Urteil des BSG vom 01.07.2009
BSG (kläger, eheähnliche gemeinschaft, rechtliches gehör, anspruch auf rechtliches gehör, leistungsklage, leistung, sgg, sicherung, mitwirkung, verletzung)
BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 1.7.2009, B 4 AS 78/08 R
Unzulässigkeit der Leistungsklage bei Versagung der Leistungsgewährung wegen
fehlender Mitwirkung - reine Anfechtungsklage - rechtliches Gehör - Grundsicherung für
Arbeitsuchende - Nichtvorlage von Kontoauszügen - eheähnliche Gemeinschaft -
Auskunftspflicht Dritter
Leitsätze
1. Gegen die Versagung einer Sozialleistung wegen fehlender Mitwirkung ist grundsätzlich nur
die reine Anfechtungsklage gegeben (Bestätigung von BVerwG vom 17.1.1985 - 5 C 133/81 =
BVerwGE 71, 8 und BSG vom 17.2.2004 - B 1 KR 4/02 R = SozR 4-1200 § 66 Nr 1).
2. Eine unmittelbare Klage auf existenzsichernde Leistungen kommt in Betracht, wenn sich bei
einer Aufhebung der Entscheidung über die Versagung wegen fehlender Mitwirkung das
Verwaltungsverfahren lediglich wiederholen würde.
Tatbestand
1 Der Kläger begehrt Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ab dem
1.1.2006.
2 Der Kläger bezog seit dem 1.1.2005 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach
dem SGB II. Am 9.12.2005 stellte er einen Folgeantrag für den Bewilligungszeitraum ab
1.1.2006. Mit Schreiben vom 5.1.2006 forderte das Jobcenter den Kläger unter Hinweis auf §
60 SGB I auf, im Rahmen seiner Mitwirkungspflichten sämtliche Einkommens- und
Vermögensnachweise von seiner Lebensgefährtin L (L) bis zum 22.1.2006 vorzulegen. Mit
Bescheid vom 26.1.2006 versagte der Beklagte Leistungen ganz, weil die fehlenden
Unterlagen/Nachweise trotz Belehrung über die Rechtsfolgen nicht vorgelegt worden seien.
Den Widerspruch wies der Beklagte mit der Begründung zurück, er habe nicht den Eindruck
gewinnen können, dass zwischen dem Kläger und L keine Wohn- und
Wirtschaftsgemeinschaft und folglich auch keine eheähnliche Gemeinschaft bestehe.
Vielmehr sei davon auszugehen, der Kläger habe seine Wohnsituation nach Ankündigung
eines Hausbesuchs so hergerichtet, dass der Eindruck gewonnen werden sollte, er verfüge
über einen eigenen Wohnbereich. Zur Bedarfsgemeinschaft gehörten also der Kläger und L.
Der Aufforderung, die Einkommens- und Vermögensnachweise vorzulegen, sei der Kläger
auch im Widerspruchsverfahren nicht nachgekommen (Widerspruchsbescheid vom
20.3.2006).
3 Das Sozialgericht (SG) Koblenz hat L als Zeugin gehört und den Versagensbescheid
aufgehoben. Die auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ab 1.1.2008 gerichtete
weitergehende Klage hat das SG abgewiesen (Urteil vom 24.7.2007): Die Versagung von
Leistungen wegen fehlender Mitwirkung sei schon deshalb rechtswidrig, weil der Beklagte
keinerlei Ermessenserwägungen angestellt habe. Außerdem habe der Kläger seine
Mitwirkungspflicht nicht verletzt, weil er Beweismittel in Form von Nachweisen der
Hilfebedürftigkeit der Partnerin nicht vorzulegen habe. Eine Verurteilung zur Gewährung von
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts komme gleichwohl nicht in Betracht, weil das
Gericht die anspruchsbegründende Voraussetzung der Hilfebedürftigkeit nicht feststellen
könne, wobei die Beweislast hierfür den Kläger treffe.
4 Das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz hat die Berufung des Klägers mit der
Maßgabe zurückgewiesen, dass die Klage bereits unzulässig war (Urteil vom 6.11.2008): Ein
die begehrte Leistung versagender Verwaltungsakt könne grundsätzlich nur mit der reinen
Anfechtungsklage angefochten werden. Die Leistungsklage sei ausnahmsweise zulässig,
wenn die anderweitige Klärung der Leistungsvoraussetzungen feststehe. In dem Fall, in dem
der Kläger das Vorliegen der Leistungsvoraussetzungen behaupte, diese aber streitig und zur
Klärung des Vorliegens der materiellen Anspruchsvoraussetzungen Ermittlungen erforderlich
seien, sei eine Ausnahme von dem Grundsatz nicht gerechtfertigt und lasse sich auch nicht
aus Gründen der Prozessökonomie herleiten.
5 Zur Begründung der vom LSG zugelassenen Revision trägt der Kläger vor, die
tatbestandlichen Feststellungen des LSG seien insoweit unvollständig und falsch, als im
streitgegenständlichen Widerspruchsbescheid auch die Entscheidung getroffen worden sei, er
lebe in einer eheähnlichen Gemeinschaft mit L. Zu Unrecht habe das LSG die erhobene
Anfechtungs- und Leistungsklage als unzulässig angesehen. Das Bundessozialgericht (BSG)
habe im Urteil vom 17.2.2004 - B 1 KR 4/02 R eine unmittelbare Klage auf die
Leistungsgewährung für zulässig gehalten, wenn die anderweitige Klärung der
Leistungsvoraussetzungen behauptet werde oder zwischen den Beteiligten unstreitig sei. Das
LSG habe durch sein Vorgehen das Grundrecht des Klägers auf Gewährung effektiven
Rechtsschutzes (Art 19 Abs 4 GG iVm dem Sozialstaatsprinzip) sowie das rechtliche Gehör
verletzt.
6 Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 6.11.2008 und das Urteil des
Sozialgerichts Koblenz vom 24.7.2007 sowie den Bescheid des Beklagten vom 26.1.2006 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.3.2006 aufzuheben und den Beklagten zu
verurteilen, ihm für die Zeit ab 1.1.2006 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach
dem SGB II zu gewähren.
7 Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
8 Er weist darauf hin, dass er mit dem Bescheid vom 21.1.2009, gegen den der Kläger
fristgerecht Widerspruch eingelegt habe, den Antrag auf Fortzahlung der Leistungen ab
1.1.2006 abgelehnt habe.
Entscheidungsgründe
9 Die Revision ist unbegründet.
10 1. Der vom Kläger gerügte Verfahrensfehler der Verletzung rechtlichen Gehörs ist dem LSG
nicht unterlaufen, sodass das angefochtene Urteil nicht bereits als
Überraschungsentscheidung aufzuheben ist. Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103
GG; § 62 SGG) wurde nicht dadurch verletzt, dass das LSG sein Urteil auf Gesichtspunkte
gestützt hat, die bisher nicht erörtert worden wären und der Rechtsstreit dadurch eine
unerwartete Wendung genommen hätte (vgl zur Überraschungsentscheidung etwa BSG
SozR 3-4100 § 103 Nr 4; BSG, Urteil vom 20.10.2004 - B 5 RJ 48/03 R, veröffentlicht in
Juris). Auch wenn das Vorgehen des LSG beim Kläger zunächst den Eindruck erwecken
konnte, dass es zu einer Entscheidung über den SGB II-Leistungsanspruch kommen werde,
hat das Gericht jedenfalls in der zur Entscheidung führenden mündlichen Verhandlung den
Prozessbevollmächtigten darauf hingewiesen, dass es die Leistungsklage möglicherweise
als unzulässig ansehen werde. Auf Grund dieses Hinweises musste der rechtskundig
vertretene Kläger mit der vom LSG getroffenen Entscheidung rechnen. Soweit er diesen
Hinweis nach eigenem Vorbringen für unverständlich gehalten hat, bot der Hinweis
jedenfalls Veranlassung, nachzufragen oder eine Vertagung zu beantragen. Wird von
derartigen Möglichkeiten kein Gebrauch gemacht, kann eine Verletzung rechtlichen Gehörs
jedenfalls nicht geltend gemacht werden.
11 2. Das LSG ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Klage nur teilweise zulässig
gewesen ist. Das auf die Verurteilung des Beklagten zur Gewährung von SGB II-Leistungen
mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 4 SGG) verfolgte Begehren
ist unzulässig.
12 Die Vorschrift des § 54 Abs 4 SGG, deren Verletzung die Revision behauptet, ist für das
Begehren nicht einschlägig. Nach § 54 Abs 4 SGG kann mit der Klage neben der Aufhebung
des Verwaltungsaktes gleichzeitig die Leistung verlangt werden, wenn der angefochtene
Verwaltungsakt eine Leistung betrifft, auf die ein Rechtsanspruch besteht. Die Regelung
setzt nämlich voraus, dass die Verwaltung über die begehrte Leistung entschieden hat. Dies
ist jedoch nicht der Fall, wenn der Leistungsträger die Leistung ohne abschließende
Ermittlung bis zur Nachholung der Mitwirkung nach § 66 SGB I versagt. Gegen einen
solchen Versagensbescheid ist grundsätzlich nur die Anfechtungsklage eröffnet (BSG SozR
1200 § 66 Nr 13; BSG SozR 4-1200 § 66 Nr 1).
13 Bei dem hier streitigen Bescheid vom 26.1.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 20.3.2006 handelte es sich um eine vorläufige Versagung der Zahlung von
Arbeitslosengeld II (Alg II) ab 1.1.2006. Dies ergibt sich aus den vom LSG unter
Bezugnahme auf die Verwaltungsakten des Beklagten getroffenen Feststellungen. Soweit
die Revision rügt, die tatbestandlichen Feststellungen seien unvollständig und deshalb
falsch, weil im streitgegenständlichen Widerspruchsbescheid auch und insbesondere die -
vorgreifliche - Feststellung getroffen worden sei, der Kläger lebe mit L in einer eheähnlichen
Gemeinschaft, vermag dieses Vorbringen die rechtliche Einordnung des angefochtenen
Bescheids als Versagensbescheid nicht zu erschüttern. Denn der - aus anderen Gründen
durch das SG bestandskräftig aufgehobene - Bescheid stützte die Versagung darauf, dass
dem Kläger die Vorlage von Einkommens- und Vermögensnachweisen der L obliege. Hierzu
musste aus der Sicht des Beklagten dargelegt werden, warum vom Vorliegen einer
Partnerschaft iS des § 7 Abs 3 Nr 3c SGB II auszugehen sei, weil nur dann die Einkommens-
und Vermögensverhältnisse des Dritten Bedeutung erlangen konnten. Das Vorbringen des
Klägers ist deshalb nicht geeignet, die rechtliche Einordnung des Versagensbescheides in
Frage zu stellen.
14 Schließlich liegen auch die von der Rechtsprechung entwickelten Voraussetzungen für eine
Ausnahme von dem Grundsatz, dass lediglich die isolierte Anfechtung des
Versagensbescheides statthaft ist, nicht vor (vgl hierzu BSG USK 87161; BSG SozR 1200 §
66 Nr 13; BSG SozR 4-1200 § 66 Nr 1; vgl auch BVerwGE 71, 8, 11 = Buchholz 435.11 § 66
SGB I Nr 1). Für diese Rechtsprechung werden Gründe der Prozessökonomie und des
effektiven Rechtsschutzes angeführt. Eine zusätzliche Klage auf Leistungsgewährung ist
danach zulässig, wenn die anderweitige Klärung der Leistungsvoraussetzungen zwischen
den Beteiligten unstreitig ist oder vom Kläger behauptet wird. Eine derartige Situation liegt
hier nicht vor. Es ist zwischen den Beteiligten nicht unstreitig gewesen, dass die
Leistungsvoraussetzungen für einen Anspruch auf Alg II vorliegen, denn der Kläger hatte
bereits die Entscheidungserheblichkeit der von dem Beklagten begehrten Informationen
bestritten. Ebenso wenig hat der Kläger behauptet, die Anspruchsvoraussetzung der
Hilfebedürftigkeit sei anderweitig geklärt, zB weil dem Beklagten die Einkommens- und
Vermögensverhältnisse der L auf andere Weise bekannt geworden wären. Schließlich hat
der Kläger nicht einmal dargelegt, dass die übrigen Voraussetzungen des § 7 SGB II für
einen Anspruch auf Alg II (unstreitig) geklärt gewesen wären. Das Vorbringen, der Kläger
habe bis zum 31.12.2005 Alg II bezogen, genügt insoweit nicht. In einer derartigen Situation,
in der bereits Vorfragen zwischen den Beteiligten streitig und die
Anspruchsvoraussetzungen insgesamt nicht geklärt sind, kann nicht aus Gründen der
Prozessökonomie auf die Durchführung eines vorgehenden Verwaltungsverfahrens zur
Klärung sämtlicher Anspruchsvoraussetzungen verzichtet werden. Eine Verletzung des
Gebots effektiven Rechtsschutzes kann hierin nicht gesehen werden.
15 Keine andere Beurteilung ergibt sich im Hinblick darauf, dass vorliegend die Gewährung von
(existenzsichernden) Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II
streitig ist und folglich ein nachrangiges Leistungssystem für den Kläger nicht zur Verfügung
steht. Allein dieser Umstand führt auch unter Berücksichtigung des verfassungsrechtlichen
Gebots effektiven Rechtsschutzes jedoch nicht dazu, die Leistungsklage ausnahmsweise
auch ohne vorherige Durchführung eines verwaltungsrechtlichen Verfahrens als zulässig
anzusehen. Denn dem Gebot effektiven Rechtsschutzes zur Erlangung der für den
Lebensunterhalt erforderlichen Mittel kann in Fällen der vorliegenden Art bereits im Wege
des vorläufigen Rechtsschutzes hinreichend Rechnung getragen werden.
16 Eine Ausnahme von den vorstehenden Grundsätzen erwägt der Senat aber bei Streitigkeiten
um existenzsichernde Leistungen für den Fall, dass sich bei einer Aufhebung der
Entscheidung über die Versagung wegen fehlender Mitwirkung nach § 66 SGB I das
bisherige Verwaltungsverfahren lediglich wiederholen würde, zB weil sich der
Grundsicherungsträger erneut an den Antragsteller wenden müsste, um Kenntnis über die
Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Mitbewohnerin zu erlangen und im Ergebnis
die Leistung in der Sache voraussichtlich mit der gleichen Begründung ablehnen würde.
Auch diese Fallgestaltung liegt hier allerdings nicht vor, weil § 60 Abs 4 SGB II dem
Grundsicherungsträger die Möglichkeit eröffnet, sich unmittelbar an den Dritten zu wenden.
Nach § 60 Abs 4 Satz 1 Nr 1 SGB II hat der Partner der Agentur für Arbeit auf Verlangen
Auskunft zu erteilen, soweit Einkommen oder Vermögen des Partners zu berücksichtigen
sind. Während § 60 Abs 1 Nr 1 SGB I nur den Antragsteller oder Leistungsempfänger selbst
betrifft, erfasst § 60 SGB II Auskunftspflichten Dritter, die für den Leistungsanspruch des
Antragstellers von Bedeutung sein können (vgl zu den Pflichten und Grenzen auch Blüggel
in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl 2008, § 60 RdNr 38; Herold-Tews in Löns/Herold-Tews,
Grundsicherung für Arbeitsuchende, 2. Aufl 2009, § 60 RdNr 10, 12; Schoch in LPK-SGB II,
2. Aufl 2006, § 60 RdNr 30; Voelzke in Hauck/Noftz, SGB II, Stand IX/08, § 60 RdNr 21 ff).
Hierbei erfasst § 60 Abs 4 Satz 1 Nr 1 SGB II die Fälle einer Partnerschaft nach § 7 Abs 3 Nr
3 SGB II.
17 Erst nach Ausschöpfung der gesetzlich vorgesehenen Ermittlungsmöglichkeiten kann der
Grundsicherungsträger über das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen des
Leistungsanspruchs, also insbesondere über die Hilfebedürftigkeit des Klägers, entscheiden.
Bevor der Träger der Grundsicherung keine Anstrengung unternommen hat, seinen
Auskunftsanspruch nach § 60 Abs 4 Satz 1 Nr 1 SGB II durchzusetzen, dürfte eine
Beweislastentscheidung zu Lasten des Klägers nicht statthaft sein. Gegen eine die Leistung
versagende Sachentscheidung findet sodann die kombinierte Anfechtungs- und
Leistungsklage statt (§ 54 Abs 4 SGG). Im Rahmen einer derartigen Klage hat das Gericht
ggf zu prüfen, ob der Grundsicherungsträger zu Recht vom Bestehen einer Partnerschaft
nach § 7 Abs 3 Nr 3 SGB II ausgegangen ist.
18 Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.