Urteil des BVerfG vom 17.12.2008

BVerfG: einverständliche scheidung, verfassungsbeschwerde, einverständliche ehescheidung, ehescheidungsverfahren, willkürverbot, nettoeinkommen, berufsfreiheit, vergütung, rechtsschutz

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 992/08 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Rechtsanwalts G...
gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Oldenburg vom 3. März 2008 - 4 WF 49/08 -
hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterin Hohmann-Dennhardt
und die Richter Gaier,
Kirchhof
am 17. Dezember 2008 einstimmig beschlossen:
1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Oldenburg vom 3. März 2008 - 4 WF 49/08 - verletzt den
Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes. Der Beschluss wird
aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht Oldenburg zurückverwiesen.
2. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
3. Das Land Niedersachsen hat dem Beschwerdeführer drei Viertel seiner notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe:
I.
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Streitwertfestsetzung in einer Ehesache, in der beiden Parteien
Prozesskostenhilfe bewilligt wurde.
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1. Der Beschwerdeführer ist Rechtsanwalt. In einem Ehescheidungsverfahren, in dem beiden Parteien
Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlungsverpflichtung bewilligt worden war, wurde er der Ehefrau beigeordnet.
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2. Ausgehend von dem monatlichen Nettogehalt der Parteien des Scheidungsverfahrens in Höhe von insgesamt
2.600 € setzte das Amtsgericht den Streitwert für die - einverständliche - Ehescheidung gemäß § 48 Abs. 2 Satz 1,
Abs. 3 Satz 1 des Gerichtskostengesetzes (GKG) auf einen Streitwert der Streitwertstufe „bis 8.000 €“ fest. Gegen
diese Wertfestsetzung erhob der Bezirksrevisor namens der Landeskasse mit der Begründung Beschwerde, unter
Berücksichtigung von Umfang und Bedeutung der Sache sei der Streitwert auf lediglich 2.000 € festzusetzen.
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In dem hierauf ergangenen Nichtabhilfebeschluss führte das Amtsgericht aus, gemäß § 48 GKG sei das dreifache
monatliche Nettoeinkommen der Eheleute Ausgangspunkt für die Streitwertbemessung. Der Umstand, dass es sich
vorliegend um eine einfach gelagerte, einverständliche Scheidung gehandelt habe, erlaube keinen generellen
Wertabschlag, weil Scheidungen im Regelfall einvernehmlich erfolgten. Die tatsächliche und rechtliche Bedeutung
einer Ehescheidung sei grundsätzlich erheblich. Aus verfassungsrechtlichen Gründen dürfe die Bewilligung von
Prozesskostenhilfe keinen Einfluss auf die Bemessung des Streitwerts haben.
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Das Oberlandesgericht änderte die Festsetzung des Streitwerts für das Ehescheidungsverfahren auf 2.000 € ab.
Auch nach der neueren verfassungsrechtlichen Rechtsprechung halte der Senat an seiner ständigen Rechtsprechung
fest, wonach der Streitwert in einfach gelagerten Scheidungsverfahren auf 2.000 € festzusetzen sei. Nach der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts begegne es keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, neben den
Vermögensverhältnissen alle Umstände des Einzelfalls, insbesondere auch den Umfang der Sache zu
berücksichtigen. Daran gemessen handele es sich vorliegend um eine denkbar einfach gelagerte Ehesache. Der
Umstand, dass beiden Parteien Prozesskostenhilfe gewährt worden sei, habe bei der Streitwertfestsetzung keine
Rolle gespielt.
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3. Der Beschwerdeführer rügt im Wesentlichen die Verletzung des Art. 12 Abs. 1 und des Art. 3 Abs. 1 GG in seiner
Bedeutung als Willkürverbot.
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Das Oberlandesgericht lege die für die Festsetzung des Streitwerts maßgeblichen Normen nicht im Lichte der durch
Art. 12 Abs. 1 GG garantierten Berufsfreiheit aus und setze den Streitwert in - wie hier - auf Prozesskostenhilfebasis
geführten Scheidungsverfahren ohne Prüfung der Umstände des Einzelfalls mit stereotyper Begründung auf den
Mindeststreitwert fest. Der hiermit verbundene Eingriff in seine Berufsfreiheit sei zur Schonung öffentlicher Kassen
weder erforderlich noch angemessen, weil der Zweck der Schonung der Staatskasse bereits über die im Falle
bewilligter Prozesskostenhilfe reduzierten Gebühren erreicht werde. Entgegen der Darstellung des Oberlandesgerichts
habe der Umstand, dass beiden Parteien Prozesskostenhilfe gewährt worden sei, bei der Streitwertfestsetzung eine
maßgebliche Rolle gespielt.
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Die angegriffene Entscheidung und die hierin zum Ausdruck gekommene ständige Rechtsprechung des
Oberlandesgerichts verletzten auch Art. 3 Abs. 1 GG (i.V.m. Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 3 GG), weil der Streitwert
ohne Rücksicht auf die gesetzlichen Vorgaben, die eine Einzelfallbetrachtung unter Berücksichtigung und zutreffender
Gewichtung aller Umstände forderten, festgesetzt worden sei und in ständiger Rechtsprechung festgesetzt werde.
Entgegen den Vorgaben von § 48 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 und 2 GKG berücksichtige das Oberlandesgericht bei
der Streitwertfestsetzung weder die Bedeutung der Ehescheidung noch das Einkommen der Parteien des
Scheidungsverfahrens. In der Rechtsprechung des Oberlandesgerichts komme eine grundsätzliche Missachtung der
gesetzlichen Regelung in § 48 Abs. 2 und 3 GKG zum Ausdruck, die zu einer mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbaren
willkürlichen Ermessensüberschreitung führe. Zudem stelle die in der angegriffenen Entscheidung zum Ausdruck
gekommene Rechtsprechung des Oberlandesgerichts eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung von bemittelten
und bedürftigen Rechtsuchenden und ihrer Anwälte dar. Da ihm nicht zuzumuten sei, dieselben
verfassungsrechtlichen Einwände in jedem Einzelfall erneut vorzutragen, sei er aufgrund seines Anspruchs auf
effektiven Rechtsschutz berechtigt, neben der konkreten Entscheidung auch die ständige Rechtsprechung des
Oberlandesgerichts als solche mit der Verfassungsbeschwerde anzugreifen.
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4. Das Niedersächsische Justizministerium und die Parteien des Ausgangsverfahrens hatten Gelegenheit zur
Stellungnahme.
II.
10
Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen die im Tenor bezeichnete Entscheidung richtet, nimmt die Kammer
die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts des
Beschwerdeführers aus Art. 3 Abs. 1 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Auch die weiteren
Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen insoweit vor. Das Bundesverfassungsgericht hat die für
die Entscheidung maßgeblichen Fragen bereits entschieden (vgl. BVerfGE 89, 1 <13 f.>; 96, 189 <203>). Die gegen
den Streitwertbeschluss des Oberlandesgerichts gerichtete Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet.
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Hingegen wird die weitergehende, allgemein gegen die ständige Rechtsprechung des 4. Zivilsenats des
Oberlandesgerichts zur Streitwertfestsetzung in Ehescheidungsverfahren gerichtete Verfassungsbeschwerde nicht zur
Entscheidung angenommen. Die Verfassungsbeschwerde ist insoweit mangels tauglichen Beschwerdegegenstands
unzulässig (vgl. BVerfGE 2, 139 <141>).
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1. Die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts zur Streitwertfestsetzung
verletzt das aus Art. 3 Abs. 1 GG folgende Willkürverbot.
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Willkürlich ist ein Richterspruch nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dann, wenn er
unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass er auf
sachfremden Erwägungen beruht. Das ist anhand objektiver Kriterien festzustellen. Schuldhaftes Handeln des
Richters ist nicht erforderlich. Fehlerhafte Rechtsanwendung allein macht eine Gerichtsentscheidung nicht willkürlich.
Willkür liegt vielmehr erst dann vor, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt, der Inhalt einer
Norm in krasser Weise missverstanden oder sonst in nicht mehr nachvollziehbarer Weise angewendet wird (vgl.
BVerfGE 89, 1 <13 f.>; 96, 189 <203>).
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Dies ist vorliegend der Fall. Zwar geht das Oberlandesgericht mit dem Gesetzeswortlaut zunächst formal davon aus,
dass bei der Streitwertfestsetzung gemäß § 48 Abs. 2 Satz 1 GKG neben den Vermögensverhältnissen alle
Umstände des Einzelfalls, insbesondere der Umfang und die Bedeutung der Sache bei der Bestimmung des
Streitwerts zu berücksichtigen sind. Grundsätzlich bestehen auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen ein
Abweichen vom einzusetzenden dreifachen Nettoeinkommen, wenn der Streitwert für eine einverständliche Scheidung
(§ 630 der Zivilprozessordnung ) mit deswegen geringem Umfang festzusetzen ist. Insbesondere ist es aus
verfassungsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden, wenn unter Abwägung aller Umstände mit vertretbarer Begründung
angenommen wird, dass eine Festsetzung des Streitwerts auf das dreifache monatliche Nettoeinkommen im
konkreten Fall nicht berechtigt ist; der Streitwertbemessung darf es jedoch nicht an einer nachvollziehbaren Grundlage
fehlen.
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Die angegriffene Entscheidung ist nach diesen Maßstäben unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt vertretbar und
damit willkürlich. Bereits der Ausgangspunkt des Oberlandesgerichts, den Streitwert für Ehesachen in einfach
gelagerten Fällen grundsätzlich auf den Mindeststreitwert festzusetzen, begegnet erheblichen Bedenken, weil es sich
bei dem in § 48 Abs. 3 Satz 2 GKG vorgesehenen Mindestwert gerade nicht um einen Regelstreitwert handelt. Der
Streitwert muss vielmehr gemäß § 48 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 2 GKG unter Berücksichtigung aller und nicht nur
einer der dort genannten Umstände bestimmt und auf mindestens 2.000 € festgesetzt werden. Insbesondere ist
jedoch die konkrete Argumentation des Oberlandesgerichts zur Streitwertbemessung nicht nachvollziehbar und unter
keinem denkbaren Aspekt vertretbar. Das Oberlandesgericht begründet seine Streitwertfestsetzung im Wesentlichen
mit dem geringen Umfang des Verfahrens; die Einkommensverhältnisse der Parteien des Scheidungsverfahrens
werden hingegen entgegen den Vorgaben des § 48 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 GKG nicht konkret berücksichtigt.
Trotz der bereits in den Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Juli 2007 (1 BvR 1678/07) und vom 11.
Dezember 2007 (1 BvR 3032/07) zum Ausdruck gekommenen verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die
Argumentation des Oberlandesgerichts wird nicht nachvollziehbar erläutert, warum unter Berücksichtigung des
Einkommens der Parteien des Scheidungsverfahrens, das sich bei Ansatz des gemäß § 48 Abs. 3 Satz 1 GKG
maßgeblichen Dreimonatsbetrags auf immerhin 7.800 € beläuft, die Festsetzung des Mindeststreitwerts von nur 2.000
€ angemessen oder auch nur vertretbar sein könnte. Die Argumentation des Oberlandesgerichts, es habe sich um ein
einfaches, wenig arbeitsintensives Scheidungsverfahren von geringem Umfang gehandelt, vermag die erhebliche
Differenz von dreifachem Nettomonatseinkommen zu festgesetztem Streitwert in Höhe von 5.800 € nicht
nachvollziehbar zu begründen. Es ist mit der gesetzlichen Regelung schlechthin unvereinbar, Vermögens- und
Einkommensverhältnisse der Parteien bei der Streitwertfestsetzung deshalb völlig außer Betracht zu lassen, weil
diese nur durchschnittliche Beträge erreichen.
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Zu erklären wäre die Festsetzung eines Streitwerts von lediglich 2.000 € im vorliegenden Fall nur dann, wenn der
Umstand der Prozesskostenhilfebewilligung eine maßgebliche Rolle gespielt hätte. Dies ist jedoch ausweislich der
Gründe der angegriffenen Entscheidung nicht der Fall. Eine Berücksichtigung der Prozesskostenhilfebewilligung bei
der Streitwertfestsetzung wäre auch unzulässig, weil eine solche Auslegung der gesetzlichen Regeln zur
Streitwertberechnung (§ 48 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 und 2 GKG) in Verbindung mit den Vorschriften über die
Maßgeblichkeit des festgesetzten Streitwerts für die Höhe der Vergütung von Rechtsanwälten (§ 32 Abs. 1 des
Gesetzes über die Vergütung der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte )
nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu einer im Ergebnis willkürlichen, unverhältnismäßigen
Beschränkung der Berufsfreiheit des Beschwerdeführers führen würde (vgl. BVerfGK 6, 130 <132 ff.>). Hiernach
begründet die Berücksichtigung der Prozesskostenhilfebewilligung bei der Streitwertfestsetzung eine Verletzung von
Art. 12 Abs. 1 GG, weil dem legitimen Ziel der Schonung öffentlicher Kassen bereits durch die Reduzierung der
Vergütungssätze der im Wege der Prozesskostenhilfe beigeordneten Rechtsanwälte in § 45 Abs. 1, § 49 RVG
umfassend Rechnung getragen wurde (vgl. BVerfGK 6, 130 <132 ff.>).
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2. Nachdem die angegriffene Entscheidung jedenfalls das Willkürverbot gemäß Art. 3 Abs. 1 GG verletzt, kann offen
bleiben, ob daneben auch eine Verletzung von Art. 12 Abs. 1 GG gegeben ist.
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3. Der Beschluss des Oberlandesgerichts ist hiernach gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG
aufzuheben, ohne dass es noch auf die weiter erhobene Rüge ankommt. Die Sache selbst ist an das
Oberlandesgericht zurückzuverweisen.
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4. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Hohmann-Dennhardt
Gaier
Kirchhof