor Rechtskraft des Hauptsacheverfahrens
konkrete Gefahren für wichtige Gemeinschaftsgüter befürchten lässt (vgl. BVerfGK 2, 89 <94>; BVerfG, Beschluss
der 3. Kammer des Ersten Senats vom 19. Dezember 2007 - 1 BvR 2157/07 -, NJW 2008, S. 1369 f. m.w.N.).
7
Des Weiteren gewährt das Verfahrensgrundrecht des Art. 19 Abs. 4 GG nicht nur das formelle Recht und die
theoretische Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes; der
Grundrechtsträger hat einen Anspruch auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle (vgl. BVerfGE 35, 263
<274>; 35, 382 <401 f.>; 93, 1 <13>; stRspr). Der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG kommt daher nicht
nur die Aufgabe zu, jeden Akt der Exekutive, der in Rechte des Grundrechtsträgers eingreift, vollständig der
richterlichen Prüfung zu unterstellen, sondern auch irreparable Entscheidungen, wie sie durch die sofortige
Vollziehung einer hoheitlichen Maßnahme eintreten können, soweit als möglich auszuschließen (vgl. BVerfGE 35, 263
<274>). Nur überwiegende öffentliche Belange können es rechtfertigen, den Rechtsschutzanspruch des
Grundrechtsträgers einstweilen zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen
Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten. Dabei ist der Rechtsschutzanspruch umso stärker und darf umso weniger
zurückstehen, je schwerwiegender die auferlegte Belastung ist und je mehr die Maßnahmen der Verwaltung
Unabänderliches bewirken (vgl. BVerfGE 35, 382 <402>).
8
Ob die angegriffenen Beschlüsse diesen Maßstäben Rechnung tragen, ist zweifelhaft und bedarf der Überprüfung im
Verfassungsbeschwerdeverfahren. Dabei wird namentlich zu prüfen sein, ob das öffentliche Interesse an der
sofortigen Vollziehung des Entzugs der Zulassung zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung mit
ausschließlich generalpräventiven Überlegungen begründet werden kann, wie dies vom Landessozialgericht
angenommen wurde. Auch wird zu prüfen sein, ob die schwerwiegenden Folgen, die für die Beschwerdeführerin mit
der Anordnung des Sofortvollzugs verbunden sind, in angemessener Weise gegen das öffentliche Interesse an einer
sofortigen Vollziehung abgewogen wurden.
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3. Die hiernach gebotene Folgenabwägung führt zum Erlass der einstweiligen Anordnung.
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Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde aber als begründet, so
entstünden der Beschwerdeführerin durch den Sofortvollzug der Entziehung der Zulassung zur Teilnahme an der
vertragsärztlichen Versorgung schwere und nahezu irreparable berufliche und wirtschaftliche Nachteile. Sie müsste
den Betrieb des medizinischen Versorgungszentrums ab dem 1. April 2010 einstellen. Infolgedessen würde sie das
medizinische Versorgungszentrum aufgeben und ihren angestellten Ärzten und Mitarbeitern kündigen müssen.
Zugleich würde sie den Patientenstamm ihres medizinischen Versorgungszentrums verlieren. Diese Konsequenzen
wären bei einem späteren Erfolg der Verfassungsbeschwerde praktisch kaum noch rückgängig zu machen.
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Erginge die einstweilige Anordnung, hätte die Verfassungsbeschwerde später aber keinen Erfolg, so könnte die
Beschwerdeführerin ihr medizinisches Versorgungszentrum einstweilen weiter betreiben. Für die Gesundheit der dort
versorgten Patienten drohen hierdurch nach den im Ausgangsverfahren getroffenen Feststellungen keine Gefahren.
Es ist danach auch nicht konkret anzunehmen, dass die Beschwerdeführerin bei einer weiteren Berufstätigkeit
während des Verfahrens ihre Pflichten verletzen wird; eine Wiederholungsgefahr wurde vom Landessozialgericht nicht
gesehen. Soweit das Landessozialgericht generalpräventive Erwägungen im Hinblick auf den Betrieb von
medizinischen Versorgungszentren angestellt hat, ist nicht ersichtlich, dass sich entsprechende Gefahren infolge des
Erlasses der einstweiligen Anordnung gerade während des laufenden Verfassungsbeschwerdeverfahrens realisieren
könnten.
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Die aufgezeigten Folgen einer weiteren Betätigung der Beschwerdeführerin fallen somit weniger stark ins Gewicht,
während andererseits die beruflichen Folgen für die Beschwerdeführerin bei Ablehnung der einstweiligen Anordnung
existenziell wären. Die grundrechtlich geschützten Belange der Beschwerdeführerin überwiegen daher das Interesse
der Allgemeinheit an der sofortigen Vollziehung der Entziehung der Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung.
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4. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 3 BVerfGG.
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5. Wegen der besonderen Dringlichkeit ergeht diese Entscheidung unter Verzicht auf die Anhörung der anderen
Beteiligten des Ausgangsverfahrens (§ 32 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG).
Hohmann-Dennhardt
Gaier
Kirchhof