Urteil des BVerfG vom 05.05.1998

BVerfG: einzelrichter, einkünfte, ermessensausübung, subsidiarität, verfassungsgerichtsbarkeit, rückübertragung, einverständnis, normenkontrolle, papier, unterliegen

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvL 23/97 -
In dem Verfahren
über
die verfassungsrechtliche Prüfung
betreffend die Vorschriften der §§ 1, 2, 5 bis 8, 10, 11, 14, 16 und 18 GewStG 1984 und § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG 1987
- Aussetzungs- und Vorlagebeschluß des Niedersächsischen Finanzgerichts vom 23. Juli 1997 (IV 317/91) -
hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den
Vizepräsidenten Papier,
die Richterin Haas
und den Richter Steiner
gemäß § 81 a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)
am 5. Mai 1998 einstimmig beschlossen:
Die Vorlage ist unzulässig.
Gründe:
I.
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1. Das Normenkontrollverfahren betrifft die Frage, ob die Vorschriften des Gewerbesteuergesetzes über den
Gewerbeertrag (§§ 1, 2, 5 bis 8, 10, 11, 14, 16 und 18 GewStG 1984) und § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG 1987 insoweit mit
Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar sind, als Gewerbebetriebe im Gegensatz zu den Betrieben der selbständig Tätigen i.S.v.
§ 18 EStG und der Land- und Forstwirte i.S.v. § 13 EStG der Gewerbeertragsteuer unterliegen und nichtgewerbliche
Einkünfte von Gesellschaften bürgerlichen Rechts bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG im
Gegensatz zur steuerlichen Behandlung solcher Einkünfte bei Einzelunternehmern als gewerbliche Einkünfte
qualifiziert werden und in vollem Umfang der Gewerbesteuer unterliegen.
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2. Der Aussetzungs- und Vorlagebeschluß ist nicht vom Senat, sondern nach mündlicher Verhandlung vom
Berichterstatter als konsentierter Einzelrichter erlassen worden. Die insoweit einschlägige Vorschrift der
Finanzgerichtsordnung lautet wie folgt:
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§ 79 a FGO Entscheidung im vorbereitenden Verfahren
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(1) Der Vorsitzende entscheidet, wenn die Entscheidung im vorbereitenden Verfahren ergeht,
1. über die Aussetzung und das Ruhen des Verfahrens;
2. bei Zurücknahme der Klage;
3. bei Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache;
4. über den Streitwert;
5. über die Kosten.
(2) Der Vorsitzende kann ohne mündliche Entscheidung durch Gerichtsbescheid (§ 90 a)
entscheiden. Dagegen ist nur der Antrag auf mündliche Verhandlung innerhalb eines Monats
nach Zustellung des Gerichtsbescheides gegeben.
(3) Im Einverständnis der Beteiligten kann der Vorsitzende auch sonst anstelle des Senats
entscheiden. (4) Ist ein Berichterstatter bestellt, so entscheidet dieser anstelle des
Vorsitzenden.
II.
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1. Die Klägerin, eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR), betreibt eine Goldschmiede und Schmuckgalerie, in
der sie von den Gesellschaftern selbst hergestellten und auch zugekauften Schmuck vertreibt. Erstmals für das
Streitjahr 1988 machte die Klägerin geltend, sie erziele aus dem Verkauf der selbst hergestellten Schmuckstücke
Einkünfte aus (künstlerischer) selbständiger Arbeit und nicht solche aus Gewerbebetrieb. Die Klägerin setzte in ihrer
Erklärung über die einheitliche und gesonderte Gewinnfeststellung die in getrennten Gewinnermittlungen ermittelten
Einkünfte aus selbständiger Arbeit i.S.v. § 18 EStG mit 61.181 DM und die aus Gewerbebetrieb (§ 15 EStG) mit
45.911 DM an. In ihrer Gewerbesteuererklärung gab sie den Gewinn aus Gewerbebetrieb mit 45.911 DM an. Das
Finanzamt folgte dem nicht. Unter Hinweis auf Abschnitt 136 Abs. 8 Satz 9 der Einkommensteuerrichtlinien 1987
behandelte es sämtliche Einkünfte der Klägerin als solche aus Gewerbebetrieb und stellte die Einkünfte aus
Gewerbebetrieb einheitlich und gesondert mit 107.092 DM fest. Den einheitlichen Gewerbesteuermeßbetrag setzte es
auf 3.670 DM fest (Gewerbesteuermeßbetrag nach dem Gewerbeertrag 3.670 DM, Gewerbesteuermeßbetrag nach
dem Gewerbekapital 0 DM). Gegen beide Bescheide erhob die Klägerin nach erfolglosem Einspruchsverfahren Klage.
Sie verwies darauf, ein Sachverständigenausschuß der Oberfinanzdirektion sei nach der Begutachtung von
Arbeitsproben der Gesellschafter zu dem Ergebnis gelangt, ihnen sei die Künstlereigenschaft i.S.d. § 18 Abs. 1 Nr. 1
EStG zuzuerkennen. Der Handel mit zugekauftem Schmuck erfolge nur, um dem künstlerischen Tun eine
wirtschaftliche Grundlage zu geben. Beide Tätigkeiten bedingten einander nicht, sondern seien trennbar.
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Die Beteiligten erklärten sich mit einer Entscheidung des Berichterstatters anstelle des Senats einverstanden. Der
Berichterstatter hat über die Frage, ob der von den Gesellschaftern der Klägerin selbst hergestellte Schmuck als
künstlerisch i.S.v. § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG einzustufen ist, Beweis durch Einholung eines
Sachverständigengutachtens erhoben. Der Sachverständige hat in seinem Gutachten eine künstlerische Tätigkeit in
bezug auf den selbst hergestellten Schmuck bejaht. In der vom Berichterstatter als konsentierter Einzelrichter
durchgeführten mündlichen Verhandlung hat die Klägerin beantragt, für 1988 die Einkünfte entsprechend der
abgegebenen Erklärung festzustellen und den Gewerbesteuermeßbescheid ersatzlos aufzuheben. Das beklagte
Finanzamt hat Klagabweisung beantragt.
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2. Der Berichterstatter hat mit Beschluß vom 23. Juli 1997 gemäß Art. 100 Abs. 1 GG das Verfahren ausgesetzt
und dem Bundesverfassungsgericht die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob die Vorschriften des
Gewerbesteuergesetzes über die Gewerbeertragsteuer (§§ 1, 2, 5 bis 8, 10, 11, 14, 16 und 18 GewStG 1984) und § 15
Abs. 3 Nr. 1 EStG 1987 verfassungswidrig sind.
III.
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1. Die Vorlage ist unzulässig. Im Verfahren der konkreten Normenkontrolle (Art. 100 Abs. 1 GG, § 80 Abs. 1
BVerfGG) ist eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht den Gerichten vorbehalten. "Gericht" kann in einem
Kollegialgericht auch der Einzelrichter sein, soweit er nach der jeweiligen Prozeßordnung dazu berufen ist, die
anstehende Entscheidung allein zu treffen (vgl. BVerfGE 54, 159 <163 f.>). Das ist hier nicht der Fall.
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Nach der Finanzgerichtsordnung kann der Berichterstatter nicht als konsentierter Einzelrichter die Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts darüber einholen, ob die von ihm als verfassungswidrig erachteten Vorschriften mit dem
Grundgesetz vereinbar sind. Es stellt einen Ermessensmißbrauch dar, wenn der Berichterstatter nach § 79 a Abs. 3
und Abs. 4 FGO einen Aussetzungs- und Vorlagebeschluß erläßt (vgl. Pahlke, DB 1997, S. 2454 ff.; BFH, Beschluß
vom 14. Januar 1998 - IV B 48/97 - Umdruck S. 9; Stelkens, NVwZ 1991, S. 209 <215> zu § 87 a Abs. 2, Abs. 3
VwGO). Wie in den Fällen, in denen der Einzelrichter das Kollegialorgan durch die Rückübertragung der Sache (§ 348
Abs. 4 ZPO n.F. oder § 6 Abs. 3 FGO) mit der Entscheidung zu befassen hat (vgl. zur Ausübung des Ermessens bei
der Rückübertragung: Ulsamer in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer, BVerfGG Kommentar, Stand April 1997,
§ 80 Rn. 210; Bettermann in: Starck (Herausgeber), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, 1976, Bd. I, S. 323
<355>; Zierlein in: Festschrift für Ernst Benda 1995, S. 457 <495 ff.>), so ist auch hier eine "Ermessensreduzierung
auf Null" gegeben. Der Vorlagebeschluß vom 23. Juli 1997 ist deshalb, unbeschadet des Umstandes, daß er zur
Ermessensausübung im Rahmen des § 79 a Abs. 3, Abs. 4 FGO keinerlei Darlegungen enthält, unzulässig.
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2. Zu den Voraussetzungen, unter denen sich der Berichterstatter zum konsentierten und damit zu dem zur
Entscheidung über den Streitstoff befugten Richter bestellen kann, gehört zunächst einmal, daß die Beteiligten hierzu
ihr Einverständnis erklären. Die (Selbst-)Bestellung zum konsentierten Richter steht sodann im pflichtgemäßen
Ermessen des Richters (vgl. dazu (ausführlich) Pahlke, DB 1997, S. 2454 ff.; Koch in: Gräber, FGO Kommentar 4.
Auflage, § 79 a Rz. 17; Ortloff in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO Kommentar, Stand Mai 1997, § 87 a Rn.
44; BGH, Urteil vom 19. Oktober 1988 - IVb ZR 10/88 - BGHZ 105, S. 270 <273> zu § 524 Abs. 4 ZPO); Teile der
Literatur, die unter Berufung auf BVerfGE 8, 248 die Zuständigkeit des konsentierten Einzelrichters für einen
Vorlagebeschluß an das Bundesverfassungsgericht bejahen, erörtern die Frage des Ermessens nicht.
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a) Die Ermessensausübung hat sich zunächst und primär an dem mit der Neuregelung des § 79 a FGO vom
Gesetzgeber verfolgten Gesetzeszweck, die Senate der Finanzgerichte zu entlasten und die finanzgerichtlichen
Verfahren zu straffen (vgl. BTDrucks 12/1061 S. 16) , auszurichten. Wird dieser durch die Bestellung eines
konsentierten Richters nicht erreicht oder führt die Bestellung gar zu einer Verzögerung des Verfahrens, liegt
Fehlgebrauch des Ermessens vor. Eine Verfahrensstraffung wird dadurch, daß der konsentierte Einzelrichter einen
Vorlagebeschluß faßt, keinesfalls erreicht.
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b) Als weiterer Gesichtspunkt ist bei der Abwägung zu berücksichtigen, daß die Finanzgerichte im Grundsatz als
Kollegialgerichte ausgestaltet sind. Nur in besonderen, vom Gesetz aufgeführten Ausnahmefällen ist eine
Entscheidung durch den Einzelrichter in der Prozeßordnung vorgesehen. Dem liegt die Annahme des Gesetzgebers
zugrunde, daß richterlichen Entscheidungen eines Kollegiums eine höhere Richtigkeitsgewähr beizumessen ist (vgl.
Stöcker in: Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht AO, FGO, Nebengesetze Kommentar, Stand September 1997,
§ 79 a FGO Rz. 8). Dieser Vorstellung hat der Gesetzgeber in § 6 Abs. 1 FGO deutlich Ausdruck verliehen, wenn dort
angeordnet wird, daß nur solche Verfahren dem Einzelrichter zu übertragen sind, die keine besonderen
Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweisen. Zwar enthält die Vorschrift des § 79 a FGO über die
(Selbst-)Bestellung zum konsentierten Richter eine derartige Tatbestandsvoraussetzung nicht. Das Gewicht dieses
den Gerichtsaufbau und die Prozeßordnung bestimmenden Grundsatzes gebietet es aber, daß er im Rahmen der
Ermessensausübung Berücksichtigung findet. Jedenfalls bei Rechtsfragen von überragender Bedeutung, wie sie die
Frage nach der Verfassungsmäßigkeit gesetzgeberischen Tuns darstellt, die überdies das Verhältnis von Judikative
und Legislative aufs engste berührt, kann im Rahmen der Ermessensentscheidung die Abwägung nur dahin gehen,
daß die Vorlage an das Bundesverfassungsgericht dem Richterkollegium vorbehalten bleibt. Dieses Ergebnis wird
noch durch folgende Erwägung erhärtet: Bestimmt schon das Bundesverfassungsgerichtsgesetz, daß die Beurteilung
der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes (und gegebenenfalls seine Nichtigerklärung) nur dem Senat, also dem
gesamten Richterkollegium, nicht aber seinem Teilspruchkörper "Kammer" obliegt (§ 93 c Abs. 1 S. 3 BVerfGG), dann
muß erst recht auch gefordert werden, daß von den Fachgerichten verfassungsrechtliche Bedenken gegen ein Gesetz
nur vom gesamten Spruchkörper getragen und entsprechend artikuliert werden.
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c) Der Zuständigkeit des konsentierten Einzelrichters für einen Aussetzungs- und Vorlagebeschluß an das
Bundesverfassungsgericht steht schließlich der auch für das Verfahren der konkreten Normenkontrolle geltende
Gedanke der Subsidiarität der Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber Verfahren, deren abschließende Beilegung in die
Gerichtsbarkeit der Fachgerichte gehört, entgegen. Die Verfahrensordnung des Ausgangsverfahrens ist, sobald es um
die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes geht, nicht mehr allein, sondern in ihrem Zusammenhang mit den
Bestimmungen des Normenkontrollverfahrens zu sehen (vgl. BVerfGE 47, 146 <155>). Zu diesen zählt auch die
Subsidiarität der Verfassungsgerichtsbarkeit. Die mit dem Normenkontrollverfahren verbundene Inanspruchnahme des
Bundesverfassungsgerichts und weiterer oberster Verfassungsorgane des Bundes und der Länder (vgl. § 82 BVerfGG)
läßt sich nur rechtfertigen, wenn sie zur Entscheidung eines konkreten Verfahrens unerläßlich ist (vgl. etwa BVerfGE
11, 330 <334 f.>; 34, 118 <127>; 47, 146 <154 f., 159>; 79, 256 <265>). Der Berichterstatter, der eine seiner
Auffassung nach entscheidungserhebliche Norm für verfassungswidrig hält, hat deshalb unter dem Blickwinkel der
Art. 100 Abs. 1 GG, §§ 80 ff. BVerfGG eine Entscheidung im Senat herbeizuführen und ist daran gehindert, als
konsentierter Einzelrichter nach § 79 a Abs. 3 und 4 FGO über die Frage einer Vorlage zu entscheiden. Bei dieser
Verfahrensweise erübrigt sich eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht möglicherweise deshalb, weil der Senat
in seiner Mehrheit die Verfassungsmäßigkeit der Norm bejaht oder deren Entscheidungserheblichkeit verneint. Der
Grundsatz der Subsidiarität soll zudem auch gewährleisten, daß der Streitstoff und die Rechtslage in einfach-
rechtlicher wie in verfassungsrechtlicher Hinsicht von den Fachgerichten umfassend und eingehend erörtert werden
(vgl. BVerfGE 74, 69 <74>;'' 86, 382 <; 386, 388>). Die Gewähr hierfür bietet der Senat als Kollegialorgan in deutlich
höherem Maße als ein Einzelrichter.
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3. Den Beteiligten des Ausgangsverfahrens werden ihre Rechte dadurch nicht verkürzt. Faßt der Senat keinen
Vorlagebeschluß, so ist es ihnen nach Erschöpfung des Rechtswegs unbenommen, Verfassungsbeschwerde zu
erheben.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Papier
Haas
Steiner