Urteil des BSG vom 27.10.2009
BSG: rente, erwerbstätigkeit, unfallversicherung, erwerbsfähigkeit, begriff, erwerbsunfähigkeit, arbeitsunfall, anwendungsbereich, arbeitslosigkeit, unfallfolgen
Bundessozialgericht
Urteil vom 27.10.2009
Sozialgericht Düsseldorf S 16 U 130/02
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen L 17 U 264/05
Bundessozialgericht B 2 U 30/08 R
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 2. Juli 2008 wird
zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe:
I
1
Der Kläger begehrt von der beklagten Berufsgenossenschaft (BG) eine höhere Verletztenrente.
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Der im Jahr 1953 geborene, als selbstständiger Handelsvertreter bei der beklagten BG versicherte Kläger erlitt am 30.
September 1996 einen Arbeitsunfall mit einer Verletzung der rechten Schulter. Ab dem 2. November 1996 war er
wieder arbeitsfähig. Bei Beschwerdeprogredienz begab er sich Ende April 1997 erneut in ärztliche, Arbeitsunfähigkeit
bedingende Behandlung, wurde mehrfach an der rechten Schulter operiert und wegen ständiger Schulterschmerzen
und Konzentrationsschwäche nervenärztlich behandelt. Nachdem die Beklagte zum 1. November 2000 die Zahlung
von Verletztengeld eingestellt hatte, bewilligte sie dem Kläger wegen des Versicherungsfalles ab 2. November 2000
Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 60 vH. Als Unfallfolgen erkannte sie ua an:
Funktionseinschränkung und chronisches Schmerzsyndrom der rechten Schulter, Verschmächtigung der rechten
Oberarmmuskulatur, chronische Kopfschmerzen sowie mittelschwere depressive Episoden (Bescheid vom 7. Juni
2001).
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Das Begehren des Klägers, der keine Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung erhält, vom 13. Juni 2001
seine Verletztenrente nach § 57 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII) zu
erhöhen, lehnte die Beklagte ab, weil er noch in der Lage sei, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen (Bescheid vom 10.
Dezember 2001, Widerspruchsbescheid vom 24. Juni 2002).
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Das Sozialgericht Düsseldorf (SG) hat die Beklagte verurteilt, die Rente des Klägers um 10 vH zu erhöhen, weil dieser
voll erwerbsgemindert im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung (§ 43 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch -
Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI)) sei, da ihm lediglich vier Stunden tägliche Arbeitszeit zumutbar seien
(Urteil vom 8. November 2005). Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG) hat das Urteil des SG
aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 2. Juli 2008). Zur Begründung hat das LSG im Wesentlichen
ausgeführt: Der Kläger habe ab dem 2. November 2000 Anspruch auf eine Verletztenrente nach einer MdE von 60 vH
und keinen Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Die weitere Voraussetzung des
"Erhöhungsanspruchs" nach § 57 SGB VII, dass der Versicherte infolge des Versicherungsfalles einer
Erwerbstätigkeit nicht mehr nachgehen könne, sei jedoch nicht erfüllt. Diese Voraussetzung sei erst erfüllt, wenn der
Versicherte überhaupt keiner Erwerbstätigkeit mehr nachgehen könne, und nicht gleichbedeutend mit dem Begriff der
"vollen Erwerbsminderung" iS des § 43 Abs 2 SGB VI. Denn eine solche könne wegen der Verschlossenheit des
Teilzeitarbeitsmarktes bei einem Restleistungsvermögen von mehr als drei aber weniger als sechs Stunden
arbeitstäglich vorliegen, woraus folge, dass trotz möglicher Erwerbstätigkeit eine volle Erwerbsminderung im Sinne der
gesetzlichen Rentenversicherung angenommen werde. Zudem habe keine der gehörten Sachverständigen das
Restleistungsvermögen des Klägers mit weniger als drei Stunden arbeitstäglich bewertet.
5
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts und macht geltend:
Aufgrund des in § 57 SGB VII hergestellten Zusammenhangs mit der gesetzlichen Rentenversicherung sei es nicht
nachvollziehbar, warum der Begriff Erwerbsfähigkeit in § 57 SGB VII enger interpretiert werden solle als in der
gesetzlichen Rentenversicherung, in der nach dem Willen des Gesetzgebers die konkrete Betrachtungsweise habe
beibehalten werden sollen. Dies stehe auch im Widerspruch zu der in § 57 SGB VII aufgestellten MdE-Schwelle von -
nur - 50 vH. Bei bestimmten Unfallfolgen, die mit einer MdE von 50 vH zu bewerten seien, sei sicherlich kein
Leistungsbild von unter drei Stunden arbeitstäglich zu begründen und selbst Querschnittsgelähmte mit einer MdE von
100 vH seien nach den Maßstäben der gesetzlichen Rentenversicherung keineswegs ohne Weiteres erwerbsunfähig
bzw voll erwerbsgemindert. Die Interpretation des § 57 SGB VII durch das LSG lasse diesen weitgehend leerlaufen.
Dies sei mit dem Zweck der Vorschrift unvereinbar, dem Geschädigten einen wirtschaftlichen Ausgleich für die
fehlende Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung zu gewähren.
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Der Kläger beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 2. Juli 2008 aufzuheben und die
Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 8. November 2005 zurückzuweisen.
7
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
II
8
Die Revision des Klägers ist unbegründet. Das LSG hat zurecht auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG
aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die materiell-rechtlichen Voraussetzungen des § 57 SGB VII für eine höhere
Verletztenrente des Klägers sind nicht erfüllt.
9
Der mit "Erhöhung der Rente bei Schwerverletzten" überschriebene § 57 SGB VII lautet: "Können Versicherte mit
Anspruch auf eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 50 vH oder mehr oder auf mehrere Renten,
deren Vomhundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 50 erreichen (Schwerverletzte), infolge des
Versicherungsfalles einer Erwerbstätigkeit nicht mehr nachgehen und haben sie keinen Anspruch auf Rente aus der
gesetzlichen Rentenversicherung, erhöht sich die Rente um 10 vH."
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Diese Voraussetzungen sind nach den von den Beteiligten nicht gerügten und damit für den Senat bindenden (§ 163
Sozialgerichtsgesetz (SGG)) tatsächlichen Feststellungen des LSG insofern erfüllt, als der Kläger aufgrund eines
Arbeitsunfalls Anspruch auf eine Verletztenrente nach einer MdE von mehr als 50 vH und keinen Anspruch auf eine
Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung hat.
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Die weitere Voraussetzung "infolge des Versicherungsfalls einer Erwerbstätigkeit nicht mehr nachgehen können" ist
jedoch, wie das LSG zurecht entschieden hat, entgegen dem Revisionsvorbringen des Klägers nicht erfüllt.
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Diese Voraussetzung entspricht - abgesehen von der hier nicht relevanten Ersetzung des Wortes "Arbeitsunfall" durch
das Wort "Versicherungsfall" - wortwörtlich der für die frühere Schwerverletztenzulage in der Vorläufervorschrift in §
582 Reichsversicherungsordnung (RVO). Zu dieser Vorschrift hat der 8. Senat des BSG (BSG vom 26. Juli 1973 - 8/2
RU 10/70 - BSGE 36, 96 = SozR Nr 1 zu § 582 RVO) unter Verweis auf ein Urteil des erkennenden Senats zu § 587
RVO (BSG vom 27. August 1969 - 2 RU 195/66, BSGE 30, 64 = SozR Nr 5 zu § 587 RVO), der dem heutigen § 58
SGB VII "Erhöhung der Rente bei Arbeitslosigkeit" entspricht, ausgeführt: § 582 RVO setze ua voraus, dass der
Versicherte infolge des Arbeitsunfalls auf Dauer einer Erwerbstätigkeit nicht mehr nachgehen könne. Denn nur bei -
voraussichtlich - dauernder Unfähigkeit des Versicherten, erwerbstätig zu sein, wenn sein Erwerbsleben beendet sei,
solle § 582 RVO einen Ausgleich für die fehlende Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung schaffen, während
§ 587 RVO beim Vorliegen seiner Voraussetzungen einen Ausgleich bei nur vorübergehenden Fehlens von
Arbeitseinkommen bewirken solle. Zur Begründung hat der 8. Senat zudem auf den schriftlichen Bericht des
Bundestagsausschusses für Sozialpolitik verwiesen, aufgrund dessen Beratungen § 582 RVO erst in das Gesetz
aufgenommen wurde. In diesem Bericht ist ausgeführt: "Auch Schwerverletzte gehen vielfach wieder einer
Erwerbstätigkeit nach und bedürfen dann keiner höheren Entschädigung, als sie § 581 vorsieht. Anders liegen die
Verhältnisse, wenn infolge des Unfalls keine Erwerbstätigkeit mehr ausgeübt werden kann. Gehört der Verletzte der
Rentenversicherung an, wird er von dort die Erwerbsunfähigkeitsrente erhalten. Hat er keinen Anspruch auf diese
Rente, etwa weil er bereits vor dem Eintritt in die Rentenversicherung verunglückt ist oder ihr als Selbstständiger nicht
angehört hat, schafft die hier beschlossene Vorschrift einen gewissen Ausgleich" (BT-Drucks IV/938 [neu] S 13 zu §
581a; vgl zu dessen Wortlaut S 58 der Drucksache; in diesem Sinne auch die Entscheidung des Senats vom 13. Juni
1989 - 2 RU 49/88 - RdNr 19).
13
Im Gesetzgebungsverfahren zur Einordnung der gesetzlichen Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch ist § 57
SGB VII nicht weiter erörtert worden. In der Gesetzesbegründung wird nur ausgeführt: "Die Vorschrift regelt
entsprechend dem geltenden Recht (§ 582 RVO) die Fälle, in denen für Schwerverletzte der Rentenbetrag um 10 vH
zu erhöhen ist. Sie definiert im Übrigen den Begriff des Schwerverletzten entsprechend dem geltenden Recht (§ 583
Abs 1 RVO)" (BT-Drucks 13/2204 S 90 zu § 57; vgl im Übrigen BT-Drucks 13/2333, 13/4853). Die Literatur zu § 57
SGB VII hat im Wesentlichen an dieser engen Begriffsbestimmung festgehalten (vgl Burchardt in
Becker/Burchardt/Krasney/Kruschinsky, Gesetzliche Unfallversicherung, SGB VII - Kommentar, Stand April 2009, §
57 RdNr 13; Mehrtens in Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand Juni 2009, § 57 SGB VII
RdNr 5).
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Von diesen anhand der wortgleichen Vorläufervorschrift in § 582 RVO entwickelten Grundlagen ist auch bei der
Auslegung des heutigen § 57 SGB VII auszugehen. Hätte der Gesetzgeber auf die Erwerbsunfähigkeit oder heute auf
die Erwerbsminderung im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung abstellen wollen, hätte er dies durch einen
schlichten Verweis auf die entsprechenden Vorschriften des SGB VI bewirken können. Dies hat er jedoch nicht getan.
Von daher muss der Wendung "einer Erwerbstätigkeit nicht mehr nachgehen zu können" eine eigenständige
Bedeutung zugeordnet werden, zumal die Regelung gerade auf solche Personen abzielt, die nicht in der gesetzlichen
Rentenversicherung versichert sind und keine Ansprüche auf eine Rente aus ihr haben, wie dies typischerweise bei
vielen Selbstständigen wie dem Kläger der Fall ist.
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Angesichts dessen kann auf die Regelungen über die Erwerbsunfähigkeit bzw heute Erwerbsminderung in der
Gesetzlichen Rentenversicherung (§ 43 SGB VI), insbesondere auch auf die Rechtsprechung zur Verschlossenheit
des Teilzeitarbeitsmarktes, nicht abgestellt werden. Vielmehr zeigen die Vorschriften über den Hinzuverdienst in der
gesetzlichen Rentenversicherung (vgl § 96a SGB VI), dass eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nach
dem SGB VI nicht erfordert, dass der Versicherte "einer Erwerbstätigkeit nicht mehr nachgehen kann".
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Hierfür sprechen zudem systematische Gründe in Abgrenzung der hier umstrittenen Erhöhung der Rente bei
Schwerverletzten nach § 57 SGB VII mangels Erwerbsfähigkeit zu der ebenfalls möglichen Erhöhung der Rente bei
Arbeitslosigkeit nach § 58 SGB VII. Denn wer im Gegensatz zu der Definition der vollen Erwerbsminderung in der
gesetzlichen Rentenversicherung nach § 43 Abs 2 Satz 2 SGB VI (außerstande, mindestens drei Stunden täglich
erwerbstätig zu sein) in der Lage ist, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter den üblichen Bedingungen mindestens
drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein, ist in der Grundsicherung für Arbeitsuchende erwerbsfähig (§ 8 Zweites
Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende). Er ist auch "verfügbar" im Sinne des
Arbeitsförderungsrechts für die Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit (§ 119 Abs 5 Drittes Buch
Sozialgesetzbuch - Arbeitsförderung: mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigung).
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Entgegen dem Revisionsvorbringen verbleibt bei dieser Auslegung, wie das LSG mit dem Verweis auf psychische
Erkrankungen mit einer MdE von 50 bis 70 vH und den damit gegebenenfalls einhergehenden erheblichen sozialen
Anpassungsstörungen aufgezeigt hat, sehr wohl einen Anwendungsbereich für den § 57 SGB VII ab einer MdE von 50
vH. Dass der Anwendungsbereich des § 57 SGB VII begrenzt ist, folgt schon aus dem bei vielen Versicherten in der
gesetzlichen Unfallversicherung gleichzeitig vorliegenden Versicherungsschutz in der gesetzlichen
Rentenversicherung sowie der geringen Anzahl von Schwerverletzten in der gesetzlichen Unfallversicherung
überhaupt.
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Dass der Kläger ein Restleistungsvermögen von wenigstens drei Stunden täglich hat, folgt aus den Feststellungen
des LSG, das ausgeführt hat, keiner der gehörten Sachverständigen habe das Restleistungsvermögen des Klägers
mit weniger als drei Stunden Arbeit täglich bewertet. Insofern hat der Kläger keine Verfahrensrügen erhoben.
Dahingestellt lassen hat das LSG zu Recht nur die Beurteilung, ob der Kläger nach den Kriterien der gesetzlichen
Rentenversicherung noch einer Erwerbstätigkeit nachgehen könne und welche der gesundheitlichen Einschränkungen
unfallbedingt seien.
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Angesichts eines Restleistungsvermögens des Klägers von wenigstens drei Stunden täglich kann dahingestellt
bleiben, ob eine Erhöhung nach § 57 SGB VII den Ausschluss jeglicher Erwerbstätigkeit voraussetzt (in diesem Sinne
wohl Kranig in Hauck/Noftz, SGB VII, Stand April 2009, § 57 RdNr 7).
20
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.