Urteil des BVerfG vom 16.10.2002

BVerfG: verfassungsbeschwerde, freiheitsrecht, aussetzung, freiheitsentziehung, zukunft, strafvollzug, dringlichkeit, rechtsstaatsprinzip, aufklärungspflicht, presse

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1293/02 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn G...
gegen
a)
den Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 19. Juli 2002 - 3 Ws
433/02 -,
b)
den Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 2. Juli 2002 - 3 Ws
433/02 -,
c)
den Beschluss des Landgerichts Marburg vom 22. November 2001 - 7 StVK 401/01 -
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten Hassemer,
die Richterin Osterloh
und den Richter Mellinghoff
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I
S. 1473) am 16. Oktober 2002 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe:
1
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil ein Annahmegrund gemäß § 93a
BVerfGG nicht vorliegt. Die Verfassungsbeschwerde ist mit den vorgetragenen Gründen offensichtlich unbegründet.
2
Bei der nach § 57 Abs. 1 StGB zu treffenden Entscheidung handelt es sich zunächst um die Auslegung und
Anwendung von Strafrecht, die Sache der Strafgerichte ist. Sie wird vom Bundesverfassungsgericht nur daraufhin
nachgeprüft, ob das Strafvollstreckungsgericht in objektiv unvertretbarer Weise vorgegangen ist oder die
verfassungsrechtliche Bedeutung und Tragweite eines Grundrechts - hier insbesondere des durch Art. 2 Abs. 2
Satz 2, Art. 104 Abs. 2 GG verwirklichten Freiheitsrechts - verkannt hat (BVerfGE 18, 85 <92 f., 96>; 72, 105
<113 ff.>; stRspr).
3
1. Der verfassungsrechtliche Maßstab ist geklärt. Die aus dem Freiheitsrecht abzuleitenden Anforderungen an die
richterliche Aufklärungspflicht richten sich insbesondere an die Prognoseentscheidung. Es gilt von Verfassungs
wegen das Gebot bestmöglicher Sachaufklärung (vgl. BVerfGE 70, 297 <309>). Es verlangt, dass der Richter die
Grundlagen seiner Prognose selbständig bewertet, verbietet mithin, dass er die Bewertung einer anderen Stelle
überlässt. Darüber hinaus fordert es vom Richter, dass er sich ein möglichst umfassendes Bild über die zu
beurteilende Person verschafft (vgl. jüngst Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts vom 24. Oktober 1999 - 2 BvR 1538/99 -, NJW 2000, S. 502 ff. - auch JURIS). Des
Weiteren ergibt sich aus dem Freiheitsrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG (Rechtsstaatsprinzip)
ein Anspruch auf angemessene Beschleunigung des mit einer Freiheitsentziehung verbundenen gerichtlichen
Verfahrens (BVerfGE 20, 45 <49 f.>). Eine Verletzung des Beschleunigungsgebots kommt aber nur dann bei einem
Verfahren über die Aussetzung des Restes einer Freiheitsstrafe in Betracht, wenn das Freiheitsrecht nach den
Umständen des Einzelfalls gerade durch eine sachwidrige Verzögerung der Entscheidung unangemessen weiter
beschränkt wird (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Juni
2001 - 2 BvR 828/01 -, NVwZ 2001, S. 1150 - auch JURIS).
4
2. Die fachgerichtlichen Entscheidungen werden diesem Maßstab gerecht.
5
a) Eine Verletzung des Freiheitsgrundrechts aus Gründen einer unzureichenden richterlichen Sachaufklärung
hinsichtlich der Sozialprognose ist nicht festzustellen. Die Fachgerichte haben als grundsätzliche Erwägung für die
Versagung der Strafaussetzung berücksichtigt, dass der Beschwerdeführer am Vollzugsziel nicht mitgewirkt hat und
es insofern nicht möglich war, als prognostische Gesamtwürdigung die Gefährlichkeit des Beschwerdeführers für die
Zukunft auszuschließen. Angesichts dieser Weigerung und der Tatsache, dass der Beschwerdeführer mehrfach
langjährige Freiheitsstrafen wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln verbüßt hat, ist die eingehend begründete
Entscheidung der Fachgerichte zur Gefährlichkeitsprognose verfassungsrechtlich unbedenklich.
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Die Fachgerichte haben zwar auch darauf hingewiesen, dass Vollzugslockerungen bislang nicht gewährt wurden,
haben jedoch näher ausgeführt, aus welchen Gründen diese bislang versagt worden sind. Dies ist
verfassungsrechtlich zulässig (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts
vom 24. Oktober 1999 - 2 BvR 1538/99 -, NJW 2000, S. 502 ff. - auch JURIS).
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Dem Vortrag des Beschwerdeführers ist nicht zu entnehmen, dass die Würdigung der Fachgerichte im Hinblick auf
die Gefährlichkeit des Beschwerdeführers von unzutreffenden Erwägungen ausgegangen ist. Der Beschwerdeführer
trägt keine Umstände seines Verhaltens im Strafvollzug vor, die sich positiv auf das Vollzugsziel auswirken könnten
und die von den Fachgerichten außer Acht gelassen oder nicht hinreichend gewürdigt worden sind.
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b) Eine sachwidrige Verzögerung des Verfahrens ist nicht erkennbar. Das Landgericht hat auf den im August 2001
gestellten Antrag im November 2001, das Oberlandesgericht über die im November 2001 eingegangene sofortige
Beschwerde im Juli 2002 entschieden. Abgesehen von diesem Zeitraum, der für sich betrachtet nicht als
unangemessen lang anzusehen ist, liegt keine Verfahrenskonstellation vor, die zu einer besonderen Dringlichkeit der
Entscheidung geführt hätte.
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3. Es ist nicht erkennbar, dass die Fachgerichte gegen Art. 103 Abs. 1 GG verstoßen haben. Der Beschwerdeführer
hat es bereits versäumt deutlich zu machen, welche Umstände er vorgetragen hätte, wenn ihm ausreichend Gehör
gewährt worden wäre. Es kann daher schon nicht festgestellt werden, ob die Entscheidungen, würden sie - was nach
Aktenlage nicht feststellbar ist - gegen das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs verstoßen, hierauf beruhen (vgl.
BVerfGE 89, 381 <392 f.>).
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Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).
11
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Hassemer
Osterloh
Mellinghoff