Urteil des BVerfG vom 27.12.2006
BVerfG: ne bis in idem, keine strafe ohne schuld, verfassungsbeschwerde, elterliche sorge, strafbare handlung, ausreise, rechtsstaatsprinzip, unterlassen, algerien, dauerdelikt
Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1895/05 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn B ...,
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Horst Korte und Koll.,
Treppenstraße 9, 34117 Kassel -
gegen a) den Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 5. Oktober 2005 - 2
Ss 290/05 -,
b)
das Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 19. April 2005 - 221 Js 221/04 -,
c)
das Urteil des Amtsgerichts Darmstadt vom 26. Januar 2005 - 212 Ls 221 Js
221/04 -
und Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des Rechtsanwalts Horst Korte
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten Hassemer,
die Richter Di Fabio
und Landau
gemäß § 93c in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom
11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 27. Dezember 2006 einstimmig beschlossen:
1.  Das Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 19. April 2005 – 221 Js 221/04 – und der Beschluss des
Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 5. Oktober 2005 - 2 Ss 290/05 - verletzen die Rechte des
Beschwerdeführers aus Artikel 1 Absatz 1 und Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem
Rechtsstaatsprinzip.
2.  Das Urteil des Landgerichts Darmstadt und der Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main werden
aufgehoben; die Sache wird an eine Strafkammer des Landgerichts Darmstadt zurückverwiesen. Im Übrigen
wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
3.  Das Land Hessen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten. Damit erledigt sich der
Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe und auf Beiordnung des Verfahrensbevollmächtigten.
Gründe:
A.
I.
1
1.  Die  Verfassungsbeschwerde  richtet  sich  gegen  die  zweite  gegen  den  Beschwerdeführer  ergangene
strafgerichtliche Verurteilung wegen Kindesentziehung.
2
Der  Beschwerdeführer  ist  Vater  einer  im  Jahre  1995  geborenen  Tochter  namens  S.  Das
Aufenthaltsbestimmungsrecht für S. wurde rechtskräftig der Mutter, seiner früheren Ehefrau, übertragen.
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Im Jahr 2001 reiste  S.  mit  dem  Einverständnis  ihrer  Mutter  zu  Verwandten  des  Beschwerdeführers  nach  Algerien,
wo sie sich seither aufhält. Alle Versuche der Kindesmutter, S. wieder nach Deutschland zu holen, scheiterten daran,
dass  für  die  Ausreise  nach  algerischem  Recht  ein  notariell  beurkundetes  Einverständnis  des  Vaters  notwendig  ist.
Dieses hat der Beschwerdeführer von Anfang an verweigert.
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2. Infolge dieser Weigerung verurteilte ihn das Amtsgericht wegen Kindesentziehung (§ 235 Abs. 2 Nr. 2 StGB) zu
einer  Freiheitsstrafe,  die  das  Landgericht  als  Berufungsinstanz  auf  zwei  Jahre  und  sechs  Monate  Freiheitsstrafe
ermäßigte.  Bereits  im  Rahmen  der  Vorbereitung  des  Hauptverhandlungstermins  wies  der  Vorsitzende  der
Berufungskammer  den  Beschwerdeführer  und  dessen  Verteidiger  schriftlich  darauf  hin,  dass  es  sich  bei
Kindesentziehung  um  ein  Dauerdelikt  handele.  Daher  trete  mit  dem  Tag  der  letzten  Hauptverhandlung  in  einer
Tatsacheninstanz  eine  Zäsurwirkung  ein.  Der  Beschwerdeführer  laufe  "daher  Gefahr,  bis  zur  Vollendung  des  18.
Lebensjahres seiner Tochter zahlreiche erhebliche Freiheitsstrafen anzusammeln".
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3.  Aufgrund  dieser  Verurteilung,  die  nicht  Gegenstand  der  Verfassungsbeschwerde  ist,  befand  sich  der
Beschwerdeführer bis zum 30. September 2006 in Strafhaft.
6
4. Auch nach Rechtskraft dieser Verurteilung weigerte sich der Beschwerdeführer, die Genehmigung zur Ausreise S.
aus Algerien zu erteilen. Die Staatsanwaltschaft erhob daraufhin erneut Anklage wegen dieses Sachverhalts, jedoch
im  Hinblick  auf  einen  Tatzeitraum  nach  der  ersten  Verurteilung  durch  das  Landgericht  am  17.  November  2003.  Der
Beschwerdeführer wurde wiederum von Amtsgericht und Landgericht wegen Kindesentziehung zu einer Freiheitsstrafe
von nunmehr drei Jahren verurteilt. Das Landgericht führt aus, der Beschwerdeführer habe ein Dauerdelikt begangen,
bei  dem  die  letzte  Hauptverhandlung  in  einer  Tatsacheninstanz,  die  der  ersten  Verurteilung  zugrunde  lag,  eine
Zäsurwirkung  entfalte.  Demnach  liege  im  Zeitraum  seit  der  letzten  Tatsachenverhandlung  eine  neue  Tat  vor.  Zur
Tatmotivation  des  Beschwerdeführers  stellt  das  Landgericht  fest,  er  habe  die  Zustimmung  zur  Heimkehr  S.
verweigert, um die Kindesmutter davon abzuhalten, sich von ihm scheiden zu lassen, und um sie zu bewegen, ihn als
bei ihr wohnhaft zu melden, damit er Vollzugslockerungen erhalte.
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5. Die gegen diese Verurteilung erhobene Revision des Beschwerdeführers hat das Oberlandesgericht gemäß § 349
Abs. 2 StPO verworfen.
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6. Inzwischen wird gegen den Beschwerdeführer ein gleich gelagertes drittes Strafverfahren geführt, das noch nicht
rechtskräftig abgeschlossen ist.
II.
9
Im  familiengerichtlichen  Verfahren,  das  unter  anderem  die  elterliche  Sorge  zum  Gegenstand  hatte,  stellte  das
Amtsgericht über den Beschwerdeführer fest: "Auch sein Verhalten im Zusammenhang mit der von der Kindesmutter
angestrebten  Rückführung  der  Tochter  nach  Deutschland  macht  deutlich,  dass  es  dem  Beschwerdeführer  nicht  um
das Wohl der gemeinsamen Tochter geht, sondern um die Durchsetzung eigener Interessen. Er versucht, die Sorge
der Kindesmutter um das Wohlergehen der Tochter skrupellos für sich auszunutzen, indem er seine Zustimmung zur
Rückführung  davon  abhängig  macht,  dass  die  Kindesmutter  ihn  mit  Wohnsitz  wieder  unter  ihrer  Anschrift  anmeldet,
weil  er  sich  davon  den  Freigängerstatus  erhofft,  und  sie  zu  veranlassen,  sich  dafür  zu  verwenden,  dass  er  nicht
abgeschoben  wird.  Die  Belange  der  Tochter,  die  im  Februar  2002  seit  mehr  als  1  1/4  Jahren  keinerlei  persönlichen
Kontakt zur Mutter halten kann, interessieren ihn hingegen offensichtlich überhaupt nicht."
10
Die gegen diese Entscheidung gerichtete Berufung hat das Oberlandesgericht durch Beschluss vom 28. März 2003
verworfen.
III.
11
Mit  seiner  rechtzeitig  erhobenen  Verfassungsbeschwerde  rügt  der  Beschwerdeführer  eine  Verletzung  des
Doppelbestrafungsverbots  ("ne  bis  in  idem")  aus  Art.  103  Abs.  3  GG  sowie  des  Verhältnismäßigkeitsprinzips  in
Gestalt  des  Übermaßverbots  aus  Art.  2  Abs.  1  GG  durch  die  Entscheidungen  des  Amtsgerichts,  des  Landgerichts
und des Oberlandesgerichts.
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1.  Die  zweite  strafgerichtliche  Verurteilung  verstoße  gegen  das  Doppelbestrafungsverbot.  Ihr  Gegenstand  sei
"dieselbe Tat" im Sinne des Art. 103 Abs. 3 GG wie bei der ersten Verurteilung wegen Kindesentziehung. Auch wenn
bei vordergründiger Betrachtung zwei Lebenssachverhalte - nämlich zwei Tatzeiträume - zu unterscheiden seien, liege
dem Unterlassen doch nur ein einziger, einmal gefasster und unabänderlicher Entschluss zugrunde. Auch werde von
dem  Beschwerdeführer  stets  nur  dasselbe  Verhalten  verlangt,  nämlich  die  einmalige  Abgabe  der
Zustimmungserklärung.  Daher  ende  der  maßgebliche  Lebenssachverhalt  erst,  wenn  die  Handlungspflicht  ende,  also
mit der Volljährigkeit seiner Tochter im Jahre 2013.
13
2.  Die  Verhängung  zweier  Freiheitsstrafen  von  insgesamt  fünf  Jahren  und  sechs  Monaten  verstoße  bereits  heute
angesichts eines Strafrahmens von nur fünf Jahren gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip und das Übermaßverbot.
Zudem  drohe  in  dem  bereits  eingeleiteten  dritten  Ermittlungsverfahren  eine  weitere  Freiheitsstrafe  von  mehr  als  drei
Jahren. Insgesamt sei damit eine "Verurteilungskette" in Gang gesetzt, die erst mit der Volljährigkeit der Tochter S.
im Jahre 2013 ihren Abschluss finden werde. Dies könne zu Freiheitsstrafen von zehn bis 15 Jahren führen. Die Zahl
der  noch  zu  erwartenden  Verurteilungen  sei  lediglich  vom  Ermessen  der  Strafverfolgungsbehörden  abhängig,  wann
Hauptverhandlungstermine  angesetzt  würden  und  in  wie  viele  Einzelabschnitte  das  Unterlassen  des
Beschwerdeführers  damit  aufgespalten  werde.  Insgesamt  sei  die  zu  erwartende  Strafhöhe  nicht  mehr  am  Unrechts-
und Schuldgehalt der Tat des Beschwerdeführers orientiert.
IV.
14
Zu  der  Verfassungsbeschwerde  haben  der  Präsident  des  Bundesgerichtshofs,  der  Generalbundesanwalt  und  die
Hessische Staatskanzlei Stellung genommen.
15
1.  Der  Präsident  des  Bundesgerichtshofs  hat  eine  Stellungnahme  der  Vorsitzenden  des  5.  Strafsenats  übersandt,
die sich auf das Urteil vom 9. Februar 2006 - 5 StR 564/05 – bezieht (NStZ 2006, S. 447 <448> = StV 2006, S. 470).
16
2. Der Generalbundesanwalt hat unter anderem ausgeführt, die rechtskräftige Verurteilung führe bei Dauerdelikten zu
einer Zäsurwirkung, wobei für Unterlassungsdelikte nichts anderes gelte.
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3.  Die  Hessische  Staatskanzlei  hat  ausgeführt,  man  könnte  sich  im  vorliegenden  Fall  zwar  darauf  berufen,  die
unterlassene  Zustimmung  zur  Ausreise  der  Tochter  des  Beschwerdeführers  aus  Algerien  sei  ein  einheitliches,  auf
einem  einmaligen  Willensentschluss  beruhendes  Unterlassen.  Dann  wäre  die  Tat  vollendet,  aber  nicht  beendet  und
könnte  somit  als  einheitlicher  Lebensvorgang  zu  qualifizieren  sein.  Indes  werde  –  was  hier  der  Fall  sei  -  von  einer
neuen Tat im prozessualen Sinne dann ausgegangen, wenn der Täter eines Dauerdelikts den rechtswidrigen Zustand
nach  der  letzten  Tatsacheninstanz  weiterhin  aufrechterhalte.  Die  erste  Verurteilung  bewirke  eine  Zäsur,  ab  der  eine
neue Tat vorliege, die einer erneuten Verurteilung zugänglich sei.
V.
18
Die  Akten  der  beiden  gegen  den  Beschwerdeführer  wegen  Kindesentziehung  geführten  Strafverfahren  und  des
familiengerichtlichen Verfahrens haben der Kammer vorgelegen.
B.
19
Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, soweit sie sich gegen die Verurteilung durch das Amtsgericht wendet.
Das  Berufungsgericht  hat  auf  die  Berufung  des  Beschwerdeführers  in  vollem  Umfang  über  den  Prozessgegenstand
entschieden. Damit ist die vorhergehende Entscheidung des Amtsgerichts prozessual überholt.
C.
20
Soweit  zulässig,  ist  die  Verfassungsbeschwerde  in  einer  die  Zuständigkeit  der  Kammer  eröffnenden  Weise
begründet.  Die  Verfassungsbeschwerde  ist  zur  Entscheidung  anzunehmen,  weil  dies  zur  Durchsetzung  der  in  §  90
Abs.  1  BVerfGG  genannten  Rechte  angezeigt  ist  (§  93b  i.V.m.  §  93a  Abs.  2  Buchstabe  b  BVerfGG). Die
angegriffenen  Entscheidungen  des  Landgerichts  und  des  Oberlandesgerichts  verletzen  den  Beschwerdeführer  in
seinen  Grundrechten  aus  Art.  1  Abs.  1  und  Art.  2  Abs.  1  GG  in  Verbindung  mit  dem  Rechtsstaatsprinzip
(Schuldprinzip).
21
Die  Voraussetzungen  des  §  93c  Abs.  1  Satz  1  BVerfGG  für  eine  der  Verfassungsbeschwerde  stattgebende
Entscheidung  der  Kammer  sind  gegeben.  Die  maßgeblichen  verfassungsrechtlichen  Fragen  hat  das
Bundesverfassungsgericht bereits entschieden.
I.
22
Auf  dem  Gebiet  der  Strafrechtspflege  bestimmt  Art.  1  Abs.  1  GG  die  Auffassung  vom  Wesen  der  Strafe.  Der
Grundsatz  "Keine  Strafe  ohne  Schuld"  hat  Verfassungsrang;  er  findet  seine  Grundlage  im  Gebot  der  Achtung  der
Menschenwürde sowie in Art. 2 Abs. 1 GG und im Rechtsstaatsprinzip (vgl. BVerfGE 9, 167 <169>; 86, 288 <313>;
95, 96 <140>; stRspr).
23
Aus  diesem  Grundsatz  folgt  für  die  Strafgerichte  das  Gebot  schuldangemessenen  Strafens  im  Einzelfall.  Jede
Strafe setzt Schuld voraus. Die Strafe ist im Gegensatz zur reinen Präventionsmaßnahme dadurch gekennzeichnet,
dass sie - wenn nicht ausschließlich, so doch auch - auf gerechte Vergeltung für ein rechtlich verbotenes Verhalten
abzielt. Die Strafe antwortet auf ein rechtswidriges sozialethisches Fehlverhalten. Eine solche strafrechtliche Reaktion
wäre  ohne  Feststellung  der  individuellen  Zurechenbarkeit  mit  dem  Rechtsstaatsprinzip  unvereinbar  (vgl. BVerfGE  6,
389  <439>;  20,  323  <331>).  Die  Strafe  muss  in  einem  gerechten  Verhältnis  zur  Schwere  der  Tat  und  zum
Verschulden des Täters stehen (vgl. BVerfGE 50, 5 <12>; 73, 206 <253 f.>; 86, 288 <313>; 96, 245 <249>). Insoweit
deckt  sich  der  Schuldgrundsatz  mit  dem  Übermaßverbot  (vgl. BVerfGE  50,  205  <215>;  73,  206  <253>;  86,  288
<313>; 95, 96 <140>). Das Bundesverfassungsgericht prüft nur nach, ob dem Schuldgrundsatz überhaupt Rechnung
getragen oder ob seine Tragweite bei der Auslegung und Anwendung des Strafrechts grundlegend verkannt worden ist
(BVerfGE 95, 96 <141>).
II.
24
Diesen Anforderungen werden die angegriffenen Entscheidungen, die den Beschwerdeführer zum zweiten Mal wegen
Kindesentziehung nach § 235 Abs. 2 Ziff. 2 StGB bestrafen, nicht gerecht.
25
1.  Die  Gerichte  nehmen  an,  die  erste  Verurteilung  entfalte  Zäsurwirkung  im  Hinblick  auf  das  Dauerdelikt  der
Kindesentziehung, so dass es sich bei der nach dem 18. November 2003 weiter verweigerten Zustimmungserklärung
des Beschwerdeführers zur Ausreise seines Kindes aus Algerien um eine neue Tat der Kindesentziehung handele.
26
2.  Bei  dieser  Bewertung  lassen  die  Gerichte  in  verfassungsrechtlich  erheblicher  Weise  Besonderheiten  des  erneut
auf das Verhalten des Beschwerdeführers angewendeten Tatbestandes außer Acht.
27
a)  Bei  dem  vorgeworfenen  Verhalten  –  Nichtabgabe  der  Zustimmungserklärung  zur  Ausreise  trotz  rechtskräftiger
familienrechtlicher Entscheidung - handelt es sich um ein Unterlassen im Sinne des § 13 Abs. 1 StGB (vgl. Gribbohm,
in: Leipziger Kommentar zum StGB, 11. Aufl. 2005, Rn. 75 zu § 235 StGB), das der Beschwerdeführer als Dauerdelikt
begeht (vgl. ausdrücklich zur Kindesentziehung: Reichsgericht, Entscheidung vom 12. Dezember 1941 – 1 D 463/41 -,
DR  1942,  S.  438  <439>;  Bundesgerichtshof,  Urteil  vom  11.  Februar  1999  –  4  StR  594/98  -,  NJW  1999,  S.  1344
<1346>; Urteil vom 9. Februar 2006 - 5 StR 564/05 -, NStZ 2006, S. 447 <448> = StV 2006, S. 470). Das verleiht der
Tat die Eigenschaft eines Unterlassungsdauerdelikts (Stree/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, 27. Aufl.
2006,  vor  §§  52  ff.,  Rn.  81  a.E.;  BayObLG,  Urteil  vom  30.  Juni  1960  –  RevReg.  4  St  120/60  -,  BayObLG  1960,  S.
168 ff.; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 26. Januar 1981 – 1 Ss 27/81 -, MDR 1981, S. 1042).
28
b) Vor diesem strafrechtsdogmatischen Hintergrund verletzt die zweite Verurteilung des Beschwerdeführers, die an
die Nichtabgabe der notariellen Zustimmungserklärung zur Ausreise seiner Tochter anknüpft, in mehrfacher Hinsicht
das Schuldprinzip.
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aa)  Die  Gerichte  haben  sich  nicht  mit  der  Frage  auseinandergesetzt,  ob  der  Beschwerdeführer  durch  das  weitere
aa)  Die  Gerichte  haben  sich  nicht  mit  der  Frage  auseinandergesetzt,  ob  der  Beschwerdeführer  durch  das  weitere
Unterlassen der Abgabe der notariellen Zustimmungserklärung überhaupt erneut schuldhaft Unrecht verwirklicht hat. In
den Entscheidungen wird nicht geprüft, ob der Beschwerdeführer angesichts der Einmaligkeit der von ihm geforderten
Leistung  -  Abgabe  der  notariellen  Zustimmungserklärung  zur  Ausreise  seiner  Tochter  -  durch  die  bloße  Fortsetzung
seines  Nichthandelns  ein  erneutes  rechtlich  verbotenes  Verhalten  gezeigt  hat,  das  eigenständiger  Sanktionierung
zugänglich  ist.  Die  Gerichte  haben  den  Beschwerdeführer  ohne  hinreichende  Begründung,  nur  unter  Hinweis  auf  die
erste  Verurteilung,  zu  einer  noch  höheren  Freiheitsstrafe  verurteilt  und  somit  die  Reichweite  des  Schuldgrundsatzes
bei der Auslegung und Anwendung des Strafrechts verkannt.
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bb) Die Gerichte haben – sollte der Beschwerdeführer erneut schuldhaft Unrecht verwirklicht haben - auch nicht den
Schuldumfang  der  von  ihnen  angenommenen  zweiten  im  Verhältnis  zur  ersten  Tat  erörtert.  Dass  der  Staat  durch
einen bloßen, nicht näher begründeten Verweis auf die dogmatische Figur der "Zäsurwirkung" einer vorausgegangenen
Verurteilung selbst die Voraussetzungen für die Verurteilung wegen einer vermeintlich neuen Tat schafft, stellt einen
offensichtlichen Verstoß gegen das Schuldprinzip dar: Nicht die individuelle Schuld ist in einem solchen Falle Grund
der  Bestrafung  und  Grundlage  der  Strafzumessung,  sondern  die  von  Zufälligkeiten  abhängige  Geschwindigkeit  der
Strafverfolgung,  die  zur  Konstruktion  von  Zäsurwirkungen  führt.  Die  Strafbarkeit  hängt  nicht  von  den  abstrakt-
generellen Normen des Strafrechts, sondern von der konkreten Organisation der Gerichte ab, die die Voraussetzungen
der  Strafbarkeit  selbst  gestalten.  Eine  solche  Rechtsanwendung  birgt  die  Gefahr,  den  Beschuldigten  als  bloßes
Objekt der Strafverfolgungsbehörden zu behandeln.
31
Auch wenn sich eine Zäsurwirkung der letzten Tatsachenverhandlung begründen ließe, hätte es Feststellungen dazu
bedurft,  dass  der  Beschwerdeführer  danach  einen  neuen,  von  dem  ersten  qualitativ  verschiedenen,  weil  die
vorausgegangene  Verurteilung  außer  Acht  lassenden  Tatentschluss  gefasst  hat.  Die  bloße  Fiktion  eines  solchen
Entschlusses  ohne  Anhaltspunkte  in  äußeren  Handlungen  des  Beschwerdeführers  kann  unter  der  Geltung  des
Schuldprinzips keine Grundlage für eine erneute Verurteilung sein.
32
cc) Selbst bei Annahme einer neuen schuldhaft verwirklichten Tat hätten die Gerichte sich damit auseinandersetzen
müssen,  ob  eine  erneute  Verurteilung  sich  nicht  von  der  Bestimmung  der  Strafe  löst,  gerechter  Schuldausgleich  zu
sein.
33
Einer  vom  individuellen  Schuldgehalt  der  Handlung  bzw.  des  einer  Handlung  gleichgestellten  Unterlassens  (§  13
Abs.  1  StGB)  absehenden  Verurteilung  des  Beschwerdeführers  käme  lediglich  eine  mit  dem  Schuldprinzip  nicht  zu
vereinbarende,  die  verfassungsrechtlich  anerkannten  Strafzwecke  des  gerechten  Schuldausgleichs  sowie  der
General-  und  Spezialprävention  (BVerfGE  45,  187  <253  ff.>;  64,  261  <274>;  92,  277  <349>;  109,  133  <173>)
verfehlende  Beugewirkung  zu.  Der  Beschwerdeführer  wird  dann  nicht  entsprechend  dem  Maß  seiner  individuellen
Schuld, sondern wegen seines gegenüber den Strafverfolgungsbehörden gezeigten Ungehorsams mit Strafen belegt,
deren  Ende  –  entgegen  allen  etwa  in  der  Strafprozessordnung  und  der  Zivilprozessordnung  aufgestellten  Regeln  zur
Erzwingung  unvertretbarer  Handlungen  -  nicht  absehbar  ist.  Ungehorsam  ist  einem  rechtsstaatlichen  Strafrecht  als
Strafgrund  fremd  und  könnte  allenfalls  -  begriffen  als  beharrliche  Verletzung  von  Rechtspositionen  anderer  oder  der
Allgemeinheit  -  bei  der  Strafzumessung  Berücksichtigung  finden.  Das  setzte  indes  eine  strafbare  Handlung  als
Grundlage der zweiten Verurteilung voraus, die in den angegriffenen Entscheidungen nicht hinreichend begründet ist.
34
3. Die angegriffene Entscheidung des Landgerichts beruht auf der Verletzung des Schuldprinzips. Die Entscheidung
des Oberlandesgerichts hat den Grundrechtsverstoß nicht beseitigt, sondern perpetuiert.
III.
35
Weil  die  angegriffenen  Entscheidungen  gegen  den  Schuldgrundsatz  (Art.  1  Abs.  1,  Art.  2  Abs.  1  GG  i.V.m.  dem
Rechtsstaatsprinzip) verstoßen, bedarf keiner Erörterung, ob auch Art. 103 Abs. 3 GG (ne bis in idem) verletzt ist.
D.
36
Die Auslagenentscheidung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG. Weil die Beschwerde in der Sache vollen Erfolg hat,
ist die vollständige Auslagenerstattung angemessen.
37
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Hassemer
Di Fabio
Landau