Urteil des BSG vom 26.06.2013
BSG: Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren, Überprüfungsantrag, Asylbewerberleistung, Beschränkung des Überprüfungszeitraums auf ein Jahr, analoge Anwendung des § 116a SGB 12
BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 26.6.2013, B 7 AY 6/12 R
Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren - Überprüfungsantrag - Asylbewerberleistung -
Beschränkung des Überprüfungszeitraums auf ein Jahr - analoge Anwendung des § 116a SGB
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Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 24. April 2012 wird
zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
1 Im Streit sind höhere Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) im
Rahmen eines Zugunstenverfahrens nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch -
Sozialverwaltungs-verfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) für die Zeit vom 1.1.2007 bis
30.6.2009.
2 Am 22.8.2011 beantragte der 1997 geborene Kläger rückwirkend ab 1.1.2007 bis 30.6.2009
höhere Leistungen nach § 2 AsylbLG. Die Beklagte lehnte den Antrag mit der Begründung
ab, die Frist für die Nachzahlung von Leistungen nach § 44 Abs 4 SGB X sei durch
Einfügen des § 116a Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) auch für das
Asylbewerberleistungsrecht auf ein Jahr begrenzt worden. Für Leistungen nach § 2
AsylbLG sei das SGB XII entsprechend anzuwenden, sodass Nachzahlungen nur noch für
die Zeit ab 1.1.2010 möglich seien (Bescheid vom 16.9.2011; Widerspruchsbescheid vom
23.9.2011).
3 Die hiergegen erhobene Klage ist ohne Erfolg geblieben (Urteil des Sozialgerichts
Münster vom 24.4.2012). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das SG ausgeführt,
einer Überprüfung des streitbefangenen Zeitraums stehe § 116a SGB XII entgegen, wonach
für die Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes § 44 Abs
4 SGB X mit der Maßgabe gelte, dass anstelle des (Nachzahlungs-)Zeitraums von vier
Jahren ein Zeitraum von einem Jahr trete, gerechnet von Beginn des Jahres an, in dem der
Antrag gestellt worden sei. Diese Regelung sei nach § 136 SGB XII auf
Überprüfungsanträge anzuwenden, die ab dem 1.4.2011 gestellt worden seien. Zwar finde
sich keine § 116a SGB XII entsprechende Regelung im AsylbLG, die Vorschrift sei aber
wegen einer planwidrigen Lücke im Gesetz analog anzuwenden.
4 Mit seiner Revision rügt der Kläger einen Verstoß gegen § 9 Abs 3 AsylbLG iVm § 44 Abs 4
SGB X. Danach seien rechtswidrig vorenthaltene Leistungen für bis zu vier Jahre
rückwirkend nachzuzahlen. § 116a SGB XII, der die Frist auf ein Jahr verkürze, sei nicht
analog auf Leistungen nach dem AsylbLG anwendbar. Dem Gesetzgebungsverfahren zum
Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften
Buches Sozialgesetzbuch lasse sich entnehmen, dass der Gesetzgeber bewusst auf eine
Verkürzung der Frist von vier Jahren bei den Überprüfungsanträgen nach § 44 SGB X für
diesen Bereich verzichtet habe, sodass es an einer planwidrigen Regelungslücke mangele.
Es fehle auch eine vergleichbare Interessenlage, weil Anträge nach § 44 SGB X nicht nur
die Erhöhung der Leistungsgewährung auf die Regelsätze nach dem SGB XII, sondern
auch die Überprüfung der Leistungsgewährung nach §§ 1a und 3 AsylbLG beträfen.
5 Der Kläger hat sinngemäß schriftsätzlich beantragt,
das Urteil des SG und den Bescheid vom 16.9.2011 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 23.9.2011 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm
unter Rücknahme entgegenstehender Verwaltungsakte für die Zeit vom 1.1.2007 bis
30.6.2009 höhere Leistungen zu zahlen.
6 Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
7 Sie hält die Entscheidung des SG für zutreffend.
Entscheidungsgründe
8 Die zulässige Sprungrevision (§ 161 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz ) ist nicht
begründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Der Kläger hat schon deshalb keinen Anspruch auf
rückwirkend zu gewährende höhere Leistungen für den streitbefangenen Zeitraum, weil er
seinen Überprüfungsantrag erst im August 2011 gestellt hat und § 116a SGB XII der
rückwirkenden Leistungsgewährung entgegensteht.
9 Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 16.9.2011 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 23.9.2011 (§ 95 SGG), mit dem die Beklagte es abgelehnt
hat, dem Kläger unter Aufhebung entgegenstehender bestandskräftiger Bescheide
rückwirkend höhere Leistungen nach dem AsylbLG zu zahlen. Gegen diesen wendet sich
der Kläger mit der kombinierten Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage nach §
54 Abs 1 Satz 1 iVm Abs 4 SGG, § 56 SGG (BSG SozR 4-1300 § 44 Nr 22 RdNr 9; BSG,
Urteil vom 20.12.2012 - B 7 AY 4/11 R - RdNr 10), auf die auch bei Anwendung des § 44
SGB X ein Grundurteil nach § 130 Abs 1 SGG ergehen kann (BSGE 88, 299, 300 = SozR
3-4300 § 137 Nr 1 S 2; BSG SozR 4-3520 § 3 Nr 3 RdNr 10; BSG, Urteil vom 28.2.2013 -
B 8 SO 4/12 R - RdNr 9).
10 Gemäß § 9 Abs 3 AsylbLG iVm § 44 Abs 1 SGB X (zur Anwendbarkeit des § 44 SGB X im
Asylbewerberleistungsrecht vgl: BSGE 104, 213 ff = SozR 4-1300 § 44 Nr 20; BSG SozR
4-1300 § 44 Nr 22) ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist,
mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, wenn bei dessen Erlass das Recht
unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als
unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder
Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Einer Entscheidung darüber, ob dem Kläger in
der Zeit vom 1.1.2007 bis zum 30.6.2009 Leistungen zu Unrecht vorenthalten wurden und
die insoweit ergangenen Bescheide rechtswidrig waren (§ 44 Abs 1 SGB X), bedarf es
nicht. § 44 Abs 1 SGB X zielt im Ergebnis auf die Ersetzung des rechtswidrigen
Verwaltungsakts, mit dem eine (höhere) Leistung zu Unrecht abgelehnt wurde, durch
einen die (höhere) Leistung gewährenden Verwaltungsakt ab. Einem Antragsteller, der
über § 44 Abs 4 SGB X keine Leistungen mehr für die Vergangenheit erhalten kann, kann
regelmäßig kein rechtliches Interesse an der Rücknahme iS von § 44 Abs 1 SGB X
zugebilligt werden. Die Unanwendbarkeit der "Vollzugsregelung des § 44 Abs 4 SGB X"
steht dann einer isolierten Rücknahme entgegen (BSGE 104, 213 ff RdNr 22 = SozR 4-
1300 § 44 Nr 20; BSGE 68, 180 ff = SozR 3-1300 § 44 Nr 1). So liegt der Fall hier. Selbst
im Falle der Rechtswidrigkeit bestandskräftiger Bescheide über Leistungen nach dem
AsylbLG könnten höhere Leistungen rückwirkend allenfalls für die Zeit ab 1.1.2010
erbracht werden, die nicht streitbefangen ist; insoweit ist § 116a SGB XII analog im
Asylbewerberleistungsrecht anzuwenden.
11 Zu Unrecht vorenthaltene Leistungen nach dem AsylbLG werden zwar gemäß § 9 Abs 3
AsylbLG iVm § 44 Abs 4 SGB X längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der mit
Wirkung für die Vergangenheit erfolgten Rücknahme eines rechtswidrigen nicht
begünstigenden Verwaltungsaktes erbracht; dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von
Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird (§ 44
Abs 4 Satz 2 SGB X). Erfolgt die Rücknahme - wie hier - auf Antrag, tritt bei der
Berechnung des Zeitraums, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der
Rücknahme der Antrag. Die 4-Jahresfrist verkürzt sich aber für Anträge, die - wie hier -
nach dem 31.3.2011 gestellt wurden, in entsprechender Anwendung des die Regelung
des § 44 Abs 4 SGB X modifizierenden § 116a SGB XII iVm dem bis 31.12.2012
geltenden § 136 SGB XII (jeweils in der Normfassung des Gesetzes zur Ermittlung von
Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch
vom 24.3.2011 - BGBl I 453) auf ein Jahr, sodass angesichts der im August 2011 erfolgten
Antragstellung keine für den streitbefangenen Zeitraum zu Unrecht vorenthaltenen
Leistungen mehr zu erbringen sind. Wann ein bestandskräftiger Bescheid über die
Ablehnung von Leistungen nach dem AsylbLG für den streitbefangenen Zeitraum -
ausdrücklich durch förmlichen Verwaltungsakt oder konkludent (dazu BSG, Urteil vom
28.2.2013 - B 8 SO 4/12 R- RdNr 9) - ergangen ist, ist für die Anwendung des § 44 Abs 1
iVm Abs 4 SGB X ohne Bedeutung.
12 § 116a SGB XII ist im Zusammenhang mit § 9 Abs 3 AsylbLG iVm § 44 SGB X analog
anzuwenden, weil das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des
Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch durch das Unterlassen einer Änderung in
§ 9 Abs 3 AsylbLG eine planwidrige Regelungslücke enthält, die durch richterliche
Rechtsfortbildung zu schließen ist (Greiser in juris PraxisKommentar SGB XII, §
116a SGB XII RdNr 21 ff). Eine direkte Anwendung des § 116a SGB XII scheidet hingegen
aus. Zwar werden Leistungen nach § 2 AsylbLG in entsprechender Anwendung des SGB
XII erbracht (§ 2 Abs 1 AsylbLG); jedoch betrifft diese Regelung nach ihrem Wortlaut
("abweichend von §§ 3 bis 7"), gleich ob sie eine Rechtsgrund- oder eine
Rechtsfolgenverweisung enthält (offengelassen in BSGE 101, 49 ff RdNr 14 = SozR 4-
3520 § 2 Nr 2), nur das Leistungsrecht des AsylbLG. Deshalb bedarf es für eine direkte
Anwendung der den Zeitraum des § 44 Abs 4 SGB X von vier auf ein Jahr verkürzenden
Regelung eines besonderen Anwendungsbefehls, der in § 9 Abs 3 AsylbLG aber nicht
enthalten ist. § 9 Abs 3 AsylbLG sieht selbst (noch) keine Modifikation des § 44 Abs 4 SGB
X vor.
13 Eine Analogie, die Übertragung einer gesetzlichen Regelung - hier des § 116a SGB XII -
auf einen Sachverhalt, der von der betreffenden Vorschrift nicht erfasst wird, ist geboten,
wenn dieser Sachverhalt mit dem geregelten vergleichbar ist und nach dem
Grundgedanken der Norm und damit dem mit ihr verfolgten Zweck dieselbe rechtliche
Bewertung erfordert (BSG SozR 3-2500 § 38 Nr 2 RdNr 15). Daneben muss eine
(unbewusste) planwidrige Regelungslücke vorliegen (BVerfGE 82, 6, 11 ff mwN; BSGE
77, 102, 104 = SozR 3-2500 § 38 Nr 1 S 3; BSGE 89, 199, 202 f = SozR 3-3800 § 1 Nr 21
S 95 f mwN). Diese Voraussetzungen liegen vor.
14 Die zu regelnden Sachverhalte sind nicht nur im Sozialgesetzbuch Zweites Buch -
Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II, dort § 40 Abs 1 Satz 2) und im SGB XII, für
die die Jahresbegrenzung eingefügt worden ist, sondern auch im AsylbLG in diesem Sinn
gleichartig. Das SGB II, das SGB XII und das AsylbLG sind Existenzsicherungssysteme,
die alle das Ziel haben, den Leistungsberechtigten ein menschenwürdiges Dasein zu
ermöglichen (§ 1 Abs 1 SGB II; § 1 Abs 1 Satz 1 SGB XII; BT-Drucks 12/4451 Satz 1 und
3, wonach die fürsorgerischen Gesichtspunkte der Leistungen an Asylbewerber durch das
AsylbLG gewahrt bleiben). Ebenso ist allen drei Existenzsicherungssystemen gemeinsam,
dass die gewährten Leistungen einen aktuellen Bedarf bei aktueller Hilfebedürftigkeit
decken sollen (sog Aktualitätsgrundsatz, vgl nur Pattar in Existenzsicherungsrecht, 2. Aufl
2013, S 136) und nicht als nachträgliche Geldleistung ausgestaltet sind (BVerfG,
Beschluss vom 12.5.2005 - 1 BvR 569/05; BVerwGE 60, 236, 238; 66, 335, 338), sodass
Leistungen im Rahmen eines Zugunstenverfahrens für die Vergangenheit nur zu erbringen
sind, wenn die Existenzsicherungsleistungen ihre Aufgabe noch erfüllen können (BSGE
104, 213 ff RdNr 12 ff = SozR 4-1300 § 44 Nr 20; SozR 4-1300 § 44 Nr 12 RdNr 14 f).
15 Dieser Gedanke war auch Beweggrund für den Gesetzgeber zur Einführung des § 116a
SGB XII. Ausweislich der Gesetzesbegründung sei die Vierjahresfrist des § 44 Abs 4 SGB
X für die Leistungen, die als steuerfinanzierte Leistungen der Sicherung des
Lebensunterhalts dienten und dabei in besonderem Maße die Deckung gegenwärtiger
Bedarfe bewirken sollten (sog Aktualitätsgrundsatz), zu lang. Eine kürzere Frist von einem
Jahr sei sach- und interessengerecht (BT-Drucks 17/3404, S 114, 129). Nichts anderes
kann aber angesichts der Gleichartigkeit der zu regelnden Sachverhalte für Leistungen
nach dem AsylbLG gelten. Die in den Regelungen des § 40 Abs 1 Satz 2 SGB II und §
116a SGB XII zum Ausdruck kommende gesetzgeberische Wertung muss deshalb für das
AsylbLG übernommen werden. Erst recht gilt dies unter Berücksichtigung der Tatsache,
dass ursprüngliches Ziel der Leistungen nach dem AsylbLG eine "deutliche Absenkung"
der früher nach § 120 Abs 2 Bundessozialhilfegesetz gewährten Leistungen war, also eine
Schlechterstellung der Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG (BT-Drucks 12/4451
Satz 1; vgl insoweit aber BVerfG SozR 4-3520 § 3 Nr 2). Dieses Ziel würde konterkariert,
wären im Zugunstenverfahren Leistungen nach dem AsylblG (anders als nach dem SGB II
bzw dem SGB XII) annähernd bis zu fünf Jahren rückwirkend zu erbringen.
16 Die Gleichartigkeit der Sachverhalte im SGB II, dem SGB XII und dem AsylbLG gebietet
auch eine gleiche Behandlung. Dies bestätigt die Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur Verfassungswidrigkeit des § 3 AsylbLG (BVerfG
SozR 4-3520 § 3 Nr 2), wonach das Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen
Existenzminimums deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der
Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zusteht. Umgekehrt muss das aber
auch für Einschränkungen bei der Nachzahlung zu Unrecht vorenthaltener Leistungen
gelten. Deshalb soll nach dem Referentenentwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung
des AsylbLG (Bearbeitungsstand 4.12.2012; http://www.fluechtlingsinfo-
berlin.de/fr/asylblg/bverfg-asylblg-novelle.html) der Vorschrift des § 9 Abs 3 folgender Satz
2 angefügt werden (Referentenentwurf S 4): "§ 44 Abs 4 Satz 1 des Zehnten Buches
Sozialgesetzbuch gilt mit der Maßgabe, dass anstelle des Zeitraums von vier Jahren ein
Zeitraum von einem Jahr tritt." Zur Begründung wird ausgeführt, es werde den
Besonderheiten des AsylbLG nicht gerecht, Bedarfe, die tatsächlich nicht mehr vorhanden
seien, auch für Zeiträume, die länger in die Vergangenheit zurückreichten, rückwirkend zu
gewähren. Die Vierjahresfrist des § 44 SGB X sei für steuerfinanzierte Leistungen, die der
Sicherung des Lebensunterhalts und damit in besonderem Maße der Deckung
gegenwärtiger Bedarfe dienten, zu lang. Eine kürzere Frist von einem Jahr sei sach- und
interessengerecht. Insofern müssten dieselben Grundsätze wie in § 116a SGB XII und in §
40 Abs 1 SGB XII gelten. Entsprechend werde § 9 Abs 3 AsylbLG so abgeändert, dass §
44 SGB X zukünftig auch im AsylbLG nur mit der Maßgabe Anwendung finde, dass
anstelle des Zeitraums von vier Jahren ein solcher von einem Jahr trete
(Referentenentwurf S 15 f, aaO). Die Begründung im Referentenentwurf ist damit
annähernd wortgleich zu der Begründung der Änderung des § 40 Abs 1 SGB II und der
Einfügung des § 116a SGB XII (BT-Drucks aaO).
17 Es fehlt auch nicht deshalb an der vergleichbaren Interessenlage, weil die Anträge nach §
44 SGB X auch die Überprüfung der Leistungsgewährung nach §§ 1a und 3 AsylbLG
betreffen und das System des AsylbLG in erster Linie als Sachleistungssystem
ausgestattet ist. Zum einen sind hier solche Leistungen nicht betroffen, sondern
Leistungen nach § 2 AsylbLG, die in entsprechender Anwendung des SGB XII erbracht
werden, sodass es nicht einzusehen ist, weshalb insoweit eine Besserstellung des
Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG erfolgen soll; zum anderen wären
Sachleistungen für die Vergangenheit nicht zu erbringen, sondern allenfalls ohnehin
Geldleistungen im Sinne eines Sekundäranspruchs. Im Übrigen sehen auch das SGB II
und das SGB XII die - allerdings eingeschränkte - Möglichkeit vor, Sachleistungen zu
erbringen. Bei der Prüfung, ob die beiden verglichenen Sachverhalte in einer die Analogie
ermöglichenden Weise "gleich" bzw "ähnlich" sind, ist die Grenze (erst) dort zu ziehen, wo
durch die entsprechende Anwendung die Regelungsabsicht des Gesetzgebers vereitelt
würde. Dies ist zwar schon dann zu bejahen, wenn es nur zweifelhaft ist, ob der
Unterschied zwischen den verglichenen Sachverhalten nicht doch so groß ist, dass durch
eine Gleichstellung die gesetzliche Wertung in Frage gestellt sein könnte (BSGE 57, 195 ff
= SozR 1500 § 149 Nr 7). Derartige Zweifel bestehen aber nach oben Gesagtem gerade
nicht. So sieht auch der Referentenentwurf (aaO) eine § 116a SGB XII identische
Regelung bei annähernd identischer Begründung vor, ohne zwischen den jeweiligen
Leistungen nach dem AsylbLG zu unterscheiden.
18 Dies rechtfertigt auch die Folgerung einer durch das Gesetz zur Ermittlung von
Regelbedarfen und Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch
entstandenen (unbewussten) planwidrigen Regelungslücke (vgl auch: Greiser in jurisPK-
SGB XII, § 116a SGB XII RdNr 27; Scheider in Hohm, AsylbLG, § 9 RdNr 73, Stand
Dezember 2012, der ein gesetzgeberisches Versehen wegen unterschiedlicher
ministerieller Zuständigkeiten vermutet). Diese hat der Gesetzgeber mittlerweile selbst
erkannt, der, wie die beabsichtigte Ergänzung von § 9 Abs 3 AsylbLG und insbesondere
die Begründung im Referentenentwurf zeigen, die Gesetzeslücke nachträglich schließen
will. Die Annahme einer Gesetzeslücke verbietet sich - anders als der Kläger meint - nicht
etwa deshalb, weil in der BT-Drucks 17/3404 die Leistungen nach dem AsylbLG bei der
Bewertung der finanziellen Auswirkungen des Entwurfs der Fraktionen der CDU/CSU und
FDP zum Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und
Zwölften Buches Sozialgesetzbuch ausdrücklich genannt werden (S 45 und 47) und in der
dritten Beratung des Gesetzentwurfs (Plenarprotokoll 17/79) über den
Entschließungsantrag der Fraktion "Die Linke" zur Ergänzung des Kreises der
Leistungsberechtigten nach dem SGB II und dem SGB XII um bisherige
Leistungsberechtigte nach dem dann aufzuhebenden AsylbLG (BT-Drucks 17/4106)
abgestimmt wurde. Denn die Ausführungen in der BT-Drucks 17/3404 betreffen nur die
finanziellen Auswirkungen des Regelbedarfsermittlungsgesetzes, die natürlich auch
Asylbewerber betreffen, die Leistungen entsprechend dem SGB XII erhalten. Auch der
Entschließungsantrag der Fraktion "Die Linke" betrifft allein die Höhe der Leistungen. Der
Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten
und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch war eine Reaktion des Gesetzgebers auf die den
Regelbedarf nach dem SGB II und dem SGB XII betreffende Entscheidung des BVerfG
vom 9.2.2010 (BVerfGE 125, 175 ff = SozR 4-4200 § 20 Nr 12). Die zitierten amtlichen
Drucksachen und Protokolle betreffen ebenfalls unmittelbar oder mittelbar nur den
Regelbedarf bzw die Höhe der Leistungsgewährung, haben jedoch keinen Bezug zur
Ergänzung des § 40 Abs 1 Satz 2 SGB II bzw des § 116a SGB XII. Sie sind deshalb weder
Beleg dafür, dass Leistungen nach dem AsylbLG bewusst ausgeklammert worden sind,
noch begründen sie einen solchen Zweifel. Der Referentenentwurf eines Dritten Gesetzes
zur Änderung des AsylbLG belegt insoweit sogar das Gegenteil (dazu oben).
19 An diesem Ergebnis ändert die beabsichtigte Übergangsregelung in § 14 AsylbLG des
Referentenentwurfs (Referentenentwurf S 5) nichts, wonach § 9 Abs 3 Satz 2 AsylbLG
nicht bei Anträgen nach § 44 SGB X anwendbar sein soll, die vor dem Zeitpunkt des
Inkrafttretens der Neuregelung gestellt worden sind. Damit ist bereits keine die Analogie
verbietende Regelung beabsichtigt. Ohnedies verbleibt es bis zum möglichen Inkrafttreten
bei der Gesetzeslücke, die durch richterliche Rechtsfortbildung zu schließen ist.
20 Schließlich besteht im öffentlichen Recht auch kein allgemeines Analogieverbot zum
Nachteil von Bürgern, also der analogen Anwendung einer "belastenden" Norm (BSGE
104, 285 ff = SozR 4-4300 § 335 Nr 2; BSG SozR 3-4100 § 59e Nr 1 S 6; SozR 4-1300 §
44 Nr 22 RdNr 23). Aus der Bindung an "Gesetz und Recht" (Art 20 Abs 3 Grundgesetz
speziellen verfassungsrechtlichen Analogieverboten wie Art 103 Abs 2 GG abgesehen -
nicht auf den ausdrücklich bestimmten Anwendungsbereich der gesetzlichen
Bestimmungen beschränkt sind, sondern das Recht insgesamt anwenden müssen (BSGE
104, 285 ff = SozR 4-4300 § 335 Nr 2). Infolgedessen sind auch belastende Normen des
öffentlichen Rechts analog anzuwenden, sofern sich die Übertragung auf einen gesetzlich
nicht ausdrücklich geregelten Fall - wie hier - wegen der Gleichartigkeit der Sachverhalte
gebietet und die Regelungsabsicht des Gesetzgebers sicherstellt.
21 Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.