Urteil des BSG vom 01.01.2005
BSG (höhe, kläger, ernährung, gegenstand des verfahrens, reformatio in peius, betrag, arzneimittel, ärztliche verordnung, sgg, bundesrepublik deutschland)
BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 27.2.2008, B 14/7b AS 64/06 R
Arbeitslosengeld II - Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung - Empfehlungen des
Deutschen Vereins - kein antizipiertes Sachverständigengutachten - Einzelfallprüfung -
Verfassungsmäßigkeit der Regelleistung - Abschlag bei den Unterkunftskosten für
Haushaltsenergie
Leitsätze
1. Die "Empfehlungen für die Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe" des
Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge eV aus dem Jahr 1997 sind weder als
Rechtsnormen noch derzeit als antizipierte Sachverständigengutachten anzusehen. Sie
können im Regelfall zur Konkretisierung des angemessenen Mehrbedarfs iS des § 21 Abs 5
SGB 2 herangezogen werden.
2. Maßgeblich für die Bestimmung des Mehrbedarfs sind stets die im Einzelfall medizinisch
begründeten tatsächlichen Kosten für eine besondere Ernährung, die von der Regelleistung
nicht gedeckt ist.
Tatbestand
1 Der Kläger begehrt höheres Arbeitslosengeld II (Alg II) nach dem Sozialgesetzbuch Zweites
Buch (SGB II) für die Zeit vom 1. Januar 2005 bis zum 30. Juni 2006.
2 Der 1971 geborene Kläger beantragte im November 2004 bei der Beklagten die Gewährung
von Leistungen nach dem SGB II. Er hatte zu diesem Zeitpunkt monatliche
Unterkunftskosten in Höhe von 280,84 EUR für ein 23,74 qm großes möbliertes
Einzimmerappartement. Die Bundesagentur für Arbeit (BA) bewilligte dem Kläger mit
Bescheid vom 29. November 2004 und Änderungsbescheid vom 4. Januar 2005 Alg II für die
Zeit vom 1. Januar 2005 bis 30. Juni 2005 in Höhe von 597,84 EUR im Monat (Regelleistung
in Höhe von 345 EUR zzgl Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von 252,84
EUR <280,84 EUR abzüglich 28 EUR für Warmwasserbereitung und Strom>). Mit dem
hiergegen eingelegten Widerspruch machte der Kläger geltend, es müssten die KdU
ungekürzt sowie zusätzlich Müllgebühren in Höhe von 8,70 EUR monatlich berücksichtigt
werden. Außerdem müsse er monatlich 65 EUR für Arzneimittel ausgeben, die von der
Krankenkasse nicht erstattet würden. Hierzu verwies er auf eine Bestätigung seiner
Hausärztin, wonach ihm auf Grund der Erkrankung "Achalasie, Dysphagie" für die Dauer von
zwölf Monaten eine Vollkosternährung verordnet worden ist. Mit Bescheid vom 10. Februar
2005 bewilligte die Beklagte dem Kläger daraufhin unter Berücksichtigung der Müllgebühren
Alg II in Höhe von 606,54 EUR für den Zeitraum vom 1. Januar 2005 bis zum 30. Juni 2005.
3 Mit Widerspruchsbescheid vom 27. April 2005, der nach Rücklauf unter dem Datum 9. Mai
2005 erneut zugestellt wurde, wies die Beklagte den Widerspruch gegen den Bescheid vom
4. Januar 2005 in der Fassung vom 10. Februar 2005 zurück. Von der Pauschalmiete in
Höhe von 280,84 EUR sei nach den Richtlinien zur Umsetzung des SGB II, Ausführungen zu
§ 22 SGB II, des Landkreistages Baden-Württemberg bzw Städtetages Baden-Württemberg
vom 4. Januar 2005 für die Warmwasserbereitung ein Betrag von 9 EUR und für Strom ein
Betrag von 19 EUR abzuziehen. Kosten für Arzneimittel seien in der Regelleistung enthalten
und könnten nicht gesondert berücksichtig werden. Mit einem weiteren Änderungsbescheid
vom 2. Mai 2005 erhöhte die Beklagte das Alg II für die Zeit vom 1. Januar 2005 bis zum 30.
Juni 2005 um weitere 25,56 EUR auf 632,10 EUR wegen eines insoweit anzuerkennenden
Mehrbedarfs bei kostenaufwendiger Ernährung.
4 Während des anschließenden Klageverfahrens bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 25.
Juni 2005 und mit weiterem Bescheid vom 28. November 2005 Alg II für die Monate Juli bis
Dezember 2005 bzw Januar bis Juni 2006 in Höhe von monatlich 632,10 EUR. Mit Bescheid
vom 19. Dezember 2005 hat die Beklagte für die Zeit ab Januar 2006 die Leistung auf
639,36 EUR monatlich erhöht und hierzu angegeben, dass nur noch 20,74 EUR monatlich
als in der Regelleistung enthaltener Betrag für die Kosten von Strom von den
Unterkunftskosten abzuziehen seien.
5 Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 20. Dezember 2005 die Beklagte gemäß einem im
Termin zur mündlichen Verhandlung abgegebenen Teilanerkenntnis verurteilt, dem Kläger
rückwirkend Alg II unter Berücksichtigung von KdU in Höhe von 268,80 EUR (= 280,84 EUR
+ 8,70 EUR = 289,54 EUR abzüglich 20,74 EUR für Haushaltsenergie) zu bewilligen. Im
Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 17.
November 2006 die Berufung zurückgewiesen. Es hat zunächst ausgeführt, dass die
Leistung nicht in verfassungswidriger Weise zu niedrig bemessen sei. Die Höhe der
Regelleistung begegne keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken und
garantiere den Betreffenden das soziokulturelle Existenzminimum. Der Kläger habe auch
nicht dargelegt, dass er einen Bedarf habe, der in der Höhe erheblich von einem
durchschnittlichen Bedarf abweiche. Ihm werde bereits wegen kostenaufwendiger
Ernährung ein monatlicher Mehrbetrag in Höhe von 25,56 EUR gewährt. Nach der
vorliegenden ärztlichen Bescheinigung handele es sich bei dem zusätzlichen Bedarf nicht
um Arzneimittel, sondern um Vollkost, was auch erkläre, weshalb die Krankenkasse eine
Kostenerstattung ablehne. Vollkost sei ein Begriff der Diätetik und bezeichne eine
Ernährung, die ohne Einschränkung alle Nahrungsbestandteile in einem ausgewogenen
Verhältnis enthalte. Es sei nicht ersichtlich, weshalb der von der Beklagten vorgenommene
Zuschlag von 25,56 EUR nicht ausreichend bemessen sei, um diese Besonderheiten bei der
erforderlichen Ernährung zu berücksichtigen. Bereits die Regelleistung in Höhe von 345
EUR monatlich sei von ihrer Zielsetzung her geeignet, auch nicht auf eine Vollkostdiät
angewiesenen Anspruchsberechtigten eine gesunde vollwertige Ernährung zu ermöglichen.
Dass hierfür von den Antragstellern geschicktes Einkaufen und Wirtschaften verlangt werde,
mache die Höhe der Regelleistung noch nicht verfassungswidrig. Schließlich sei auch der
von der Beklagten vorgenommene pauschale Abzug von der Regelleistung für die Kosten
der Warmwasseraufbereitung und der Stromversorgung nicht zu beanstanden.
6 Hiergegen richtet sich die - vom LSG zugelassene - Revision des Klägers. Er beanstandet
die Verfassungsmäßigkeit der Regelleistung. Ihre Festsetzung genüge nicht den
rechtsstaatlichen Anforderungen des Art 20 Abs 3 Grundgesetz. Weder dem Gesetz noch
seiner Begründung sei zu entnehmen, wie die Elemente der Regelleistung zu quantifizieren
und zu gewichten seien. In der Begründung werde auf die noch vom Bundesministerium für
Gesundheit und Soziale Sicherung im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der
Finanzen und dem Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit zu diesem Zeitpunkt erst
noch zu erlassenden Regelungen im Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII)
einschließlich der Regelsatzverordnung verwiesen. Der in § 20 Abs 2 SGB II bereits
festgelegte und feststehende Betrag von 345 EUR habe sich im Einzelnen erst aus den
Auswertungen der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) 1998 ergeben, die auf
den Stand 1. Juli 2003 hochgerechnet worden sei. Die Frage der Verfassungskonformität
lasse sich am ehesten daran messen, welches Instrumentarium zur Findung des
soziokulturellen Minimums eingesetzt werde und auf welchem Weg das Ergebnis gefunden
worden sei. Soweit eine Pauschalierung erfolge, müssten die Pauschbeträge auf
ausreichenden Erfahrungswerten beruhen. Diesen Anforderungen genüge die Regelleistung
des SGB II nicht. Die Ausgangsdatenlage beruhe auf Erhebungen aus dem Jahr 1998 und
liege damit sieben Jahre vor dem Inkrafttreten des SGB II am 1. Januar 2005. Es seien damit
sieben Jahre gesellschaftlichen Wandels nicht berücksichtigt worden, insbesondere nicht
das einschneidende Ereignis der Einführung des Euro sowie die Kostenbelastung der
Versicherten durch die Gesundheitsreform 2004. Der Ausgangswert von 630,18 DM habe
schon 1998 das soziokulturelle Existenzminimum nicht abgedeckt. Die Deckelung der
Regelsätze in der Vergangenheit über § 22 Abs 6 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) habe
dazu geführt, dass die vom Gesetz geforderte Weiterentwicklung der Regelsatzbemessung
nach dem Stand und der Entwicklung von Nettoeinkommen, Verbraucherverhalten und
Lebenshaltungskosten auf der Grundlage der tatsächlichen, statistisch ermittelten
Verbrauchsausgabe von Haushalten in unteren Einkommensgruppen seit Jahren nicht mehr
stattgefunden habe. Die um die Sozialhilfeempfänger statistisch zu bereinigende Gruppe der
unteren 20 % der Einkommensbezieher habe ein deutlich anderes Ausgabeverhalten als in
der Regelsatzverordnung angenommen.
7 Die Rentner würden keine geeignete Vergleichsgruppe für die Anpassung und
Hochrechnung bilden. In die Erhöhung des Rentenwertes fließe auch der Anteil an der
freiwilligen Altersvorsorge und die Absenkung auf Grund der gestiegenen Lebenserwartung
ein. Eine Beziehung zwischen dem bedarfsorientiert zu ermittelnden soziokulturellen
Existenzminimum des SGB II und den für das Rentensystem des Sozialgesetzbuches
Sechstes Buch entwickelten Renteneckwerten lasse sich nicht herstellen. In § 101 BSHG sei
festgelegt gewesen, dass in Modellvorhaben bis zum 31. Dezember 2003 Wege zur Findung
von pauschalierten Leistungen der Sozialhilfe erprobt und ausgewertet werden sollten. Das
SGB II sei aber verabschiedet worden, bevor die Modellvorhaben abschließend ausgewertet
worden seien.
8 Mit einem Rückgriff auf § 23 SGB II lasse sich die Verfassungswidrigkeit der Festsetzung
des Regelsatzes nicht beseitigen. § 23 SGB II ermögliche weder eine Einzelfallgerechtigkeit
in atypischen Lebenssituationen, noch sei die Darlehensgewährung geeignet, zu niedrig
angesetzte Teilbedarfe realitätsnah zu korrigieren.
9 Weder aus der Regelleistung nach § 20 Abs 2 SGB II noch nach dem Regelsatz des § 28
SGB XII lasse sich ein vom Gesetzgeber angesetzter Anteil der Kosten für die
Warmwasserbereitung entnehmen, der einen Abzug rechtfertige. Die Abteilung 04 der EVS
1998 weise einen Teilbetrag von 26,87 EUR für Wasser und Wohnung aus. Generelle
Festsetzungen wie etwa in Höhe von 18 % nach der Heizkostenverordnung als Abschlag
würden die Berücksichtigung anderer Anteile nicht mehr gewährleisten. Auch die im
angegriffenen Urteil vorgenommene Festsetzung von 20,74 EUR entsprechend Punkt 22.19
der Richtlinien des Landkreistages sowie des Städtetages Baden-Württemberg sei
substanzlos.
10 Hinsichtlich der kostenaufwendigen Ernährung sei das LSG nicht auf den klägerischen
Vortrag eingegangen, in der Regelleistung seien nur 13,19 EUR für Gesundheitspflege
vorgesehen und die durchschnittlich im Monat aufzuwendenden 65 EUR für Arzneimittel
könnten von der Regelleistung nicht bestritten werden. Die Hausärztin des Klägers habe
bestätigt, dass ihm auf Grund der Erkrankung für einen Zeitraum von zwölf Monaten Vollkost
verordnet worden sei. Inwieweit die von der Beklagten gewährte Zulage in Höhe von 25,56
EUR den tatsächlichen Aufwendungen für Krankenkost und Arzneimittel entspreche, lasse
sich weder der Entscheidung noch dem Verfahren entnehmen. Die frühere Praxis im
Sozialhilferecht habe sich an den Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und
private Fürsorge eV (DV) orientiert. Diese stammten aber aus dem Jahr 1997 und seien
zwischenzeitlich nicht fortgeschrieben worden.
11 Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 17. November 2006 sowie das
Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 20. Dezember 2005 insoweit aufzuheben, als die
Klage abgewiesen und die Berufung zurückgewiesen wurde, und die Beklagte zu
verurteilen, unter Abänderung der Bescheide vom 29. November 2004 und vom 4. Januar
2005 in der Fassung des Bescheides vom 10. Februar 2005, dieser in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 27. April 2005 bzw 9. Mai 2005, des Bescheides vom 2. Mai
2005 sowie der Bescheide vom 25. Juni 2005, 28. November 2005 und 19. Dezember 2005
für die Zeit vom 1. Januar 2005 bis 30. Juni 2006 höheres Alg II unter Berücksichtigung einer
Regelleistung in Höhe von 627 EUR monatlich, eines Mehrbedarfs in Höhe von monatlich
65 EUR für kostenaufwendige Ernährung und Arzneimittel sowie Kosten der Unterkunft ohne
Abzüge von Kosten für die Warmwasser- und Stromversorgung zu zahlen.
12 Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
13 Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
14 Die zulässige Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung
begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes ). Es kann nach den
Feststellungen des LSG nicht beurteilt werden, ob dem Kläger höhere Ansprüche auf Alg II
zustehen. Das LSG hat zwar zu Recht entschieden, dass die Höhe der Regelleistung nach §
20 SGB II keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet. Ebenso hat das LSG
zutreffend angenommen, dass Kosten für Haushaltsenergie in Höhe von 20,74 EUR von den
KdU abzuziehen sind. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Erstattung von Kosten
für Arzneimittel. Es fehlt aber an hinreichenden Feststellungen dazu, ob und in welcher Höhe
ein Anspruch auf Leistungen für kostenaufwendige Ernährung nach § 21 Abs 5 SGB II
besteht.
15 1. Von Amts wegen zu berücksichtigende Verfahrensmängel stehen einer
Sachentscheidung nicht entgegen.
16 a) Streitgegenstand des Revisionsverfahrens sind die Bescheide der Beklagten vom 29.
November 2004 und vom 4. Januar 2005 in der Fassung des Bescheides vom 10. Februar
2005, dieser in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. April 2005 bzw 9. Mai
2005 sowie der Bescheid vom 2. Mai 2005 und damit die Zeit vom 1. Januar bis 30. Juni
2005. Nicht in das Verfahren einbezogen sind die während des Klageverfahrens
ergangenen Bescheide vom 25. Juni 2005, 28. November 2005 und 19. Dezember 2005 für
die Zeit ab dem 1. Juli 2005. Eine analoge Anwendung des § 96 SGG auf Bescheide, die
nachfolgende Bewilligungszeiträume betreffen, kommt im Rahmen des SGB II grundsätzlich
nicht in Betracht (BSGE 97, 242 = SozR 4-4200 § 20 Nr 1, jeweils RdNr 30). Besondere
Umstände, die ausnahmsweise eine Einbeziehung der Bewilligungsbescheide für
Folgezeiträume rechtfertigen würden, sind nicht ersichtlich. Die Bescheide sind auch nicht
im Wege der Klageerweiterung nach § 99 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden.
Insofern fehlt es bereits an den allgemeinen Prozessvoraussetzungen. Auch eine Klage
gegen Folgebescheide in Anwendung des § 99 Abs 1 SGG setzt grundsätzlich ein
Vorverfahren voraus (vgl BSGE 97, 242 = SozR 4-4200 § 20 Nr 1, jeweils RdNr 30; BSGE
91, 128 = SozR 4-2700 § 157 Nr 1, jeweils RdNr 8; BSGE 90, 143, 145 = SozR 3-2500 § 37
Nr 5 S 30). Eine Ausnahme von der Vorverfahrenspflicht kommt hier im Hinblick auf die
entgegenstehenden prozessökonomischen Gesichtspunkte (vgl BSGE 97, 242 = SozR 4-
4200 § 20 Nr 1, jeweils RdNr 30) nicht in Betracht. Die Beklagte wird zunächst in einem
Vorverfahren über diese Folgebescheide zu entscheiden haben. Der erforderliche
Widerspruch ist in der Einbeziehung dieser Bescheide in den Klageantrag zu sehen (vgl
Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl 2005, § 78 RdNr 3b mwN).
17 b) Die Leistungsansprüche des Klägers sind im Rahmen der erhobenen Anfechtungs- und
Verpflichtungsklage unter jedem rechtlichen Gesichtspunkt zu prüfen. Bei einem Streit um
höhere Leistungen nach dem SGB II sind grundsätzlich alle Anspruchsvoraussetzungen
dem Grunde und der Höhe nach zu prüfen (vgl BSG SozR 4-4300 § 428 Nr 3 RdNr 16 ff).
18 c) Keinen Bedenken begegnet, dass die angefochtenen Bescheide vom 29. November 2004
und 4. Januar 2005 noch von der Agentur für Arbeit erlassen worden sind und die Beklagte
erst im Widerspruchsverfahren die Bearbeitung übernommen hat. Die Zuständigkeit der
Beklagten ergibt sich aus § 44b Abs 3 Satz 3 SGB II. Dass die Agentur für Arbeit
möglicherweise für den Erlass des Ausgangsbescheides nach Konstituierung der Beklagten
nicht mehr zuständig war, ist unschädlich, weil die Beklagte als fachlich zuständige Behörde
den Widerspruchsbescheid erlassen hat (vgl § 41 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch) und der
Ausgangsbescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides den Gegenstand der Klage
bildet (vgl BSG SozR 4-4200 § 20 Nr 3 RdNr 18).
19 d) Die Beklagte als eine nach § 44b SGB II in der Fassung des Kommunalen
Optionsgesetzes vom 30. Juli 2004 (BGBl I 2014) gebildete Arbeitsgemeinschaft ist
beteiligtenfähig nach § 70 Nr 2 SGG (vgl BSGE 97, 217 = SozR 4-4200 § 22 Nr 1, jeweils
RdNr 30). § 44b SGB II ist ungeachtet seiner Verfassungswidrigkeit bis zum 31. Dezember
2010 weiterhin anwendbar (BVerfG, Urteil vom 20. Dezember 2007 - 2 BvR 2433/04 und 2
BvR 2434/04).
20 2. Nach den von den Beteiligten nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen Feststellungen des
LSG (§ 163 SGG) bestehen keine Zweifel, dass der Kläger im streitigen Zeitraum Anspruch
auf Alg II hat. Er erfüllt die Voraussetzungen des § 7 Abs 1 SGB II. Er hat das 15. Lebensjahr
vollendet, das 65. jedoch noch nicht, ist erwerbsfähig und hat seinen gewöhnlichen
Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Zudem liegt Hilfebedürftigkeit iS des § 9 Abs
1 SGB II vor. Diesen Tatbestand erfüllt, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht
ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, vor allem nicht 1. durch Aufnahme einer
zumutbaren Arbeit, 2. aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern
kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von
Trägern anderer Sozialleistungen erhält.
21 a) Der Kläger hat keinen Anspruch auf eine höhere Regelleistung nach § 20 SGB II. Die
Beklagte hat die Regelleistung des Klägers in den angefochtenen Bescheiden zutreffend
nach § 20 Abs 2 SGB II (hier idF des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am
Arbeitsmarkt vom 24. Dezember 2003, BGBl I 2954) auf 345 EUR festgesetzt.
22 Die Höhe der Regelleistung begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Es wird
insoweit auf die Ausführungen des 11b. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) in seiner
Entscheidung vom 23. November 2006 (B 11b AS 1/06 R = SozR 4-4200 § 20 Nr 3) Bezug
genommen. Es besteht keine Veranlassung, von den dortigen rechtlichen Darlegungen
Abstand zu nehmen. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat durch Beschluss vom 7.
November 2007 (1 BvR 1840/07) eine Verfassungsbeschwerde, die - soweit ersichtlich - im
Wesentlichen von den gleichen Argumenten gegen die Verfassungsmäßigkeit der Höhe der
Regelleistung wie im vorliegenden Fall getragen war, nicht zur Entscheidung angenommen.
23 Auch die Wahl des Anpassungsfaktors ist nicht zu beanstanden. Der Senat hat in seiner
Entscheidung vom 27. Februar 2008 - B 14/7b AS 32/06 R - im Einzelnen dargelegt, dass
dem Gesetzgeber auch insoweit ein Gestaltungsspielraum eingeräumt ist, der durch die
Wahl des Anpassungsmechanismus nicht überschritten ist.
24 b) Auf Grund der Feststellungen des LSG lässt sich nicht beurteilen, ob der Kläger Anspruch
auf höhere Leistungen nach § 21 Abs 5 SGB II hat. Danach erhalten erwerbsfähige
Hilfebedürftige, die aus medizinischen Gründen einer kostenaufwendigen Ernährung
bedürfen, einen Mehrbedarf in angemessener Höhe. Das Gesetz begründet damit beim
medizinischen Erfordernis kostenaufwendiger Ernährung einen Rechtsanspruch des
Hilfebedürftigen. Bei dem Begriff der "angemessenen Höhe" des Mehrbedarfs handelt es
sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, dessen Ausfüllung in vollem Umfang der
rechtlichen Überprüfung durch das Gericht unterliegt (so auch Behrend in jurisPK, SGB II, 2.
Aufl 2007, § 21 RdNr 42; Lang/Knickrehm in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl 2008, § 21
RdNr 57). Es kann nach den Feststellungen des LSG nicht abschließend entschieden
werden, ob und in welchem Umfang eine kostenaufwendige Ernährung durch die dem
Kläger bescheinigten Erkrankungen indiziert ist. Die Beklagte hat allerdings einen solchen
Mehrbedarf anerkannt und sich im Grundsatz rechtsfehlerfrei an den Empfehlungen des DV
für die Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe (im Folgenden:
Empfehlungen) orientiert.
25 Nach dem Willen des Gesetzgebers können zur Konkretisierung der Angemessenheit des
Mehrbedarfs die hierzu vom DV entwickelten und an typisierbaren Fallgestaltungen
ausgerichteten Empfehlungen herangezogen werden (BT-Drucks 15/1516 S 57). Dies
entspricht der generellen Anknüpfung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts
nach dem SGB II an das Referenzsystem der Sozialhilfe (vgl BT-Drucks 15/1516 S 46, 56).
In der Praxis und Rechtsprechung zur früheren Parallelvorschrift des § 23 Abs 4 BSHG
fanden die Empfehlungen des DV allgemein Anwendung (vgl OVG Niedersachsen,
Beschluss vom 13. Oktober 2003 - 12 LA 385/03 - FEVS 55, 359; OVG NRW, Urteil vom 20.
Juni 2000 - 22 A 285/98 - DVBl 2001, 580 = ZFSH/SGB 2001, 602; VGH Hessen, Beschluss
vom 27. Juni 1991 - 9 TG 1258/91 - FEVS 42, 265 = info also 1991, 200; Adolph in
Linhart/Adolph, SGB II, SGB XII, Asylbewerberleistungsgesetz, Stand Januar 2008, § 30
SGB XII RdNr 14; Schellhorn/Jirasek/Seipp, BSHG, 15. Aufl 1997, § 23 RdNr 34; Wenzel in
Fichtner, BSHG, 1999, § 23 RdNr 23). Bei der Erstellung der "Empfehlungen für die
Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe" des DV haben Wissenschaftler aus
medizinischen und ernährungswissenschaftlichen Fachbereichen zusammengearbeitet, die
medizinisch notwendigen Ernährungsformen bei verschiedenen Krankheiten festgestellt und
die Kostenunterschiede zur "Normalernährung" ermittelt (Empfehlungen, 2. Aufl 1997, S 6).
Die Pauschalbeträge für die krankheitsbedingten Mehrbedarfe wurden mit Hilfe der
Deutschen Gesellschaft für Ernährung auf der Basis eines Schemas der Deutschen
Gesellschaft für Ernährungsmedizin entwickelt (Empfehlungen aaO S 10). Die
Empfehlungen wurden erstmals 1974 und 1997 in überarbeiteter Form herausgegeben.
26 Bei den Empfehlungen handelt es sich nicht um Rechtsnormen. Eine solche Qualifikation ist
bereits deshalb ausgeschlossen, weil die Empfehlungen von einem privatrechtlichen Verein
formuliert worden sind. Eine Rechtsgrundlage für ihre Erstellung und Anwendung findet sich
nicht, so dass es an jedweder demokratischen Legitimation fehlt. Sie sind derzeit auch nicht
als antizipierte Sachverständigengutachten anzusehen, sondern entsprechend ihrer
Bezeichnung lediglich als allgemeine Empfehlungen, die geeignet sind, als Grundlage für
eine gleichmäßige und kontinuierliche Praxis und Rechtsprechung zu dienen. Zwar kann der
Umstand, dass in der Gesetzesbegründung auf die Empfehlungen verwiesen wird, als Indiz
für eine Bewertung als allgemeine Erfahrungssätze im Sinne eines antizipierten
Sachverständigengutachtens gewertet werden (vgl LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 27.
Juni 2007 - L 2 AS 731/07; Behrend in jurisPK, SGB II, 2. Aufl 2007, § 21 RdNr 46;
Lang/Knickrehm aaO § 21 RdNr 52; Münder in LPK-SGB II, 2. Aufl 2007, § 21 RdNr 28).
Auch beruhen sie auf zu verschiedenen Sachgebieten eingeholten medizinischen,
ernährungswissenschaftlichen und statistischen Gutachten und genießen grundsätzlich
allgemeine Anerkennung (vgl zu diesen Anforderungen an antizipierte
Sachverständigengutachten BSG SozR 3-2200 § 581 Nr 8).
27 Es kann aber derzeit nicht mehr davon ausgegangen werden, dass die Empfehlungen in
allen Punkten allgemeine und im wesentlichen unumstrittene aktuelle Erfahrungswerte
wiedergeben. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Empfehlungen aus dem Jahr 1997
datieren, sich auf Gutachten aus den Jahren 1991 bis 1996 stützen und die inzwischen
eingetretenen Entwicklungen bislang nicht durch eine Aktualisierung nachvollzogen wurden.
Im "Begutachtungsleitfaden für den Mehrbedarf bei krankheitsbedingter kostenaufwändiger
Ernährung (Krankenkostzulage) gemäß § 23 Abs 4 BSHG" des Landschaftsverbandes
Westfalen-Lippe aus dem Jahr 2002, der von einer Arbeitsgruppe aus Ärztinnen und Ärzten
aus Gesundheitsämtern in vier Bundesländern erstellt wurde, wird kritisiert, dass die
Empfehlungen in einigen Punkten nicht mehr dem Stand der Wissenschaft entsprächen und
manche Erkenntnisse nicht folgerichtig umgesetzt seien. Dementsprechend finden sich in
diesem Leitfaden zum Teil von den Empfehlungen abweichende Bewertungen. Das gilt auch
für das "Rationalisierungsschema 2004" des Bundesverbandes Deutscher
Ernährungsmediziner (Aktuel Ernaehr Med 2004, 245, 247 f). Angesichts des ebenfalls auf
medizinischer Sachkunde beruhenden alternativen Bewertungsschemas des
Begutachtungsleitfadens kann auch nicht mehr, wie etwa bei den als antizipierte
Sachverständigengutachten anzusehenden "Anhaltspunkten" für die Festsetzung des
Grades der Behinderung (vgl dazu BSGE 91, 205 = SozR 4-3250 § 69 Nr 2, jeweils RdNr 14
sowie Knickrehm, SGb 2008, 220, 224 ff), davon ausgegangen werden, dass ein anderes,
ebenso geeignetes Beurteilungssystem wie die Empfehlungen nicht vorhanden ist, zumal
die neueren Bewertungssysteme in der Rechtsprechung bereits verschiedentlich
Anerkennung erfahren haben (vgl etwa Schleswig-Holsteinisches LSG, FEVS 57, 412 ff;
LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 10. Januar 2008 - L 9 AS 605/07 ER).
28 Die Empfehlungen können somit derzeit zwar im Regelfall noch als Orientierungshilfe
dienen. Sie entbinden aber nicht von der Ermittlungspflicht im Einzelfall, sobald
Besonderheiten, insbesondere von den Empfehlungen abweichende Bedarfe geltend
gemacht werden. Dabei kann es zum einen auf Grund der konkreten Umstände des
Einzelfalls gerechtfertigt sein, das Erfordernis der Krankenkostzulage auch für eine
Erkrankung zu bejahen, die im Katalog der Empfehlungen nicht vorgesehen ist. Es kann sich
zum anderen aber auch für eine der genannten oder damit gleichzusetzenden Erkrankung im
Einzelfall ein höherer oder niedrigerer Mehrbedarf als in den Empfehlungen vorgesehen
ergeben. Ebenfalls nicht ausgeschlossen ist - entgegen weit verbreiteter Praxis (vgl
Hinweise der BA 21.30 zu § 21 SGB II), dass Bedarfe für mehrere, eine kostenaufwendige
Ernährung bedingende Erkrankungen kumulativ in Ansatz gebracht werden. Maßgeblich ist
stets der Betrag, mit dem der medizinisch begründete, tatsächliche Kostenaufwand für eine
Ernährung ausgeglichen werden kann, die von der Regelleistung nicht gedeckt ist
(Lang/Knickrehm aaO § 21 RdNr 56, 57). Er ist im Einzelfall im Wege der Amtsermittlung
durch Einholung medizinischer und/oder ernährungswissenschaftlicher Stellungnahmen
oder Gutachten zu klären.
29 Das LSG wird dementsprechend noch zu ermitteln haben, ob der Kläger ausgehend von
diesen Grundsätzen Anspruch auf eine höhere Leistung nach § 21 SGB II hat. Die von der
Hausärztin bescheinigten Erkrankungen "Achalasie, Dysphagie" sind in den Empfehlungen
des DV nicht ausdrücklich aufgeführt. Ob und in welchem Umfang sie eine besondere
Kostform erfordern, ist vom LSG nicht festgestellt. Zwar hat die Beklagte im Hinblick auf die
ärztliche Verordnung von Vollkost eine Gleichstellung mit den ausdrücklich in den
Empfehlungen aufgeführten Krankheitsbildern angenommen und einen Mehrbedarf bewilligt.
Das Verbot der reformatio in peius schließt eine Minderung dieses bewilligten Mehrbedarfs
im streitigen Zeitraum aus. Nicht ausgeschlossen ist aber, dass die genannten Erkrankungen
bei dem Kläger einen höheren als den bewilligten Mehrbedarf begründen.
30 Allerdings ist der von der Beklagten für die "Vollkost" zu Grunde gelegte Betrag in Höhe von
25,56 EUR unzutreffend berechnet. Die in den Empfehlungen aus dem Jahr 1997
ausgewiesenen DM-Beträge sind in Euro umzurechnen und bis zum Zeitpunkt des
Inkrafttretens des SGB II fortzuschreiben. Für die "Vollkost", die in den Empfehlungen eine
Krankenkost bezeichnet, durch die der qualitative Mehrbedarf bei einer Reihe von
Erkrankungen gedeckt werden kann (Empfehlungen aaO S 25), ist eine Zulage in Höhe von
50 DM vorgesehen (Empfehlungen aaO S 36). Umgerechnet in Euro ergibt dies den Betrag
in Höhe von 25,56 EUR (50 : 1,95583). In dieser Höhe sind dem Kläger Leistungen bewilligt
worden. Der DV empfiehlt, die Höhe der Krankenkostzulagen jährlich zum 1. Juli
entsprechend der prozentualen Veränderung der Regelsätze fortzuschreiben (Empfehlungen
aaO S 16). Bei einer Steigerung des Eckregelsatzes im Zeitraum von 1998 bis zum 1. Januar
2005 um 7,1 % (vgl BR-Drucks 206/04 S 11 ff) ergibt sich für die Vollkost ein Betrag in Höhe
von 27,37 EUR. Das LSG wird noch festzustellen haben, ob, soweit bei dem Kläger dem
Grunde nach das Erfordernis einer Krankenkostzulage besteht, besondere Umstände ein
Abweichen von den Pauschalbeträgen der Empfehlungen zu seinen Gunsten gebieten.
31 c) Einen Mehrbedarf für Arzneimittel, wie der Kläger ihn geltend macht, sieht § 21 SGB II
nicht vor. Der nach § 5 Abs 1 Nr 2 Buchst a Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V)
pflichtversicherte Kläger hat einen Anspruch auf Versorgung mit notwendigen Arzneimitteln
gegen seine Krankenkasse nach § 27 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB V. Das LSG hat zutreffend
ausgeführt, dass die Kosten für medizinisch nicht notwendige Arzneimittel von der
Regelleistung gedeckt sind.
32 d) Dem Kläger stehen keine höheren KdU nach § 22 Abs 1 SGB II zu. Danach werden
Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht,
soweit sie angemessen sind. Als KdU hat die Beklagte einen Betrag in Höhe von 261,54
EUR berücksichtigt, weil sie von der Pauschalmiete in Höhe von 280,84 EUR 20,74 EUR für
die in der Miete enthaltenen Kosten für Haushaltsenergie abgezogen hat. Dieser Abzug ist
der Höhe nach gerechtfertigt. Der Senat verweist insoweit auf die Ausführungen im Urteil
vom 27. Februar 2008 - B 14/11b AS 15/07 R. Da die Pauschalmiete des Klägers sämtliche
Stromkosten umfasste, konnte der für Haushaltsenergie anzusetzende Betrag insgesamt
abgezogen werden.
33 Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.