Urteil des BVerfG vom 21.02.2005

BVerfG: verfassungsbeschwerde, auskunft, daten, verwaltungsakt, schulausbildung, avg, neubewertung, wachstum, altersrente, wiederholung

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 1403/96 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn M...
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwältin Dr. Ingeborg Axler,
Balduinstraße 7, 50676 Köln -
1. unmittelbar gegen
a) den Beschluss des Bundessozialgerichts vom 14. Mai 1996 – 4 BA 202/95 -,
b) das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 25. Oktober 1995 – L 13 An 156/94 -
,
c) das Urteil des Sozialgerichts München vom 9. August 1994 – S 12 An 686/93 -,
d) den Bescheid der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte vom 23. Juni 1993 in der
Fassung des Widerspruchsbescheids vom 14. Oktober 1993 – 54 210839 M 002 SG –
2. mittelbar gegen
§ 58 Abs. 1 Nr. 4, § 71 Abs. 1 und § 74 des SGB VI, eingeführt durch Art. 1 des Rentenreformgesetzes 1992 vom
18. Dezember 1989 (BGBl I S. 2261)
hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Präsidenten Papier
und die Richter Steiner,
Gaier
gemäß § 93 b in Verbindung mit § 93 a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I
S. 1473) am 21. Februar 2005 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe:
1
Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Minderung der Anrechenbarkeit und Bewertung von Schul-
Ausbildungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung. Verfahrensrechtlich steht die Frage im Vordergrund, ob
der Inhaber einer Rentenanwartschaft aus der gesetzlichen Rentenversicherung bereits vor Eintritt des Leistungsfalls
eine gesetzlich begründete Wertminderung im fachgerichtlichen Verfahren auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin
überprüfen lassen kann.
I.
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1. a) Die Rentenversicherungsträger führen für die Versicherten Versicherungskonten, in denen vorrangig die
leistungsrelevanten Daten wie Beitrags- und sonstige Rentenzeiten zu speichern sind (§ 149 Abs. 1 SGB VI). Hierzu
sieht das Gesetz ein Kontenklärungsverfahren vor, welches mit einem Feststellungsbescheid über den
Versicherungsverlauf endet (§ 149 Abs. 2 bis 5 SGB VI). Dieser so genannte Vormerkungsbescheid darf jedoch keine
Regelung hinsichtlich der Anrechnung und Bewertung der im Versicherungsverlauf enthaltenen Daten treffen; hierüber
wird erst bei Feststellung einer Leistung entschieden (§ 149 Abs. 5 Satz 3 SGB VI). Daneben bietet die
Rentenauskunft gemäß § 109 SGB VI den Versicherten die Möglichkeit, eine unverbindliche, schriftliche Auskunft
über die Höhe des Zahlbetrags ihrer Rentenanwartschaft nach aktuellem Recht zu erhalten. § 109 Abs. 4 Nr. 2 SGB
VI in der Fassung des Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung und zur Förderung eines
kapitalgedeckten Altersvorsorgevermögens (Altersvermögensgesetz - AVmG) vom 26. Juni 2001 (BGBl I S. 1310)
sieht mit Wirkung vom 1. Januar 2004 nun auch eine Mitteilung der persönlichen Entgeltpunkte und ihres derzeitigen
Wertes unter den Voraussetzungen des § 109 Abs. 1 Satz 2 und 3 SGB VI vor.
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b) Entsprechend den gesetzlichen Vorgaben hat es die höchstrichterliche Rechtsprechung bisher abgelehnt, die
Rentenversicherungsträger zu verpflichten, durch Verwaltungsakt rechtsverbindlich über die Anrechnung und
Bewertung vorgemerkter Tatbestände und damit über Teilelemente des späteren Leistungsanspruches zu entscheiden
(vgl. BSG SozR 3-2600 § 58 Nr. 9 m.w.N.; stRspr). Sie hat es weiterhin abgelehnt, aus einer dem Versicherten
erteilten Rentenauskunft einen Rechtsanspruch auf die dort mitgeteilte Rentenanwartschaft herzuleiten; die
Rentenauskunft stelle lediglich eine Wissenserklärung und keinen Verwaltungsakt dar (vgl. BSG SozR 2200 § 1325
Nr. 3).
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c) Allerdings hat der 4. Senat des Bundessozialgerichts mit Urteil vom 30. August 2001 entschieden, dass der
Versicherte - zumindest nach Vollendung des 55. Lebensjahres - aus seiner rentenrechtlichen Anwartschaft einen
Auskunftsanspruch gegen den Versicherungsträger auf Mitteilung des bisher erreichten Mindestwerts seiner
Rangstelle innerhalb der Versichertengemeinschaft (ausgedrückt in Entgeltpunkten) habe. Insofern könne er auch
Auskunft über seinen Mindest-Rangstellenwert vor und nach einer Gesetzesänderung verlangen. Sei er mit einer
mitgeteilten Rangestellenminderung nicht einverstanden, könne er hiergegen die Feststellungsklage erheben (vgl.
BSG SozR 3-2600 § 149 Nr. 6).
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2. Der am 21. August 1939 geborene Beschwerdeführer absolvierte in der Zeit vom 21. August 1955 bis zum
30. September 1959 eine Schulausbildung und in der Zeit vom 1. Oktober 1959 bis 14. Oktober 1965 eine
Hochschulausbildung. Ab dem 1. November 1965 entrichtete er Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung.
Mit Bescheid vom 11. April 1990 stellte die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte gemäß § 104 Abs. 3 AVG
unter anderem die Schul-Ausbildungszeiten fest und gab den Hinweis, sie werde über die Anrechnung und Bewertung
der Zeiten erst im Leistungsverfahren entscheiden. Die unmittelbar gegen die wertmindernde Neubewertung von
Ausbildungszeiten durch das Rentenreformgesetz 1992 erhobene Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers
nahm die Kammer nicht zur Entscheidung an; es müsse zunächst der fachgerichtliche Rechtsweg beschritten werden
(Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 15. März 1993 - 1 BvR 1888/92).
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3. Mit Vormerkungsbescheid vom 23. Juni 1993 hat die Bundesversicherungsanstalt auf Antrag des
Beschwerdeführers den Versicherungsverlauf festgestellt und zugleich eine Rentenauskunft nach § 109 SGB VI unter
Berücksichtigung der Änderungen aufgrund des Rentenreformgesetzes 1992 erteilt. Die hiergegen erhobenen
Rechtsbehelfe blieben ohne Erfolg. Das Landessozialgericht hat die Auffassung vertreten, im Vormerkungsverfahren
werde nicht - wie vom Beschwerdeführer erstrebt - über die Bewertung von Zeiten entschieden; dies geschehe erst im
Leistungsfall. Auch die Rentenauskunft sei unverbindlich. Die Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Regelungen
nach dem Rentenreformgesetz 1992 könne deshalb nicht vorab im sozialgerichtlichen Verfahren überprüft werden. Die
Nichtzulassungsbeschwerde verwarf das Bundessozialgericht mit Beschluss vom 14. Mai 1996 als unzulässig.
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4. Mit der vorliegenden Verfassungsbeschwerde greift der Beschwerdeführer unmittelbar den Vormerkungs- und
Widerspruchsbescheid der Bundesversicherungsanstalt sowie die sozialgerichtlichen Entscheidungen an. Mittelbar
richtet sich die Verfassungsbeschwerde gegen § 58 Abs. 1 Nr. 4, § 71 Abs. 1 und § 74 SGB VI in der Fassung des
Rentenreformgesetzes 1992 sowie in der Fassung des Gesetzes zur Umsetzung des Programms für mehr Wachstum
und Beschäftigung in den Bereichen der Rentenversicherung und der Arbeitsförderung (WFG) vom 25. September
1996 (BGBl I S. 1461). Gerügt wird eine Verletzung der Grundrechte aus Art. 14 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG.
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5. Der Beschwerdeführer bezieht seit November 2003 eine Altersrente für langjährig Versicherte.
II.
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Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen. Annahmegründe im Sinne des § 93 a Abs. 2
BVerfGG liegen nicht vor, weil sie unzulässig ist.
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1. Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Bundessozialgerichts wendet, genügt ihre
Begründung nicht den Anforderungen von § 23 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1, § 92 BVerfGG. In der Begründung der
Verfassungsbeschwerde muss das angeblich verletzte Recht bezeichnet und der seine Verletzung enthaltende
Vorgang substantiiert dargelegt werden (vgl. BVerfGE 9, 109 <114 f.>; 81, 208 <214>). Dazu gehört, dass sich ein
Beschwerdeführer in der im Einzelnen gebotenen Intensität mit der Begründung der angegriffenen
Gerichtsentscheidung auseinander setzt. Dem ist der Beschwerdeführer nicht gerecht geworden. Seine Begründung
geht am Inhalt des Beschlusses des Bundessozialgerichts vorbei. Es fehlt an Ausführungen, weshalb das
Bundessozialgericht den Antrag auf Zulassung der Revision möglicherweise zu Unrecht abgelehnt hat.
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2. Aber auch soweit der Beschwerdeführer die Entscheidungen der Tatsacheninstanzen angreift, genügt sein Vortrag
nicht den Begründungsanforderungen. Der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (§ 90 Abs. 2
Satz 1 BVerfGG) gebietet, dass der Beschwerdeführer im Ausgangsverfahren alle prozessualen Möglichkeiten
ausschöpft, um eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu bewirken (vgl. BVerfGE 84, 203
<208>; stRspr). Wird die Revision durch das Berufungsgericht nicht zugelassen, muss der Beschwerdeführer nicht
nur regelmäßig Nichtzulassungsbeschwerde erheben (vgl. BVerfGE 16, 1 <2 f.>), sondern diese auch ausreichend
begründen (vgl. BVerfGE 83, 216 <228>). Die Darlegung, dass und in welcher Weise dem Subsidiaritätsgrundsatz
genügt wurde, gehört zum notwendigen Vortrag im Verfassungsbeschwerdeverfahren (vgl. BVerfG, Beschluss der
3. Kammer des Zweiten Senats vom 21. August 2001 - 2 BvR 406/00, NJW 2001, S. 3770 f.). Hieran fehlt es. Zwar
hat der Beschwerdeführer Nichtzulassungsbeschwerde zum Bundessozialgericht erhoben. Jedoch hat er versäumt,
dem Bundesverfassungsgericht innerhalb der Monatsfrist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG eine Abschrift seiner
Beschwerdebegründung
vorzulegen
oder
deren
Inhalt
zumindest
sinngemäß
vorzutragen.
Dem
Bundesverfassungsgericht ist daher die Überprüfung verwehrt, ob dem Beschwerdeführer im Hinblick auf die
Begründung seiner Nichtzulassungsbeschwerde prozessuale Versäumnisse vorzuwerfen sind.
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3. a) Zudem ist vorliegend das bei jeder Verfassungsbeschwerde vorausgesetzte Rechtsschutzbedürfnis entfallen,
das auch noch im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsbeschwerde
gegeben sein muss (vgl. BVerfGE 21, 139 <143>; 30, 54 <58>; 56, 99 <106>; 106, 210 <214>). Mit dem Erlass des
Rentenbescheides vom November 2003 steht dem Beschwerdeführer der Rechtsweg zu den Fachgerichten offen. Die
Beschwer aus dem Urteil des Landessozialgerichts, welches dem Beschwerdeführer einen Anspruch auf gerichtliche
Klärung der Anrechnung und Bewertung seiner Anrechnungszeiten vor Rentenbeginn abgesprochen hatte, ist damit
entfallen. Die mittlerweile bestehende Möglichkeit, seine Grundrechte im Rentenverfahren geltend zu machen, würde
durch die Aufhebung der angegriffenen Entscheidungen nicht verbessert (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des
Ersten Senats vom 23. März 1992 - 1 BvR 340/92, JURIS).
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b) Die besonderen Voraussetzungen für ein Fortbestehen des Rechtsschutzinteresses trotz Erledigung des
ursprünglichen Begehrens liegen nicht vor. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts besteht ein
Rechtsschutzbedürfnis in einem solchen Fall fort, wenn andernfalls die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage
von grundsätzlicher Bedeutung unterbliebe, etwa weil die Sachentscheidung des Bundesverfassungsgerichts wegen
der Art der Maßnahme oder des Geschehensablaufs nicht rechtzeitig ergehen kann, und wenn der gerügte
Grundrechtseingriff besonders schwer wiegt. Es besteht ferner dann fort, wenn eine Wiederholung der angegriffenen
Maßnahme zu befürchten ist oder die gegenstandslos gewordene Maßnahme den Beschwerdeführer weiterhin
beeinträchtigt (vgl. BverfGE 33, 247 <257 f>; 69, 161 <168>; 81, 138 <140 f.>; 91, 125 <133>). Diese
Voraussetzungen sind hier nicht gegeben.
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Die Belastung des Beschwerdeführers durch die zunächst fehlende Rechtsschutzmöglichkeit ist nicht als besonders
schwerwiegend einzustufen. Insbesondere ist nicht erkennbar, dass der Beschwerdeführer hierdurch zu nicht mehr
korrigierbaren Entscheidungen gezwungen wurde. Das Recht zur Nachentrichtung von Beiträgen für den Zeitraum der
möglicherweise nicht mehr als Anrechnungszeiten zu berücksichtigenden Ausbildungszeittatbestände stand dem
Beschwerdeführer nach § 207 Abs. 1 und Abs. 2 SGB VI bis zum 31. Dezember 2004 und damit über den Zeitpunkt
des Renteneintritts hinaus zu. Sollte er sich zu einer Nachentrichtung freiwilliger Beiträge entschlossen haben und
stellt sich später, etwa nach einer verfassungsgerichtlichen Beanstandung der für die Nichtanerkennung
maßgeblichen Vorschriften, heraus, dass die Zeiten doch als Anrechnungszeiten anzuerkennen sind, steht ihm ein
Beitragserstattungsanspruch zu (§ 207 Abs. 3 SGB VI).
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Von einer weiteren Begründung wird nach § 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Papier
Steiner
Gaier