Urteil des BSG vom 30.10.2007

BSG: berufliche tätigkeit, eintritt des versicherungsfalles, anerkennung, freiwillig versicherter, belastung, konkretisierung, verfügung, entstehung, maler, kausalzusammenhang

Bundessozialgericht
Urteil vom 30.10.2007
Sozialgericht Mannheim S 11 U 599/0
Landessozialgericht Baden-Württemberg L 6 U 2188/03
Bundessozialgericht B 2 U 4/06 R
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 23. Juni 2005
aufgehoben, soweit es das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 5. Mai 2003 aufgehoben und die Klage auf
Anerkennung einer Berufskrankheit Nr 2108 nach der Anlage der Berufskrankheiten-Verordnung abgewiesen hat. In
diesem Umfang wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht
zurückverwiesen. Im Übrigen wird die Revision zurückgewiesen.
Gründe:
I
1
Umstritten ist die Anerkennung einer Berufskrankheit (BK) und die Gewährung von Entschädigungsleistungen.
2
Der im Jahre 1951 geborene Kläger absolvierte von April 1966 bis zum Ende des Jahres 1968 eine Ausbildung zum
Maler und war anschließend bis März 1987 als Maler und Stukkateur versicherungspflichtig beschäftigt. In den
Wintermonaten war er häufig arbeitslos oder arbeitete in anderen Berufen. Ab Mai 1987 war er als selbständiger
Stukkateur mit zeitweise zwölf Beschäftigten tätig und als Unternehmer bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten
freiwillig versichert. Bis zu einem Arbeitsunfall am 12. August 1987, der zu einer Verletzung des rechten Armes führte
und aufgrund dessen er eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 25 vH bezieht,
arbeitete der Kläger voll mit. Seit dem 11. Mai 1998 war er wegen eines Bandscheibenvorfalls im Bereich L 4/L 5
arbeitsunfähig erkrankt und stellte am 6. Juli 1998 bei der Rechtsvorgängerin eine Unternehmeranzeige über eine BK,
in der er seine Bandscheibenbeschwerden auf seine berufliche Tätigkeit zurückführte. Nach Einholung mehrerer
ärztlicher Stellungnahmen lehnte die Rechtsvorgängerin die Anerkennung der Wirbelsäulenbeschwerden des Klägers
als BK ab (Bescheid vom 13. September 2000, Widerspruchsbescheid vom 12. Februar 2001). Zwar sei nach der
Stellungnahme ihres technischen Aufsichtsdienstes (TAD) die berufliche Tätigkeit des Klägers geeignet gewesen,
eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule (LWS) zu verursachen, aber aus medizinischer Sicht
könne seine Erkrankung nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf diese Tätigkeit zurückgeführt werden.
3
Das Sozialgericht (SG) hat nach Durchführung weiterer medizinischer Ermittlungen die Rechtsvorgängerin der
Beklagten verurteilt, dem Kläger wegen der Folgen einer BK Nr 2108 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung
(BKV) zunächst Verletztengeld und anschließend Verletztenrente zu gewähren (Urteil vom 5. Mai 2003). Das
Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Rechtsvorgängerin das Urteil des SG aufgehoben und die Klage
abgewiesen (Urteil vom 23. Juni 2005). Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Eine BK Nr 2108 liege
beim Kläger nicht vor, weil bereits die arbeitstechnischen Voraussetzungen fehlten. Es stütze sich insofern auf die
von der - damaligen - Beklagten vorgelegte Berechnung ihres TAD nach dem Mainz-Dortmunder-Dosismodell (MDD)
vom 1. April 2004, die auf einem Gespräch mit dem Kläger und dessen Prozessbevollmächtigten beruhe. Das MDD
stelle nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zumindest derzeit ein geeignetes Modell dar, um die
kritische Belastungsdosis eines Versicherten durch langjähriges Heben und Tragen schwerer Lasten zu ermitteln
(Hinweis auf die Urteile des Senats vom 18. März 2003 - B 2 U 13/02 R - BSGE 91, 23 = SozR 4-2700 § 9 Nr 1 und
vom 19. August 2003 - B 2 U 1/02 R -). Nach der vorgelegten Berechnung erreiche der Kläger nur eine Gesamtdosis
von 14,8 x 106 Nh und damit lediglich 59,2 vH des Richtwertes von 25 x 106 Nh, sodass das Vorliegen der
arbeitstechnischen Voraussetzungen ohne weitere Ermittlungen zu verneinen sei. In der Entscheidung vom 19.
August 2003 habe das BSG bei einer Gesamtdosis von 12,5 x 106 Nh die Verneinung der arbeitstechnischen
Voraussetzungen gebilligt, etwas anderes könne auch bei einer Unterschreitung um 40,8 vH nicht gelten. Auf die
aufgeworfenen medizinischen Streitfragen komme es nicht an.
4
Mit der - vom BSG zugelassenen - Revision macht der Kläger geltend, die Rechtsauffassung des LSG sei unrichtig,
dass auch ein Unterschreiten des Richtwertes der Gesamtdosis des MDD um erheblich weniger als 50 vH ohne
weitere Ermittlungen eine Verneinung der arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK Nr 2108 rechtfertige. Bei einer
Unterschreitung der Gesamtdosis um 40,8 vH könne nicht auf die fehlende Kausalität zwischen der versicherten
schädigenden Einwirkung und der Krankheit geschlossen werden. Im Übrigen sei er einer erheblich höheren Belastung
ausgesetzt gewesen, weil er in einer ländlichen Gegend gearbeitet habe und keine entsprechenden Maschinen und
Hilfsmittel zur Verfügung gestanden hätten. Zudem habe der TAD der Beklagten in einem früheren Bericht die
arbeitstechnischen Voraussetzungen als erfüllt angesehen.
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Der Kläger beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 23. Juni 2005 aufzuheben und die
Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 5. Mai 2003 zurückzuweisen.
6
Die Beklagte beantragt, die Revision des Klägers zurückzuweisen.
7
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
8
Auf die Fundstelle des mittlerweile im Internet veröffentlichten Abschlussberichts
(www.dguv.de/inhalt/leistungen/versschutz/bk/wirbelsaeule/index.html) wurden die Beteiligten hingewiesen.
II
9
Die Revision des Klägers ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil des LSG hinsichtlich der Ablehnung der
Anerkennung einer BK Nr 2108 beim Kläger aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung
an das LSG zurückzuverweisen ist. Die vom LSG festgestellten Tatsachen reichen für eine abschließende
Entscheidung über die vom Kläger begehrte Anerkennung dieser BK nicht aus (nachfolgend 2.)
10
Die Revision des Klägers ist unbegründet, soweit das LSG das Urteil des SG hinsichtlich der Verurteilung der
Beklagten zur Gewährung von Verletztengeld und Verletztenrente an den Kläger aufgrund einer solchen BK
aufgehoben hat. Insofern ist die Klageabweisung zu bestätigen, weil die Klage auf die Gewährung von Verletztengeld
und Verletztenrente unzulässig ist (nachfolgend 1.).
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1. Über die Gewährung von Sozialleistungen wie Verletztengeld und Verletztenrente ist vor Klageerhebung in einem
Verwaltungsverfahren zu befinden, das mit einem Verwaltungsakt abschließt, gegen den die kombinierte Anfechtungs-
und Verpflichtungsklage oder Anfechtungs- und Leistungsklage zulässig ist (§ 54 Abs 1, 2, 4 des
Sozialgerichtsgesetzes (SGG)). Die Voraussetzungen für eine echte Leistungsklage nach § 54 Abs 5 SGG sind bei
einem Streit um die genannten Leistungen nicht gegeben (vgl nur Krasney/Udsching, Handbuch des
sozialgerichtlichen Verfahrens, 4. Aufl 2005, IV RdNr 1 f, 62, 65 f).
12
Vorliegend hat die Beklagte in dem angefochtenen Bescheid vom 13. September 2000 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 12. Februar 2001 eindeutig nur über die Anerkennung der BK Nr 2108 beim Kläger
entschieden und mit keinem Wort ein mögliches Verletztengeld oder eine mögliche Verletztenrente aufgrund einer
solchen BK beim Kläger erwähnt.
13
Zwischen der Anerkennung einer BK und der Gewährung der verschiedenen auf einer anerkannten BK beruhenden
Leistungen ist jedoch zu unterscheiden, wie der Senat seit der Entscheidung vom 27. Juli 1989 (- 2 RU 54/88 - SozR
2200 § 551 Nr 35) wiederholt betont hat (zuletzt: BSG vom 16. November 2005 - B 2 U 28/04 R - § 3-Leistungen als
Minus). Die Unterscheidung zwischen Versicherungsfall und Leistungsfall liegt auch dem Siebten Buch des
Sozialgesetzbuches - Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII) zugrunde, wie schon dessen Systematik zu
entnehmen ist, mit der Definition der Versicherungsfälle in §§ 7 ff SGB VII und den darauf aufbauenden Regelungen
über die Leistungen nach Eintritt des Versicherungsfalles in §§ 26 ff SGB VII. Für diese Unterscheidung sprechen
außerdem die je nach Leistungsfall ggf unterschiedlichen Zeitpunkte für die Berechnung der Leistungen (vgl § 9 Abs
5, §§ 48, 84 SGB VII), die Vielfalt des Leistungsrechts des SGB VII und die zum Teil sehr differenzierten
Anforderungen an die einzelnen Leistungen, zumal den Unfallversicherungsträgern bei einigen Leistungen ein
Ermessen eingeräumt ist.
14
Auch bei einer Klageänderung nach § 99 Abs 1 SGG ist diese Voraussetzung zu prüfen (vgl BSG vom 16. November
2005 - B 2 U 28/04 R).
15
2. Rechtsgrundlage für die Anerkennung der im Juli 1998 aufgrund einer wenige Wochen vorher eingetretenen
Arbeitsunfähigkeit vom Kläger selbst angezeigten BK ist § 9 Abs 1 SGB VII iVm Nr 2108 der Anlage zur BKV vom
31. Oktober 1997 (BGBl I 2623), die sich insofern seit dem nicht geändert hat. Diese BK Nr 2108 lautet:
"Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten
oder durch langjährige Tätigkeiten in der extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten
gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich
waren oder sein können".
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Für die Anerkennung einer BK ist ein Ursachenzusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und den
schädigenden Einwirkungen und zwischen diesen Einwirkungen und der Erkrankung erforderlich sowie ggf ein
Unterlassen aller gefährdenden Tätigkeiten. Für die umstrittene BK Nr 2108 bedeutet dies, dass der Kläger aufgrund
seiner versicherten Tätigkeit als abhängig beschäftigter Maler und Stukkateur von April 1966 bis zum Jahre 1987
sowie anschließend als freiwillig versicherter selbständiger Stukkateur langjährig schwer gehoben und getragen bzw in
Rumpfbeugehaltung gearbeitet haben muss, dass sein Bandscheibenvorfall im Bereich L 4/ L 5 eine
bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS sein muss, dass diese Erkrankung durch die geschilderte versicherte
Arbeit verursacht wurde und er deshalb seine Tätigkeit aufgeben musste sowie alle gefährdenden Tätigkeiten
unterlässt.
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Fehlt eine dieser Voraussetzungen, ist die BK nicht anzuerkennen. Von daher ist es dem Grunde nach nicht zu
beanstanden, dass das LSG seine Klageabweisung darauf gestützt hat, dass die von ihm als "arbeitstechnische
Voraussetzungen" bezeichneten Einwirkungen durch langjähriges schweres Heben und Tragen bzw Arbeit in
Rumpfbeugehaltung nicht gegeben seien. Zur Begründung hat das LSG sich auf das MDD (vgl dazu die grundlegende
Veröffentlichung von Jäger ua, ASUMed 1999, 101 ff, 112 ff) und eine Berechnung des TAD der Beklagten nach
einem Gespräch mit dem Kläger gestützt, nach der bei diesem eine Gesamtdosis von 14,8 x 106 Nh und damit
lediglich 59,2 vH des Richtwertes von 25 x 106 Nh nach dem MDD vorliege, so dass die sog arbeitstechnischen
Voraussetzungen ohne weitere Ermittlungen zu verneinen seien.
18
Mit der Heranziehung des MDD zur Bestimmung der für eine Krankheitsverursachung erforderlichen Belastungsdosis
folgt das LSG der Rechtsprechung des erkennenden Senats, der in den Urteilen vom 18. März 2003 - B 2 U 13/02 R -
(BSGE 91, 23 = SozR 3-2700 § 9 Nr 1 RdNr 10) und vom 19. August 2003 - B 2 U 1/02 R - (USK 2003-219 RdNr 15)
dieses Modell als eine geeignete Grundlage zur Konkretisierung der im Text der Nr 2108 Anl BKV mit den
unbestimmten Rechtsbegriffen "langjähriges" Heben und Tragen "schwerer" Lasten oder "langjährige" Tätigkeit in
"extremer Rumpfbeugehaltung" nur ungenau umschriebenen Einwirkungen angesehen hat. Allerdings legt das MDD
selbst für die Belastung durch Heben und Tragen keine Mindestwerte fest, die erreicht werden müssen, damit von
einem erhöhten Risiko von Bandscheibenschäden durch die berufliche Tätigkeit ausgegangen werden kann. Die
aufgrund einer retrospektiven Belastungsermittlung für risikobehaftete Tätigkeitsfelder - so der Titel der
Veröffentlichung in ASUMed 1999, 101 ff - ermittelten Werte, insbesondere die Richtwerte für die
Gesamtbelastungsdosis, werden von seinen Verfassern nicht als Grenz-, sondern als Orientierungswerte oder -
vorschläge bezeichnet (ASUMed 1999, 101, 109). Auch das aktuelle Merkblatt des Bundesministeriums für Arbeit und
Sozialordnung zur BK Nr 2108 Anl BKV, das für eine zusammenfassende Bewertung der Wirbelsäulenbelastung auf
das MDD verweist, geht von bloßen Orientierungswerten aus (BArbBl 2006, Heft 10, S 30 ff). Danach sind zwar die
arbeitstechnischen Voraussetzungen für eine BK Nr 2108 zu bejahen, wenn die Richtwerte im Einzelfall erreicht oder
überschritten werden (ASUMed 1999, 112, 119); umgekehrt schließt aber ein Unterschreiten dieser Werte das
Vorliegen der BK nicht von vornherein aus.
19
Orientierungswerte sind andererseits keine unverbindlichen Größen, die beliebig unterschritten werden können. Ihre
Funktion besteht in dem hier interessierenden Zusammenhang darin, zumindest die Größenordnung festzulegen, ab
der wirbelsäulenbelastende Tätigkeiten als potentiell gesundheitsschädlich einzustufen sind. Die
Mindestbelastungswerte müssen naturgemäß niedriger angesetzt werden, weil sie ihrer Funktion als
Ausschlusskriterium auch noch in besonders gelagerten Fällen, etwa beim Zusammenwirken des Hebens und
Tragens mit anderen schädlichen Einwirkungen, gerecht werden müssen (BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7
RdNr 19). Werden die Orientierungswerte jedoch so deutlich unterschritten, dass das durch sie beschriebene
Gefährdungsniveau nicht annähernd erreicht wird, so sind die tatbestandlichen Voraussetzungen der BK Nr 2108 zu
verneinen, ohne dass es weiterer Feststellungen zum Krankheitsbild und zum medizinischen Kausalzusammenhang
im Einzelfall bedarf. Der Senat hat deshalb in den zitierten Entscheidungen, ohne sich auf eine bestimmte
Mindestbelastungsdosis festzulegen, jeweils das Vorliegen einer BK verneint, weil in den zugrunde liegenden Fällen
entweder die Einwirkungen durch Heben und Tragen weit weniger als die Hälfte des arbeitstäglichen Dosisrichtwertes
nach dem MDD ausmachten (Urteil vom 18. März 2003, aaO RdNr 15) oder die Gesamtdosis an beruflichen
Einwirkungen lediglich die Hälfte der nach dem MDD erforderlichen Gesamtdosis erreicht hatte und deswegen als
nicht einmal grenzwertig angesehen wurde (Urteil vom 19. August 2003, aaO RdNr 16). Hierauf bezieht sich das LSG,
wenn es ausführt, dass bei einer Unterschreitung des nach dem MDD erforderlichen Richtwertes von 25 x106 Nh um
mehr als 40 Prozent keine Größenordnung erreicht sei, bei der ein Ursachenzusammenhang zwischen beruflicher
Tätigkeit und Wirbelsäulenerkrankung in Betracht zu ziehen sei.
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Das angefochtene Urteil kann gleichwohl nicht aufrecht erhalten werden, weil die vom MDD vorgegebenen
Orientierungswerte im Lichte neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse modifiziert werden müssen. Welches Maß an
belastenden Einwirkungen mindestens erforderlich ist, um eine BK - ggf unter Einbeziehung weiterer Kriterien -
anzuerkennen oder umgekehrt, wo die Mindestgrenze liegt, bis zu der ein rechtlich relevanter
Ursachenzusammenhang ohne weitere Prüfung ausgeschlossen werden kann, ist unter Zuhilfenahme medizinischer,
naturwissenschaftlicher und technischer Sachkunde nach dem im Entscheidungszeitpunkt aktuellen
wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu entscheiden (Urteile des Senats vom 9. Mai 2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96,
196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17 und vom 27. Juni 2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7 RdNr
18). Bezüglich der BK Nr 2108 Anl BKV hat der Senat bereits in seinen früheren Urteilen darauf hingewiesen, dass
das MDD im Hinblick auf die an seinen wissenschaftlichen Grundlagen und seinem Berechnungsmodus geäußerte
Kritik der weiteren Überprüfung bedarf. Er hat in diesem Zusammenhang insbesondere auf die damals laufende, aber
noch nicht abgeschlossene "Deutsche Wirbelsäulenstudie", eine vom Hauptverband der gewerblichen
Berufsgenossenschaften initiierte Fallkontrollstudie zur besseren epidemiologischen Klärung der Dosis-
Wirkungsbeziehungen zwischen beruflichen Belastungen und der Entstehung von bandscheibenbedingten
Wirbelsäulenerkrankungen, verwiesen.
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Die mittlerweile vorliegenden Ergebnisse dieser Untersuchung deuten darauf hin, dass auch unterhalb der
Orientierungswerte nach dem MDD ein erhöhtes Risiko für bandscheiben-bedingte Erkrankungen der LWS bestehen
kann. Nach dem im Internet (www.dguv.de/inhalt/leistungen/versschutz/bk/wirbelsaeule/index.html) veröffentlichten
Ab-schlussbericht hat die Studie, in der verschiedene Dosismodelle verglichen und bewertet wurden, gezeigt, dass
mehrere der geprüften Modelle an sich besser geeignet sind als das MDD, um Dosis-Wirkungsbeziehungen bei
bandscheibenbedingten Wirbelsäulenerkrankungen abzubilden. Danach zeichnen sich die am besten angepassten
Modelle dadurch aus, dass die Schwellenwerte für die Bandscheibendruckkraft bei Lastenhandhabung und für die
Rumpfvorneigung im Vergleich zum MDD abgesenkt sind, dass auf die Einführung eines Schwellenwertes für die
Tagesdosis verzichtet wird und dass neben dem Heben und Tragen zusätzliche Formen der Lastenhandhabung wie
Ziehen, Schieben, Werfen und Fangen von Lasten berücksichtigt werden. Diese Modelle gehen allerdings über die
geltende Legaldefinition der BK Nr 2108 Anl BKV hinaus, da sie auch Tätigkeiten außerhalb der rechtlich
vorgegebenen Kriterien "schweres Heben und Tragen" und "extreme Rumpfbeugehaltung" berücksichtigen. Sie
können deshalb das MDD in seiner Funktion als Zusammenfassung des für eine Konkretisierung der bestehenden BK
benötigten medizinischen Erfahrungswissens nicht unmittelbar ersetzen.
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Die durch die Deutsche Wirbelsäulenstudie gewonnenen neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse bestätigen jedenfalls
in Teilen die Einwände, die schon früher in allgemeiner Form gegen das MDD erhoben worden sind (siehe dazu BSGE
91, 23 = SozR 4-2700 § 9 Nr 1 RdNr 14). Dennoch muss im Grundsatz am MDD als Maßstab zur Ermittlung der
kritischen Belastungsdosis beim Heben und Tragen sowie bei Arbeiten in Rumpfbeugehaltung zunächst festgehalten
werden, weil aus den genannten Gründen derzeit kein den Vorgaben der BK Nr 2108 gerecht werdendes
Alternativmodell zur Verfügung steht. Die Weiterentwicklung des medizinischen Forschungsstandes und die dabei
sichtbar gewordenen Mängel des MDD erfordern aber Modifikationen in zweierlei Hinsicht: Zum einen müssen bei der
Dosisberechnung auch Belastungen berücksichtigt werden, die in die Berechnungen nach dem MDD keinen Eingang
finden. Gleichzeitig müssen die Grenzwerte, ab denen von einem erhöhten Krankheitsrisiko durch die in der Nr 2108
Anl BKV genannten Einwirkungen auszugehen ist, deutlich niedriger als bisher angesetzt werden. Im Einzelnen ist
von Folgendem auszugehen:
23
Die dem MDD zugrunde liegende Mindestdruckkraft pro Arbeitsvorgang von 3.200 N bei Männern wurde aus der
Belastung beim beidhändigen Heben von 20 kg abgeleitet (ASUMed 1999, 101, 109, 116). Da bei der BK Nr 2108 aber
als Einwirkungen nicht nur das Heben, sondern auch das Tragen schwerer Lasten in Rechnung zu stellen sind und die
Druckkraft beim Tragen von 20 kg nach den Bestimmungsgleichungen des MDD 2.700 N beträgt (vgl ASUMed 1999,
101, 116), ist es angesichts der von der Deutschen Wirbelsäulenstudie geforderten Absenkung der Schwellenwerte
angezeigt, zukünftig diesen Wert von 2.700 N als Mindestdruckkraft pro Arbeitsvorgang anzusetzen.
24
Auf eine Mindesttagesdosis ist entsprechend dem Ergebnis der Deutschen Wirbelsäulenstudie zu verzichten, zumal
es für die geforderte Mindesttagesdosis von 5.500 Nh für Männer keine gesicherte Ableitung gibt und in der
Begründung zum MDD diesbezüglich nur von einem "Vorschlag" gesprochen wird (Jäger et al, ASUMed 1999, 101,
109). Da sich nach jetzigem wissenschaftlichen Erkenntnisstand die Forderung nach einer bestimmten
Mindesttagesdosis nicht begründen lässt, vielmehr ein Verzicht auf sie angeraten wird, hält es der Senat für
sachgerecht, alle Hebe- und Tragebelastungen, die die aufgezeigte Mindestbelastung von 2.700 N bei Männern
erreichen, entsprechend dem quadratischen Ansatz zu berechnen und aufzuaddieren.
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Schließlich ist der untere Grenzwert, bei dessen Unterschreitung nach gegenwärtigem Wissensstand ein
Kausalzusammenhang zwischen beruflichen Einwirkungen und bandscheibenbedingter Erkrankung der
Lendenwirbelsäule ausgeschlossen und deshalb auf einzelfallbezogene medizinische Ermittlungen verzichtet werden
kann, auf die Hälfte des im MDD vorgeschlagenen Orientierungswertes für die Gesamtbelastungsdosis von 25 x 106
Nh herabzusetzen. Damit wird den Ergebnissen der Deutschen Wirbelsäulenstudie Rechnung getragen, die zur
Empfehlung einer Absenkung der Schwellenwerte geführt und zugleich durch die Aufdeckung von Schwächen des
MDD allgemein dessen Aussagewert als wissenschaftliche Basis für eine Quantifizierung der potentiell
gesundheitsschädlichen Hebe- und Tragebelastungen gegenüber früheren Annahmen gemindert haben. Beides
zusammen muss zu einer deutlichen Reduzierung der maßgebenden Mindestbelastungsdosis führen.
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Im Schrifttum ist darauf hingewiesen worden, dass die richtig verstandene Funktion von Dosismodellen nicht darin
bestehen kann, möglichst frühzeitig möglichst viele Versicherte von der Anerkennung einer BK auszuschließen,
sondern nur darin, das Ausmaß der Einwirkungen, denen sie durch ihre versicherte Tätigkeit ausgesetzt waren,
möglichst genau zu erfassen und in Beziehung zu einem Krankheitsrisiko zu setzen, um so eine Grundlage für die
richtige und umfassende Beurteilung des Ursachenzusammenhangs zwischen diesen Einwirkungen und später
auftretenden Erkrankungen zu erhalten (P. Becker in: Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Band 3,
Gesetzliche Unfallversicherung, Stand 2007, § 9 RdNr 60 ff). Grenzwerte, die aus solchen Modellen abgeleitet
werden, müssen deshalb so bemessen werden, dass im Falle ihrer Unterschreitung auch in besonders gelagerten
Fällen und unter Berücksichtigung der multifaktoriellen Entstehung von bandscheibenbedingten Erkrankungen der
LWS, ein rechtlich relevanter Kausalzusammenhang ohne weitere medizinische Prüfung ausgeschlossen ist
(Senatsurteil vom 27. Juni 2006 – BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7 RdNr 19). Des weiteren muss bei ihrer
Festlegung berücksichtigt werden, welcher Aussagewert den Modellberechnungen nach dem jeweils aktuellen
Forschungsstand zukommt. Sind wie im Fall des MDD in dieser Hinsicht Abstriche zu machen, so bedarf es eines
ausreichenden Sicherheitsabschlags, der gewährleistet, dass auch bei Berücksichtigung der bestehenden Defizite
unterhalb der festgelegten Mindestbelastungsdosis ein durch die versicherte Berufstätigkeit erhöhtes Krankheitsrisiko
sicher ausgeschlossen werden kann.
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Die erforderliche Neubewertung durch Berücksichtigung weiterer Belastungen und Absenkung der Grenzwerte hat zur
Folge, dass weit mehr Versicherte als bisher zu dem Personenkreis gehören, bei dem aufgrund der beruflichen
Belastung durch Heben und Tragen sowie Arbeiten in Rumpfbeugehaltung eine Anerkennung von
Wirbelsäulenschäden als BK in Betracht kommt. Das beruht, wie dargestellt, nur zu einem Teil auf einer
Weiterentwicklung des medizinischen Forschungsstandes, zum anderen Teil darauf, dass das zur Verfügung
stehende Dosismodell mit erheblichen Unsicherheiten behaftet ist und nur unpräzise Aussagen zu den in Rede
stehenden Dosis-Wirkungsbeziehungen zulässt. Dass bei dieser Sachlage als Grenzwert für das Vorliegen
schädlicher Einwirkungen im Sinne der Nr 2108 Anl BKV ein möglicherweise zu niedrig bemessener Auffangwert
dienen muss, mag unbefriedigend sein, ist aber der Begrenztheit richterlicher Erkenntnismöglichkeiten geschuldet.
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Die Probleme bei der Konkretisierung der arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK Nr 2108 geben Veranlassung,
erneut mit Nachdruck darauf hinzuweisen, dass es Sache des Gesetz- und Verordnungsgebers ist, diese
Voraussetzungen wie allgemein die Bedingungen für die Anerkennung einer BK in dem für einen rational begründbaren
und berechenbaren Gesetzesvollzug notwendigen Umfang selbst festzulegen. Das folgt schon daraus, dass die
Fassung der BK-Tatbestände dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot genügen muss (siehe dazu Senatsurteil vom
18. März 2003 - BSGE 91, 23 = SozR 4-2700 § 9 Nr 1 RdNr 8 ff). Eine gleichmäßige Rechtsanwendung ist nur
gewährleistet, wenn sich die zur Definition einer BK verwendeten unbestimmten Rechtsbegriffe mit Hilfe des von den
Gerichten feststellbaren wissenschaftlichen Erkenntnisstandes hinreichend konkretisieren lassen. Das setzt zum
einen voraus, dass wissenschaftliche Forschungsergebnisse zur Verursachung einer Krankheit durch Einwirkungen
am Arbeitsplatz überhaupt existieren, zum anderen, dass diese Forschungsergebnisse hinreichend konsolidiert und
anerkannt sind. Eine rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprechende Handhabung der BK-Tatbestände ist nicht mehr
möglich, wenn sich eine tragfähige wissenschaftliche Grundlage für die Beurteilung der jeweils zu untersuchenden
Ursachenzusammenhänge im Prozess nicht ermitteln lässt, sei es, weil einschlägige Forschungsergebnisse
überhaupt fehlen oder weil sie keine verwertbaren Erkenntnisse zulassen.
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Unabhängig davon sind präzisere Vorgaben durch den Vorschriftengeber auch deshalb zu fordern, weil Verwaltung und
Gerichte mit der Feststellung des jeweils aktuellen wissenschaftlichen Forschungsstandes zu Ursache- und
Wirkungsbeziehungen bei der Vielzahl von BKen oftmals überfordert sind. Wann bestimmte berufliche Einwirkungen
nach Art, Ausmaß oder Dauer geeignet sind, eine bestimmte Erkrankung hervorzurufen, ist eine Frage, deren
Beantwortung nicht nur besonderes Fachwissen auf medizinischem und technischem Gebiet, sondern zugleich eine
umfassende und genaue Kenntnis des jeweils aktuellen Forschungsstandes zu der betreffenden Fragestellung sowie
die Fähigkeit zu dessen kritischer Bewertung voraussetzt. Die Möglichkeiten der Gerichte, sich die benötigten
Informationen mit den ihnen zur Verfügung stehenden prozessualen Mitteln zu verschaffen, sind begrenzt, da sie auf
die Wissensvermittlung durch Sachverständige angewiesen sind, deren Ergebnisse und Einschätzungen aber
mangels eigener Sachkunde in der Regel nicht selbst bewerten können.
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Demgegenüber kann die Bundesregierung mittels Fachgremien, wie zB den Ärztlichen Sachverständigenbeirat -
Sektion Berufskrankheiten - beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, oder Dienststellen, wie der
Bundesanstalt für Arbeitsmedizin und Arbeitsschutz, den wissenschaftlichen Erkenntnisstand über
Ursachenzusammenhänge zwischen beruflichen Einwirkungen und der Entstehung von Krankheiten sehr viel
umfassender und besser ermitteln. Gutachten und Stellungnahmen solcher Stellen können ggf in Verbindung mit
einem Beteiligungsverfahren, das es ermöglicht, den vorhandenen wissenschaftlich-technischen Sachverstand
auszuschöpfen, für die Konkretisierung der als gesundheitsschädlich einzustufenden Einwirkungen eine weitaus
verlässlichere Basis abgeben als ein für den Einzelfall im Gerichtsverfahren eingeholtes Gutachten. Hinzu kommt,
dass der Verordnungsgeber freier ist als die Gerichte, wenn es darum geht, im Rahmen der gesetzlichen
Ermächtigung generell-abstrakte Standards festzulegen, nach denen BK-Tatbestände auszulegen sind.
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Wie die gebotene Präzisierung erreicht wird, ist Sache des Verordnungsgebers und vom Senat nicht zu entscheiden.
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Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.