Urteil des BVerfG vom 19.05.2008

BVerfG: verfassungsbeschwerde, subjektives recht, juristische person, kurbeitrag, satzung, eltern, belastung, motiv, gemeinde, aufenthalt

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 3269/07 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
der K ... e.V.,
- Bevollmächtigter:
Prof. Dr. Ulrich M. Gassner,
Scharnitzer Weg 9, 86163 Augsburg -
gegen
a)
den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. Oktober 2007 - BVerwG 9 B
40.07 -,
b)
das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 22. Juni 2007 - 4 B
05.3239 -
hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Präsidenten Papier
und die Richter Eichberger,
Masing
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S.
1473) am 19. Mai 2008 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe:
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine Streitigkeit um einen Kurbeitrag.
I.
2
1. Der Beschwerdeführer ist ein eingetragener Verein und betreibt im Gemeindegebiet des Marktes Bad H., des
Beklagten des Ausgangsverfahrens (im Folgenden: Beklagter), eine Fachklinik für Atemwegserkrankungen. In der
Einrichtung erhalten Kinder und Jugendliche medizinische Heilmaßnahmen und Rehabilitationsmaßnahmen. Die
Kinder werden, vor allem wenn sie jünger als fünf Jahre sind, in der Regel von einem Elternteil oder weiteren Personen
begleitet.
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2. a) Nach Art. 7 Abs. 1 des bayerischen Kommunalabgabengesetzes (KAG) können Gemeinden, die ganz oder
teilweise als Heilbad, Kneippheilbad, Kneippkurort, Schrothheilbad, Schrothkurort, heilklimatischer Kurort, Luftkurort
oder Erholungsort anerkannt sind, im Rahmen der Anerkennung zur Deckung ihres Aufwands für ihre Einrichtungen
und Veranstaltungen, die Kur- oder Erholungszwecken dienen, einen Beitrag erheben. Beitragspflichtig sind alle
Personen, die sich in dem nach Art. 7 Abs. 1 KAG anerkannten Gebiet zu Kur- oder Erholungszwecken aufhalten,
ohne dort ihre Hauptwohnung im Sinn des Melderechts zu haben, und denen die Möglichkeit zur Benutzung der
Einrichtungen und zur Teilnahme an den Veranstaltungen geboten ist (Art. 7 Abs. 2 Satz 1 KAG). Wer Personen
beherbergt oder ihnen Wohnraum überlässt, kann in der Satzung verpflichtet werden, diese Personen der Gemeinde
zu melden, ferner den Beitrag einzuheben und an die Gemeinde abzuführen (Art. 7 Abs. 4 Satz 1 KAG). Die
Gemeinden sind berechtigt, diesen Kurbeitrag auf Grund einer besonderen Satzung zu erheben (vgl. Art. 1, Art. 2 Abs.
1 KAG). Der Beklagte hat auf dieser landesrechtlichen Grundlage eine Beitragssatzung erlassen.
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b) Der Beklagte zog den Beschwerdeführer zwischen Dezember 2002 und Juli 2003 zur Zahlung von Kurbeiträgen in
Höhe von insgesamt 63.242,50 Euro heran. Diese Bescheide enthielten auch Kurbeiträge für Eltern, die ihre Kinder -
auch unter Kostenübernahme durch den Sozialleistungsträger - während der Behandlung in der Einrichtung begleiteten
(im Folgenden: Begleitpersonen).
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3. Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren hob das Bayerische Verwaltungsgericht Augsburg mit Urteil vom 9.
November 2005 die Bescheide auf, soweit sie sich auf die Begleitpersonen bezogen. Auf die Berufung des Beklagten
hob der Bayerische Verwaltungsgerichtshof mit dem angegriffenen Urteil vom 22. Juni 2007 das Urteil des
Verwaltungsgerichts auf und wies die Klage ab. Der Kurbeitragspflicht unterlägen auch die Begleitpersonen. Die
Voraussetzung eines Aufenthalts zu Kur- oder Erholungszwecken sei bei ihnen erfüllt. Die Beschwerde gegen die
Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil wies das Bundesverwaltungsgericht mit dem angegriffenen Beschluss
vom 16. Oktober 2007 zurück.
II.
6
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3, Art. 3 Abs. 1 und
Abs. 2 Satz 2, Art. 6 Abs. 1 und 2, Art. 20 Abs. 1 GG. Die angegriffenen Entscheidungen beruhten auf einer
verfassungswidrigen, namentlich mit Art. 6 Abs. 1 und 2 GG nicht zu vereinbarenden Auslegung des Art. 7 Abs. 2
Satz 1 KAG und der Beitragssatzung.
III.
7
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Die Annahmevoraussetzungen (§ 93a Abs.
2 BVerfGG) sind nicht erfüllt. Die Verfassungsbeschwerde hat weder grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung
noch ist ihre Annahme zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt. Die
Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg.
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1. Offen bleiben kann die Frage, ob der Beschwerdeführer als juristische Person des Privatrechts alle Grundrechte,
deren Verletzung er rügt, gemäß Art. 19 Abs. 3 GG geltend machen kann. Zweifel an der Beschwerdebefugnis und
damit an der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde ergeben sich vor allem insoweit, als der Beschwerdeführer eine
Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und 2 GG beanstandet, da das Gebot des Schutzes von Ehe und Familie seinem Wesen
nach nur auf natürliche Personen anwendbar ist und nur sie unmittelbar aus Art. 6 Abs. 1 GG ein subjektives Recht
herleiten können (vgl. BVerfGE 13, 290 <297 f.>); Gleiches dürfte für Art. 6 Abs. 2 GG gelten. Dies bedarf jedoch
keiner abschließenden Klärung, weil die Verfassungsbeschwerde jedenfalls in der Sache keinen Erfolg hat.
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2. Ein Verstoß der angegriffenen Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs gegen Art. 6 Abs. 1 und 2
GG lässt sich nicht feststellen.
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a) Als Freiheitsrecht verpflichtet Art. 6 Abs. 1 GG den Staat, Eingriffe in die Familie zu unterlassen. Darüber hinaus
enthält die Bestimmung eine wertentscheidende Grundsatznorm, die für den Staat die Pflicht begründet, Ehe und
Familie zu schützen und zu fördern (vgl. BVerfGE 87, 1 <35>, 103, 242 <257 f.>). Familien werden durch finanzielle
Belastungen, die der Gesetzgeber Bürgern allgemein auferlegt, regelmäßig stärker finanziell betroffen als Kinderlose.
Dies hat seinen Grund in der besonderen wirtschaftlichen Belastung von Familien, die sich aus der in Art. 6 Abs. 2
GG vorgegebenen und im Familienrecht im Einzelnen ausgeformten Verantwortung der Eltern für das körperliche und
geistige Wohl ihrer Kinder ergibt. So müssen Eltern einerseits für den Unterhalt ihrer Kinder aufkommen, andererseits
können ihnen Einkommensverluste oder Betreuungskosten entstehen (vgl. BVerfGE 103, 242 <258>).
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Gleichwohl geht die grundsätzlich bestehende Pflicht des Staates zur Förderung der Familie nicht so weit, dass er
gehalten wäre, jegliche die Familie treffende finanzielle Belastung auszugleichen (vgl. BVerfGE 23, 258 <264>; 82, 60
<81>; 87, 1 <35>; 97, 332 <349>). Aus der Wertentscheidung des Art. 6 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem
Sozialstaatsprinzip lässt sich zwar die allgemeine Pflicht des Staates zu einem Familienlastenausgleich entnehmen,
nicht aber die Entscheidung darüber, in welchem Umfang und in welcher Weise ein solcher sozialer Ausgleich
vorzunehmen ist. Aus dem Verfassungsauftrag, einen wirksamen Familienlastenausgleich zu schaffen, lassen sich
konkrete Folgerungen für die einzelnen Rechtsgebiete und Teilsysteme, in denen der Familienlastenausgleich zu
verwirklichen ist, nicht ableiten. Insoweit besteht vielmehr grundsätzlich Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers (vgl.
BVerfGE 103, 242 <259 f.>).
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b) Der Verwaltungsgerichtshof hat bei seiner Auslegung des Art. 7 Abs. 2 Satz 1 KAG Bedeutung und Tragweite von
Art. 6 Abs. 1 und 2 GG weder missachtet noch prinzipiell verkannt. Die Auslegung dieser Bestimmung durch den
Verwaltungsgerichtshof führt nicht dazu, dass die von Verfassungs wegen gezogenen Grenzen der Belastung von
Familien überschritten wären.
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aa) Nach dem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs wird der Kurbeitrag als Gegenleistung dafür erhoben, dass
ortsfremden Besuchern eines Kurortes die Möglichkeit geboten wird, die in erster Linie für sie vorgehaltenen
gemeindlichen Kur- oder Erholungseinrichtungen zu nutzen und an den angebotenen Veranstaltungen teilzunehmen.
Die Zweckklausel des Art. 7 Abs. 2 Satz 1 KAG, wonach unter anderem nur die Personen beitragspflichtig sind, die
sich „zu Kur- und Erholungszwecken“ in einem anerkannten Gebiet aufhalten, deutet der Verwaltungsgerichtshof dabei
„tendenziell weit“, weil sie ein dem Beitragscharakter an sich wesenfremdes subjektives Moment enthalte. Die
Tatbestandsvoraussetzung des Aufenthalts zu Kur- oder Erholungszwecken sei erst dann zu verneinen, wenn dieses
Motiv völlig in den Hintergrund trete. Dieses Tatbestandsmerkmal ziele im Sinne einer negativen Abgrenzung darauf,
diejenigen ortsfremden Personen von der Beitragspflicht auszunehmen, für die aufgrund eines besonderen
Aufenthaltszwecks die allgemeine Vermutung nicht gelte, dass mit jedem nicht nur kurzfristigen Verweilen im
Kurgebiet ein kurbeitragspflichtiger Sondervorteil verbunden sei. Eine derartige Ausnahme setze voraus, dass der
anderweitige Aufenthaltszweck bei typisierender Betrachtung die objektiv bestehende Möglichkeit zur
Inanspruchnahme der Kur- und Erholungseinrichtungen vollständig entwerte und lediglich als theoretische Möglichkeit
ohne praktische Bedeutung bestehen lasse, wie das insbesondere bei ortsfremden Personen der Fall sei, die im
Kurgebiet arbeiteten oder ausgebildet würden. Für die Bestimmung des im Ausgangspunkt subjektiven
Aufenthaltszwecks komme es dabei nicht auf die unüberprüfbare innere Absicht der ortsfremden Person an, sondern
nur auf die nach außen in Erscheinung tretenden, verfestigten und von Dritten nachprüfbaren Umstände des
Aufenthalts.
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Mit dieser einer Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich entzogenen und nur auf die
grundlegende Verkennung des Einflusses der Grundrechte kontrollierbaren Auslegung des einfachen Rechts (vgl.
BVerfGE 18, 85 <92 f.>; 89, 276 <285>; 92, 140 <153>) geht der Verwaltungsgerichtshof von anerkannten
Rechtsgrundsätzen des Abgabenrechts aus. Bei seinem Verständnis des Art. 7 Abs. 2 Satz 1 KAG ist dem
Satzungsgeber im Ergebnis ein weitgehender Typisierungsspielraum eröffnet mit der Folge, dass für die Beurteilung
der Beitragspflicht vom typischen Kurgast bzw. hier der typischen Situation der Begleitpersonen auszugehen ist und
diese – ebenso typisierend – vom ortsfremden Arbeitnehmer oder Auszubildenden abgegrenzt werden darf.
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bb) Diese Auslegung des Art. 7 Abs. 2 Satz 1 KAG ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Sie verletzt
Art. 6 GG ebenso wenig wie der vom Verwaltungsgerichtshof gezogene Schluss, dass der Aufenthaltszweck der sich
zur Behandlung im Gebiet des Beklagten aufhaltenden Kinder zwangsläufig auch den Aufenthalt der Begleitpersonen
präge. Die Verfassungsbeschwerde bestreitet selbst nicht substantiiert, dass auch bei den Begleitpersonen eine
gewisse Erholung eintreten und ein Erholungsmotiv vorliegen könne. Dass der Verwaltungsgerichtshof auch ein
derartiges nicht im Vordergrund stehendes, aber doch vorhandenes Motiv zur Begründung der Kurbeitragspflicht
ausreichen lässt, stellt in erster Linie eine Würdigung des Sachverhalts und eine daran anknüpfende Auslegung des
einfachen Rechts dar. Soweit die Verfassungsbeschwerde dem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs die Aussage
entnimmt, bei den ihre Kinder begleitenden Elternteilen stehe das Kur- und Erholungsmotiv typischerweise im
Vordergrund, verkennt sie indessen den Inhalt dieses Urteils. Dort heißt es ausdrücklich, es sei nicht erforderlich,
dass der Kur- oder Erholungszweck das ausschließliche Motiv für den Aufenthalt sei, dieses dürfe nur nicht völlig in
den Hintergrund treten. Danach ist es gerade nicht Voraussetzung, dass der Kur- oder Erholungszweck im
Vordergrund steht, vielmehr genügt es, wenn dieser eines von mehreren, nicht völlig unerheblichen Motiven des
Aufenthalts ist.
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cc) Eine andere Interpretation des Art. 7 Abs. 2 Satz 1 KAG wäre im Lichte von Art. 6 Abs. 1 und 2 GG
möglicherweise dann geboten, wenn die Kurbeitragspflicht von Begleitpersonen dazu führte, dass Kuren von Familien
mit betreuungspflichtigen Kindern typischerweise und in erheblichem Umfang nicht mehr wahrgenommen werden
könnten. Eine solche Konsequenz ist jedoch weder vorgetragen noch ersichtlich.
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Dagegen spricht im Übrigen, dass die der streitigen Beitragserhebung zugrunde liegende Satzung des Beklagten -
was auch der Verwaltungsgerichtshof hervorgehoben hat - die vom Beschwerdeführer vermissten
„familienfreundlichen“ Regelungen enthält. Nach § 4 Abs. 2 und 3 der Satzung sind Kinder bis zur Vollendung des
sechsten Lebensjahres kurbeitragsfrei; für Personen zwischen dem siebten und dem 16. Lebensjahr gilt ein um mehr
als die Hälfte ermäßigter Kurbeitrag. Hinzu kommt die für die betroffenen Familien ebenfalls günstige Regelung, dass
bei der Berechnung des Lebensalters das ganze Lebensjahr, in das der Geburtstag fällt, mit dem niedrigeren Satz
berechnet wird (§ 4 Abs. 4 der Satzung). Der Satzungsgeber hat damit dem Gedanken des Familienlastenausgleichs
durchaus Rechnung getragen, indem er zwar nicht die Eltern, wohl aber die - typischerweise besonders
betreuungsbedürftigen - Kinder unter sieben Jahren gänzlich und ältere Kinder um mehr als die Hälfte von dem
Kurbeitrag entlastet hat.
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3. Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Papier
Eichberger
Masing