Urteil des BVerfG vom 07.08.2000

BVerfG: schutz der gesundheit, befund, heilpraktiker, juristische person, verfassungskonforme auslegung, augenoptiker, gefahr, sicherheit, verfassungsbeschwerde, abgrenzung

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 254/99 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
der A... GmbH
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Prof. Dr. Konrad Redeker und Koll.,
Mozartstraße 4-10, Bonn -
gegen das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 10. Dezember 1998 - I ZR 137/96 -
hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den
Richter Kühling,
die Richterin Jaeger
und den Richter Hömig
am 7. August 2000 einstimmig beschlossen:
1. Das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 10. Dezember 1998 - I ZR 137/96 - verletzt die Beschwerdeführerin in
ihrem Grundrecht aus Artikel 12 Absatz 1 des Grundgesetzes. Es wird aufgehoben.
Das Verfahren wird an den Bundesgerichtshof zurückverwiesen.
2. Die Bundesrepublik Deutschland hat der Beschwerdeführerin die ihr entstandenen notwendigen Auslagen zu
erstatten.
Gründe:
I.
1
Die Beschwerdeführerin, die ein Optikergeschäft betreibt, wendet sich gegen eine wettbewerbsrechtliche Verurteilung
wegen ihres Angebots der berührungslosen Augeninnendruckmessung und Gesichtsfeldprüfung mittels
Computermessung. Der Bundesinnungsverband der Augenoptiker hat in den von ihm herausgegebenen
Arbeitsrichtlinien diese Tätigkeiten und die dabei zu beobachtenden Standards festgelegt. Hierin wird mehrfach darauf
hingewiesen, dass eine diagnostische Abklärung der dabei erhobenen Befunde nur durch den Arzt erfolgen könne.
Dem Kunden solle die Notwendigkeit von Arztbesuchen nahegebracht werden.
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1. Gemäß § 1 Abs. 1 des Gesetzes über die berufsmäßige Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung
(Heilpraktikergesetz) vom 17. Februar 1939 (RGBl I S. 251; BGBl III 2122-2), geändert durch Art. 53 EGStGB vom 2.
März 1974 (BGBl I S. 469) - HeilprG -, bedarf der Erlaubnis, wer die Heilkunde ausüben will, ohne als Arzt bestallt zu
sein. Nach § 1 Abs. 2 HeilprG ist Ausübung der Heilkunde im Sinne dieses Gesetzes jede berufs- oder gewerbsmäßig
vorgenommene Tätigkeit zur Feststellung, Heilung oder Linderung von Krankheiten, Leiden oder Körperschäden bei
Menschen, auch wenn sie im Dienste von anderen ausgeübt wird.
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2. Die Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs e.V. beanstandete das Angebot und die Durchführung von
berührungslosen Augeninnendruckmessungen (Tonometrie), Gesichtsfeldprüfungen mittels Computermessung
(automatische Perimetrie), Prüfungen des Dämmerungssehens und der Blendempfindlichkeit im Optikergeschäft der
Beschwerdeführerin sowie - die Prüfung des Gesichtsfeldes ausgenommen - die Werbung für diese Leistungen als
einen Verstoß gegen § 1 des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb - UWG - in Verbindung mit § 1 Abs. 2
HeilprG. Sie begehrte von der Beschwerdeführerin Unterlassung, weil es sich dabei um Augenärzten vorbehaltene
Heilbehandlungen handele. Sie hat hilfsweise verlangt, diese Tätigkeiten und die Werbung hierfür zu verbieten, wenn
die Kunden vor der Durchführung der Maßnahme bzw. in der Werbung nicht darauf hingewiesen werden, dass nur eine
Untersuchung durch den Augenarzt zuverlässig einen krankhaften Befund am Auge ausschließen könne und/oder
wenn die Beschwerdeführerin den Kunden nach Durchführung der Maßnahme sinngemäß mitteile, es habe sich ein
normaler Befund ergeben.
4
Das Landgericht hat dem Unterlassungsbegehren im Wesentlichen stattgegeben. Das Oberlandesgericht hat das
Urteil des Landgerichts teilweise abgeändert und der Beschwerdeführerin nur noch insoweit untersagt, Tonometrie und
Perimetrie anzubieten, durchzuführen sowie hierfür zu werben, als sie die Kunden zuvor nicht darauf hinweist, dass
nur eine Untersuchung durch den Augenarzt zuverlässig einen krankhaften Befund ausschließen kann.
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Der Bundesgerichtshof hat im Wesentlichen das Urteil des Landgerichts wieder hergestellt. Das Anbieten und
Durchführen der Tonometrie und der automatischen Perimetrie sowie die Werbung für diese Dienstleistungen stellten
einen Verstoß gegen § 1 UWG in Verbindung mit § 1 Abs. 2 HeilprG dar. Da die Begriffsbestimmung für die
Heilkundeausübung nach § 1 Abs. 2 HeilprG ihrem Wortlaut nach sehr weit gefasst sei, erfordere die im Blick auf Art.
12 Abs. 1 GG gebotene verfassungskonforme Auslegung Einschränkungen. Vom Ausübungsverbot würden nur
Tätigkeiten erfasst, die ärztliche Fachkenntnisse voraussetzten und gesundheitliche Schädigungen zur Folge haben
könnten, wobei auch nur mittelbare Gesundheitsgefährdungen genügten, etwa dadurch, dass frühzeitiges Erkennen
ernster Leiden verzögert werden könne, sofern die Wahrscheinlichkeit einer solchen Gefährdung nicht nur geringfügig
sei. Von der Tonometrie und der automatischen Perimetrie könnten gesundheitliche Gefahren ausgehen, weil ein
Kunde, der keine subjektiven Beschwerden habe, tatsächlich aber an einer Augenkrankheit leide, wegen eines
angeblich normalen Befundes davon abgehalten werden könnte, einen Arzt aufzusuchen. Der vom Oberlandesgericht
für ausreichend gehaltene Hinweis, dass nur eine Untersuchung durch den Augenarzt zuverlässig einen krankhaften
Befund ausschließen könne, führe zu keiner anderen Beurteilung, da davon auszugehen sei, dass viele Betroffene bei
einem unauffälligen Befund doch mit einem Gefühl trügerischer Sicherheit darauf vertrauten, dass schon alles in
Ordnung sei. Damit sei die naheliegende Gefahr verbunden, dass schwere Erkrankungen des Auges, die bereits im
Frühstadium einer Behandlung bedürften, zunächst unerkannt blieben.
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3. Mit ihrer fristgerecht erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin die Verletzung ihrer
Grundrechte aus Art. 12 Abs. 1, Art. 5 und Art. 3 Abs. 1 GG durch die angegriffene Entscheidung des
Bundesgerichtshofs. Das Verbot des Angebots und der Durchführung der Tonometrie und der automatischen
Perimetrie verletze sie in ihrer Berufsausübungsfreiheit. Für dieses Verbot fehle es bereits an der hinreichend
bestimmten gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage. Darüber hinaus sei das Verbot unverhältnismäßig; die Gefahren
der Untersuchungen seien gering, ihre Vorteile erheblich. Selbst wenn der Hinweis, dass nur eine Untersuchung durch
den Augenarzt zuverlässig einen krankhaften Befund ausschließen könne, nicht ausreiche, um Gefahren für die
Kunden auszuschließen, hätte der Bundesgerichtshof sich mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob ein
modifizierter Hinweis anstelle eines generellen Tätigkeitsverbots in Betracht gekommen wäre.
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4. Zu der Verfassungsbeschwerde haben sich unter anderem das Bundesverwaltungsgericht und die Berufsverbände
der Augenärzte und der Augenoptiker geäußert. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens hat ein Rechtsgutachten zur
Abgrenzung von Heilkunde und Augenoptikerhandwerk zu den Akten gereicht.
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a) Nach der Stellungnahme des Bundesverwaltungsgerichts sind in der Rechtsprechung des Gerichts Zweifel an der
hinreichenden Bestimmtheit von § 1 HeilprG nicht aufgetreten. Ob sich auf der Grundlage dieser Vorschrift das Verbot
der Tonometrie und der automatischen Perimetrie durch den Optiker rechtfertigen lasse, erscheine sehr zweifelhaft.
Es sei allgemein bekannt, dass der überhöhte Augeninnendruck, der ein wesentlicher Risikofaktor für das Entstehen
eines Glaukoms sei, keine Beschwerden verursache. Es sei nicht zu erkennen, welcher Anlass für einen subjektiv
beschwerdefreien Kunden bestehen sollte, einen Augenarzt aufzusuchen. Es erscheine weit wahrscheinlicher, dass
durch die der Beschwerdeführerin untersagten Untersuchungen Anzeichen für eine bestehende oder drohende
Augenerkrankung aufgedeckt und der dann erforderlichen ärztlichen Überprüfung zugeführt würden, als dass
umgekehrt ein Kunde durch ein im Normbereich liegendes Untersuchungsergebnis von einem ansonsten in Betracht
gezogenen Arztbesuch abgehalten würde.
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b) Nach Auffassung des Zentralverbandes der Augenoptiker ist der Nutzen von Tonometrie und Perimetrie hoch. Die
große Zahl leicht erreichbarer Augenoptikerbetriebe ermögliche es, dass breite Bevölkerungskreise ohne Wartezeiten
den wichtigsten Risikofaktor für das Vorliegen eines Glaukoms ermitteln lassen könnten. Die Gefahr, dass sich
Kunden mit "normalem" Messergebnis in Sicherheit wögen, sei gering, weil die Augenoptiker ihre Kunden umfassend
und konkret darüber informierten, dass auch ein normaler Messwert nicht bedeute, dass eine Erkrankung
ausgeschlossen werden könne. Im Allgemeinen werde kein Arzt vorsorglich aufgesucht, weil die Bevölkerung über die
Gefahren eines Glaukoms nicht aufgeklärt sei und Augenärzte die Glaukom-Vorsorgeuntersuchung meist nicht als
Kassenleistung anböten. Die Zulassung von Augenoptikern als Heilpraktiker, nur um den Verstoß gegen das
Heilpraktikergesetz zu vermeiden, brächte für die Kunden keinen sachlichen oder fachlichen Vorteil, weil die
Ausbildung als Heilpraktiker im Hinblick auf die beiden Messverfahren keine zusätzlichen Kenntnisse oder
Fertigkeiten vermittele. Es sei eher anzunehmen, dass sich aufgrund der höheren heilkundlichen Autorität der
Heilpraktiker Patienten mit normalen Messergebnissen häufiger in Sicherheit wiegten. Heilpraktiker führten so gut wie
keine tonometrischen und perimetrischen Untersuchungen durch, weil die Heilpraktikerausbildung Tonometrie und
Perimetrie nicht einschließe. Heilpraktiker würden sich daher bei Anwendung dieser Messverfahren erheblichen
Haftungsrisiken aussetzen.
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c) Nach der Stellungnahme des Bundesverbandes Deutscher Augenoptiker sind sowohl die Tonometrie als auch die
Perimetrie rein physikalisch-technische Messverfahren und stellen damit keine Ausübung der Heilkunde dar. Mit
einem Verbot der optometrischen Messungen durch den Optiker würde sich die bestehende Screening-Situation
verschlechtern.
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d) Nach Ansicht des Berufsverbandes der Augenärzte Deutschlands e.V. haben Augeninnendruckmessung und
überschwellige Schnellperimetrie nur einen begrenzten Nutzen. Die Ergebnisse müssten ärztlich befundet werden. In
Kürze werde für bestimmte Risikogruppen die Früherkennung von Glaukomen in den Leistungskatalog der
gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen. Die in Aussicht genommene Früherkennungsuntersuchung solle aus
einer Kombination von Augeninnendruckmessung und Sehnervbeurteilung bestehen.
II.
12
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1
BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen
des § 93 c Abs. 1 BVerfGG sind gegeben. Die angegriffene Entscheidung verletzt die Beschwerdeführerin in ihrer
Berufsausübungsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG). Die Beschwerdeführerin kann sich als juristische Person des
Privatrechts auf Art. 12 Abs. 1 GG berufen (vgl. BVerfGE 21, 261 <266>; 97, 228 <253>).
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1. Das Bundesverfassungsgericht hat die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden.
Eingriffe in die Freiheit der Berufsausübung erfordern danach nicht nur eine gesetzliche Grundlage, sondern sind nur
dann mit Art. 12 Abs. 1 GG vereinbar, wenn sie durch hinreichende Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt werden,
wenn die gewählten Mittel zur Erreichung des verfolgten Zwecks geeignet und auch erforderlich sind und wenn bei
einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe die
Grenze der Zumutbarkeit noch gewahrt wird (vgl. BVerfGE 30, 292 <316 ff.>; 61, 291 <312>; 68, 155 <171>; 97, 12
<25 ff.>; 99, 202 <211>). Im Sinne dieser Rechtsprechung ist das Ziel des Heilpraktikergesetzes, die
Volksgesundheit durch einen Erlaubniszwang für Heilbehandler ohne Bestallung zu schützen, durch Art. 12 Abs. 1 GG
gedeckt. Bei der Gesundheit der Bevölkerung handelt es sich um ein besonders wichtiges Gemeinschaftsgut, zu
dessen Schutz eine solche subjektive Berufszulassungsschranke nicht außer Verhältnis steht (vgl. BVerfGE 78, 179
<192>).
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2. Grundlage der angegriffenen Entscheidung sind § 1 HeilprG und § 1 UWG. Auslegung und Anwendung dieser
Bestimmungen können vom Bundesverfassungsgericht - abgesehen von Verstößen gegen das Willkürverbot - nur
darauf überprüft werden, ob sie Auslegungsfehler enthalten, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von
der Bedeutung des betroffenen Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen. Das ist der
Fall, wenn die von den Fachgerichten vorgenommene Auslegung der Normen die Tragweite des Grundrechts nicht
hinreichend berücksichtigt oder im Ergebnis zu einer unverhältnismäßigen Beschränkung der grundrechtlichen
Freiheiten führt (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f., 96>; 85, 248 <257 f.>; 87, 287 <323>).
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So liegt es hier. Die angegriffene Entscheidung wird dem Maßstab des Art. 12 Abs. 1 GG nicht gerecht.
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a) Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin handelt es sich bei § 1 HeilprG um eine hinreichend bestimmte
gesetzliche Verbotsregelung. Dies beruht - wie auch das Bundesverwaltungsgericht in seiner Stellungnahme ausführt -
darauf, dass der Begriff "Ausübung der Heilkunde" ausdrücklich definiert ist. Dass die Begriffsbestimmung in § 1 Abs.
2 HeilprG von der Rechtsprechung im Hinblick auf Art. 12 Abs. 1 GG verfassungskonform restriktiv ausgelegt wird,
überschreitet nicht den Rahmen üblicher Gesetzesauslegung und ist in Bezug auf die Bestimmtheit der Regelung
nicht zu beanstanden. Ebenso entspricht es Wortlaut und Sinn von § 1 HeilprG, solche Verrichtungen, die - für sich
gesehen - ärztliche Fachkenntnisse nicht voraussetzen, als Ausübung der Heilkunde zu qualifizieren, wenn sie
mittelbar die Gesundheit gefährden, beispielsweise weil frühzeitiges Erkennen ernster Leiden verzögert wird.
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Diese Abgrenzung allein wird aber dem vorliegenden Sachverhalt nicht gerecht, weil es um spezialisierte
Messverfahren geht, welche von einem spezialisierten Heilhilfsberuf, hier dem Optikerhandwerk, angeboten werden,
nachdem durch die Weiterentwicklung der Medizintechnik die einzelne Verrichtung keine heilkundlichen Fertigkeiten
mehr verlangt. Solchen Entwicklungen ist bei der Abgrenzung zwischen den Tätigkeiten, die den jeweiligen
Fachärzten vorbehalten bleiben, und denjenigen, die im zugeordneten, aber selbständig handelnden Heilhilfsberuf
erbracht werden können, Rechnung zu tragen (vgl. zu ähnlichen Abgrenzungen bei den rechtsberatenden Berufen
BVerfGE 97, 12 <29>). Die Abgrenzung zwischen dem ärztlichen und dem heilpraktischen Vollberuf ist insoweit nicht
einschlägig. Das gilt hier nicht zuletzt deshalb, weil nach den eingeholten Stellungnahmen eindeutig feststeht, dass
ihre Kenntnisse die Heilpraktiker nicht besser zur Vornahme der streitgegenständlichen Messungen und deren
Bewertung befähigen als die Optiker.
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Letztlich enthält die angegriffene Entscheidung auch gar keine Abwägung dahin, ob den Gefahren für die
Volksgesundheit durch die Einschaltung von Heilpraktikern im vorliegenden Fall besser begegnet werden könnte. Zu
Recht hat der Bundesgerichtshof jedoch auch bei der Abgrenzung zwischen den Tätigkeiten, die den Ärzten
vorbehalten bleiben, und solchen, die auch im Hilfsberuf erbracht werden können, darauf abgestellt, ob eine mittelbare
Gesundheitsgefährdung droht, weil die Ausgliederung des einzelnen Messverfahrens ein frühzeitiges Erkennen ernster
Leiden verzögern könnte. Auch nach dem von der Klägerin des Ausgangsverfahrens zu den Akten gereichten
Gutachten ist nicht davon auszugehen, dass die Heilpraktikererlaubnis ein Mehr an Fachkompetenz zur Behandlung
oder Erkennung der hier in Rede stehenden Krankheiten verschafft. Der Vorteil wird allein darin gesehen, dass der
Heilpraktiker sich einer Prüfung persönlicher Zuverlässigkeit zu stellen hat und ihm damit mögliche Gefahren für die
Volksgesundheit vor Augen stehen, so dass bei ihm eher erwartet werden könne, dass er die Grenzen seiner
Kompetenz erkenne. Dem kann nicht zugestimmt werden, da sich das Augenoptikerhandwerk als
Gesundheitshandwerk versteht; der Optiker übt seinen Beruf stets in der Verantwortung für den ihm anvertrauten Teil
der Volksgesundheit aus. Es ist andererseits nicht von der Hand zu weisen, dass das Vertrauen in die Heilpraktiker
und ihre Erkenntnisfähigkeiten hinsichtlich möglicher Erkrankungen einem Arztbesuch eher entgegensteht als der
entsprechende Hinweis durch den Optiker.
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b) Der Bundesgerichtshof hält eine solche mittelbare Gefahr trotz der vom Oberlandesgericht angeordneten
Hinweispflicht für gegeben. Dabei handelt es sich um eine Würdigung eines tatsächlichen Sachverhalts, die Sache der
Fachgerichte ist und vom Bundesverfassungsgericht nicht nachgeprüft wird (vgl. BVerfGE 18, 85 <92>). Unter
verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten kommt es nur darauf an, ob das an die Optiker gerichtete generelle Verbot
der Tonometrie und der Perimetrie sowie die Werbung hierfür die Beschwerdeführerin in ihrer Berufsausübungsfreiheit
verletzt. Dies ist hier der Fall. Wird der Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit in Gestalt eines Tätigkeitsverbots nur
mit mittelbaren Gefahren für die Volksgesundheit begründet, entfernen sich Verbot und Schutzgut so weit voneinander
(vgl. hierzu BVerfGE 85, 248 <261>), dass bei der Abwägung besondere Sorgfalt geboten ist. Die Gefahren müssen
hinlänglich wahrscheinlich und die gewählten Mittel eindeutig erfolgversprechend sein. Diesen Anforderungen genügt
die angegriffene Entscheidung nicht.
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aa) Vorliegend lassen sich kaum vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls dafür finden, Angebot und Ankündigung
von Tonometrie und Perimetrie generell zu verbieten und den aufklärenden Hinweisen, dass ein krankhafter Befund
zuverlässig nur durch einen Augenarzt ausgeschlossen werden kann, kein Gewicht beizumessen.
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Allein die Möglichkeit, dass ein gebotener Arztbesuch unterbleibt, kann nicht ausreichen, um eine mittelbare
Gesundheitsgefährdung zu begründen. Diese Gefahr besteht immer, wenn der Patient nicht unter Beschwerden leidet.
Wie das Bundesverwaltungsgericht ausgeführt hat, erscheint es plausibel, dass die Wahrscheinlichkeit einer
Aufdeckung von vorhandenen oder drohenden Augenerkrankungen nach Durchführung von Tonometrie und Perimetrie
durch Augenoptiker - also der Nutzen - größer ist als die Gefahr, dass ein in Wahrheit erkrankter Kunde im Anschluss
an eine bei ihm ohne Befund gebliebene Optiker-Untersuchung von einem - an sich geplanten - Besuch beim
Augenarzt absieht. Dem in letzterer Hinsicht verbleibenden Risiko kann gerade durch den vom Oberlandesgericht
angeordneten aufklärenden Hinweis ausreichend begegnet werden.
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Zwar hat das Oberlandesgericht aufgrund der ihm vorliegenden ärztlichen Gutachten festgestellt, dass sowohl
Tonometrie als auch Perimetrie nur eine begrenzte Aussagekraft haben: Ein durch Tonometrie festgestellter erhöhter
Augeninnendruck sei ein Indiz für ein Glaukom, mehr jedoch nicht. Auch hinsichtlich der Perimetrie gebe ein aus
statistischer Sicht im Normbereich liegender Befund noch keine Garantie dafür, dass es sich im Einzelfall um ein
unversehrtes Gesichtsfeld handele. Umgekehrt müsse eine Abweichung von der Norm nicht krankheitsbedingt sein.
Hinsichtlich dieser begrenzten Aussagekraft unterscheiden sich die genannten Untersuchungen aber nicht von
anderen Messungen im Gesundheitssektor. Die Ergebnisse der Messungen zu befunden, bleibt eine dem Arzt
vorbehaltene Aufgabe. Plausibel erscheint allerdings, dass beim Optiker festgestellte Indizien - wie der erhöhte
Augeninnendruck - einem gesundheitsbewussten Menschen erstmals Anlass geben, sich von einem Augenarzt
untersuchen zu lassen. Bei diesen Patienten kann auch heute schon, selbst wenn es sich um gesetzlich Versicherte
handelt, kassenärztlich abgerechnet werden, weil es nicht um eine Vorsorgeuntersuchung, sondern um die Abklärung
eines Krankheitsverdachts geht. Die in der Stellungnahme des Berufsverbandes der Augenärzte Deutschlands e.V.
angekündigte Änderung des Leistungskatalogs braucht insoweit nicht abgewartet zu werden. Außerdem kann bei
unauffälligen Messergebnissen die verbleibende Restunsicherheit, auf die der Kunde vom Optiker hingewiesen wird,
zu einer Abklärung beim Augenarzt führen. Danach ist es eher fernliegend, das Verbot der Messungen durch den
Optiker als einen Beitrag zur Verbesserung der Volksgesundheit zu werten. Dazu hätte es der Darlegung bedurft, dass
die Anzahl der beschwerdefreien Personen, die bisher vorsorglich die Augenärzte zur Durchführung von Tonometrie
und Perimetrie konsultiert hat, sich durch das Angebot der Optiker stärker vermindert als die Zahl derjenigen wächst,
die nach der Messung durch einen Optiker den Arzt aufsucht. Erst dann wäre überhaupt ein hinlänglicher Bezug zu
den der Volksgesundheit drohenden Gefahren hergestellt.
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bb) Jedenfalls ist das generelle Verbot der Tonometrie und Perimetrie durch Optiker sowie das diesbezügliche
Werbeverbot zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung nicht erforderlich. Der Schutz der Gesundheit der Kunden
kann durch die Untersuchung einerseits und durch den vom Oberlandesgericht - im Anschluss an die vom
Bundesinnungsverband der Augenoptiker gesetzten Standards - geforderten aufklärenden Hinweis vor ihrer
Durchführung andererseits weit besser gewährleistet werden. Ein Teil der problematischen Fälle wird bei solchen
Personen aufgedeckt, die sich zuvor nicht veranlasst sahen, einen Augenarzt aufzusuchen. Bei den übrigen Personen
stellt der Optiker zwar keine signifikante Normabweichung fest, weckt aber durch seine Belehrung bei den Betroffenen
Problembewusstsein und fördert damit die Möglichkeiten der Früherkennung durch den Arzt. Damit verträgt sich die
Annahme des Bundesgerichtshofs nicht, dass viele Betroffene bei einem unauffälligen Befund mit einem Gefühl
trügerischer Sicherheit darauf vertrauten, dass schon alles in Ordnung sei. Der Bundesgerichtshof unterschätzt die
warnende Belehrung und begründet nicht, inwiefern dieser beschwerdefreie Personenkreis ohne die Untersuchung
nicht ohnedies in einer trügerischen Sicherheit lebt. Die naheliegende Gefahr, dass schwere Erkrankungen des Auges,
die bereits im Frühstadium einer Behandlung bedürfen, zunächst unerkannt bleiben, ist ohne die Untersuchung durch
den Optiker noch größer, der immerhin einen gewissen Anteil richtig erkennt. Erst durch den Hinweis des Optikers
wird den Übrigen die generelle Gefährdung bewusst werden, die für bestimmte Risikogruppen eine
Vorsorgeuntersuchung angeraten sein lässt. Hierauf und auf das fehlende Problembewusstsein in der Öffentlichkeit
hat auch der Berufsverband der Augenärzte Deutschlands e.V. hingewiesen. Danach ist es kein erfolgversprechendes
Mittel, Messungen, die an aufklärende Hinweise gebunden sind, zu verbieten, solange den beschwerdefreien
Personen das Risiko weitgehend unbekannt ist.
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c) Die angegriffene Entscheidung beruht auf dem dargelegten Verstoß gegen Art. 12 Abs. 1 GG, da nicht
auszuschließen ist, dass der Bundesgerichtshof im Ausgangsverfahren anders entschieden hätte, wenn er § 1
HeilprG und § 1 UWG verfassungskonform ausgelegt hätte. Die angegriffene Entscheidung ist daher aufzuheben,
damit dies nachgeholt werden kann.
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3. Auf die übrigen gerügten Verfassungsverstöße ist nicht mehr einzugehen, weil die darauf gestützte
Verfassungsbeschwerde darüber hinaus keinen weiter gehenden Erfolg haben könnte.
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4. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung folgt aus § 34 a Abs. 2 BVerfGG.
Kühling
Jaeger
Hömig