Urteil des BVerfG vom 25.09.2009
BVerfG: gerichtshof für menschenrechte, verfassungsbeschwerde, europäische menschenrechtskonvention, egmr, emrk, prozessrecht, behandlung, rechtfertigung, abhängigkeit, rückwirkung
Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1113/06 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
1. des Herrn W...,
2. der Frau W...
- Bevollmächtigte:
Anwaltskanzlei Zuck,
Vaihinger Markt 3, 70563 Stuttgart -
gegen a) den Beschluss des Bundesfinanzhofs vom 23. Februar 2006 - III B 44/05 -,
b)
das Urteil des Finanzgerichts München vom 26. Januar 2005 - 9 K 317/03 -
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterin Osterloh
und die Richter Mellinghoff,
Gerhardt
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S.
1473) am 25. September 2009 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe:
1
Die  Verfassungsbeschwerde  betrifft  die  Pflicht  der  Fachgerichte  zur  Berücksichtigung  von  Entscheidungen  des
Europäischen  Gerichtshofs  für  Menschenrechte  in  Bezug  auf  die  verfassungsgerichtlich  angeordnete  Weitergeltung
verfassungswidriger Bestimmungen des Einkommensteuerrechts.
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Die Beschwerdeführer begehrten die Berücksichtigung von Freibeträgen für die Betreuung und Erziehung ihrer Kinder
bei der Einkommensteuerfestsetzung für die Streitjahre 1993 bis 2000. Ihre Klagen hatten vor dem Finanzgericht und
dem  Bundesfinanzhof  keinen  Erfolg.  Die  Gerichte  stützten  sich  auf  den  Entscheidungsausspruch  des  Beschlusses
des Bundesverfassungsgerichts vom 10. November 1998 (BVerfGE  99,  216),  in  dem  §  33c  Abs.  1  bis  4  EStG  und
des § 32 Abs. 3 und Abs. 4, später Abs. 7, EStG in den jeweils geltenden Fassungen für weiterhin anwendbar erklärt
worden  waren.  Mit  der  Verfassungsbeschwerde  machen  die  Beschwerdeführer  geltend,  die  Fachgerichte  hätten  bei
der  Annahme  einer  Bindung  an  die  Entscheidung  des  Bundesverfassungsgerichts  ihre  Pflicht  zur  Berücksichtigung
des  Urteils  des  Europäischen  Gerichtshofs  für  Menschenrechte  vom  25.  Oktober  2005  (EGMR,  Urteil  vom  25.
Oktober 2005 - 59140/00 -,  NVwZ  2006,  S.  917  -  Okpisz)  verletzt.  Des  weiteren  sei  die  Höhe  des  für  das  Streitjahr
2000 in § 32 Abs. 6 EStG geregelten „Betreuungs- und Erziehungsfreibetrags“ nicht ausreichend bemessen gewesen.
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Die  Verfassungsbeschwerde  ist  nicht  zur  Entscheidung  anzunehmen.  Die  Annahmevoraussetzungen  des  §  93a
Abs.  2  BVerfGG  sind  nicht  erfüllt;  die  Verfassungsbeschwerde  hat  keine  hinreichende  Aussicht  auf  Erfolg  (vgl.
BVerfGE 90, 22 <25 f.>).
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1.  Soweit  die  Beschwerdeführer  sich  gegen  die  Höhe  des  für  2000  in  §  32  Abs.  6  EStG  angeordneten
Betreuungsfreibetrags wenden, ist die Verfassungsbeschwerde unzulässig. Entgegen dem Grundsatz der Subsidiarität
der  Verfassungsbeschwerde  (vgl. BVerfGE 81, 22 <27 f.>;  BVerfGK  8,  271  <273>)  haben  es  die  Beschwerdeführer
unterlassen,  diese  Frage  zum  Gegenstand  der  Beschwerde  gegen  die  Nichtzulassung  der  Revision  zu  machen.
Zudem  setzen  sie  sich  nicht  mit  der  Feststellung  des  Finanzgerichts  auseinander,  die  Höhe  des
Betreuungsfreibetrags  genüge  den  Vorgaben  der  Entscheidung  des  Bundesverfassungsgerichts  vom  10.  November
1998;  dort  sei  für  vier  Kinder  ein  Betrag  von  insgesamt  10.000  DM  vorgesehen,  den  Beschwerdeführern  seien  vier
Betreuungsfreibeträge von insgesamt 12.096 DM gewährt worden.
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2.  Hinsichtlich  des  gegen  die  Berufung  der  Fachgerichte  auf  die  Weitergeltungsanordnung  gerichteten  Vorbringens
ist  die  Verfassungsbeschwerde  jedenfalls  unbegründet.  Das  Finanzgericht  und  der  Bundesfinanzhof  haben  das
Grundrecht der Beschwerdeführer aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG nicht dadurch verletzt, dass
sie  Entscheidungen  des  Europäischen  Gerichtshofs  für  Menschenrechte  nicht  im  gebotenen  Umfang  berücksichtigt
hätten (vgl. BVerfGE 111, 307). Das gilt insbesondere in Bezug auf das von den Beschwerdeführern herangezogene
Urteil des Gerichtshofs vom 25. Oktober 2005. Das Urteil des Finanzgerichts ist vor dieser Entscheidung ergangen.
Der  Bundesfinanzhof  hat  sie  in  seine  Erwägungen  einbezogen  und  ohne  Verstoß  gegen  Verfassungsrecht  keine  für
die Beschwerdeführer günstigen Folgen aus ihr abgeleitet.
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a) Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte betrifft § 1 Abs. 3 BKGG in der von Januar 1994
bis Dezember 1995 geltenden Fassung, wonach Voraussetzung des Kindergeldbezuges eine Aufenthaltsberechtigung
oder  Aufenthaltserlaubnis  war.  Ein  Zusammenhang  mit  der  Tenorierungspraxis  des  Bundesverfassungsgerichts
besteht  nur  insofern,  als  die  Bundesregierung  die  Streichung  der  Individualbeschwerde  gemäß  Art.  37  Abs.  1
Buchstabe  c  EMRK  beantragt  hatte,  weil  das  Bundesverfassungsgericht  eine  Pflicht  des  Gesetzgebers  zum  Erlass
einer  Neuregelung  bis  zum  1.  Januar  2006  ausgesprochen  habe  (vgl. BVerfGE  111,  160)  und  das  Verfahren  der
Beschwerdeführer  vor  dem  Landessozialgericht  daraufhin  ausgesetzt  worden  sei.  Hierzu  führte  der  Gerichtshof  aus
(a.a.O.,  S.  917),  dass  er  vor  der  Entscheidung  des  Bundesverfassungsgerichts  in  seiner  Zulässigkeitsentscheidung
festgestellt  habe,  dass  die  Beschwerdeführer  hier  von  der  Pflicht  zur  Erschöpfung  der  nationalen  Rechtsbehelfe
entbunden  gewesen  seien.  Das  Verfahren  vor  dem  Bundesverfassungsgericht  betreffe  die  Beschwerdeführer  nicht
unmittelbar. Die gesetzliche Neuregelung sei noch nicht getroffen. Deshalb sei der Gegenstand der Beschwerde noch
keiner  Lösung  zugeführt  worden.  In  der  Sache  nahm  der  Gerichtshof  eine  Verletzung  des  Art.  8  in  Verbindung  mit
Art.  14  EMRK  an,  weil  er  -  ebenso  wie  das  Bundesverfassungsgericht  -  keine  hinreichenden  Gründe  zur
Rechtfertigung der unterschiedlichen Behandlung von Ausländern beim Kindergeldbezug in Abhängigkeit davon, ob sie
über eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung verfügten oder nicht, erkenne. Der Gerichtshof wendete Art. 41 EMRK
an  und  stellte  fest,  dass  sich  das  Verfahren  auf  die  1994  und  1995  gültige  Gesetzesfassung  beschränkt  habe.  Er
sprach den Beschwerdeführern 2.500 Euro als Ersatz für entgangenes Kindergeld in diesem Zeitraum zu.
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b) Soweit der Gerichtshof einen Konventionsverstoß in der Regelung des § 1 Abs. 3 BKGG gesehen hat, scheidet
eine Berücksichtigungspflicht im vorliegenden Verfahren aus, weil diese Vorschrift hier nicht entscheidungserheblich
ist.  Dies  verkennt  die  Verfassungsbeschwerde  auch  nicht.  Sie  versucht  vielmehr,  aus  der  verfahrensrechtlichen
Konstellation, in der der Gerichtshof eine Sachentscheidung getroffen hat, abzuleiten, dass die Verbindlichkeit einer
vom Bundesverfassungsgericht ausgesprochenen Weitergeltungsanordnung bereits dann zu entfallen habe, wenn zu
erwarten sei, dass der Gerichtshof in dem vom Bundesverfassungsgericht festgestellten Verfassungsverstoß zugleich
einen  Konventionsverstoß  sehen  werde.  Allenfalls  dann,  wenn  der  Europäische  Gerichtshof  für  Menschenrechte  die
Tenorierungsvariante der Unvereinbarerklärung mit Weitergeltungsanordnung an sich als konventionswidrig angesehen
hätte,  wäre  das  Vorbringen  der  Beschwerdeführer  schlüssig;  nur  dann  läge  eine  Entscheidung  vor,  die  eine
Berücksichtigungspflicht auslösen könnte. Einen derartigen Rechtssatz hat der Gerichtshof indes nicht aufgestellt.
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Ohne  Beschäftigung  mit  dem  Prozessrecht  des  Bundesverfassungsgerichts  hat  er  allein  eine  nach  seinem
Prozessrecht - dem im Übrigen eine zeitliche Begrenzung der Entscheidungswirkungen nicht grundsätzlich fremd ist
(vgl. EGMR, Urteil vom 13.  Juni  1979  -  6833/74  -,  EuGRZ  1979,  S.  454  <457>  -  Marckx;  Urteil  vom  29.  November
1991  -  44/1990/235/301  -,  EuGRZ  1992,  S.  12  <13>  -  Vermeire;  Urteil  vom  23.  Mai  2006  -  32570/03  -  Grant;
Christoffersen, Fair Balance: Proportionality, Subsidiarity and Primarity in the European Convention on Human Rights,
2009,  S.  435  ff.;  Ress,  Die  Europäische  Menschenrechtskonvention  und  die  Vertragsstaaten:  Die  Wirkungen  der
Urteile  des  Europäischen  Gerichtshofs  für  Menschenrechte  im  innerstaatlichen  Recht  und  vor  innerstaatlichen
Gerichten, in: Maier, Europäischer Menschenrechtsschutz, 1982, S. 227 <237 ff.>) - vorgesehene Entscheidungsfolge
für  den  von  ihm  entschiedenen  Fall  ausgesprochen.  Dass  das  innerstaatliche  Verfahrensrecht  eine  bestimmte
Entscheidungsfolge  nicht  vorsehen  dürfe,  ergibt  sich  daraus  offensichtlich  nicht.  In  einer  anderen  Entscheidung  hat
der  Gerichtshof  vielmehr  ausdrücklich  darauf  hingewiesen,  dass  in  manchen  Vertragsstaaten,  die  mit  einem
Verfassungsgerichtshof  ausgestattet  seien,  die  Rückwirkung  von  Entscheidungen  eines  derartigen  Gerichtshofs,
durch  die  Gesetze  für  nichtig  erklärt  würden,  im  öffentlichen  Recht  dieser  Staaten  beschränkt  werde  (EGMR,  Urteil
vom 13. Juni 1979 - 6833/74 -, EuGRZ 1979, S. 454 <457> - Marckx).
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Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG
abgesehen.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Osterloh
Mellinghoff
Gerhardt