Urteil des BSG vom 08.02.2000

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Bundessozialgericht
Urteil vom 08.02.2000
Sozialgericht Hamburg
Landessozialgericht Hamburg
Bundessozialgericht B 1 KR 13/99 R
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 24. November 1998 wird
zurückgewiesen. Die Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe:
I
Der 1953 geborene Kläger ist Portugiese. Er heuerte am 26. Dezember 1986 im Hafen von Leixoes in Portugal als
Deckshelfer auf dem der beigeladenen Reederei gehörenden, unter deutscher Flagge fahrenden Küstenmotorschiff "B.
" für eine am selben Tag bevorstehende Überfahrt nach England an. Das Schiff wurde am Nachmittag des 26.
Dezember 1986 von der Mannschaft unter Mitwirkung des Klägers beladen und ging noch in der Nacht in See.
Während der Überfahrt fiel der Kläger dem Kapitän und den anderen Besatzungsmitgliedern durch ein verwirrtes
Verhalten auf. Er habe sich zumeist auf der Brücke aufgehalten und dies damit begründet, daß in seiner Kabine
Hunde und Katzen seien und er das Maschinengeräusch nicht ertragen könne. Zeitweise habe er halluziniert und
gezittert, als ob er Fieber habe, und man habe ihn mehrfach beruhigen müssen. Ob und in welchem Umfang er trotz
dieses Zustandes im Verlauf der fünf Tage dauernden Überfahrt in der Kombüse und an Deck gearbeitet hat, ist nicht
aufklärbar gewesen. Beim Anlegen und Festmachen des MS "B. " im Hafen von Teignmouth in England am 30.
Dezember 1986 stürzte der Kläger unter nicht geklärten Umständen vom Schiff auf die Kaianlagen. Er erlitt eine
Fraktur der Halswirbelsäule und ist seither querschnittsgelähmt. Ob ihm wegen des Ereignisses vom 30. Dezember
1986 Ansprüche aus der gesetzlichen Unfallversicherung zustehen, ist noch nicht abschließend entschieden; der
Prozeß darüber ist beim Landessozialgericht (LSG) in der Berufungsinstanz anhängig.
Die beklagte Seekasse - See-Krankenkasse - lehnte mit Bescheiden vom 17. Februar 1987 und 1. Dezember 1989 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. April 1991 Leistungen der Krankenhilfe ab, weil es sich bei der
Tätigkeit des Klägers auf der MS "B. " um einen mißglückten Arbeitsversuch gehandelt habe, der nicht als
versicherungspflichtige Beschäftigung gewertet werden könne. Das dagegen angerufene Sozialgericht (SG) hat die
Bescheide aufgehoben und festgestellt, daß der Kläger ab 26. Dezember 1986 bei der beigeladenen Reederei in einem
sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis gestanden habe (Urteil vom 6. Oktober 1992). Die Berufung
der Beklagten hat das LSG zurückgewiesen (Urteil vom 24. November 1998). Es hat ausgeführt, der Kläger habe nach
der Anmusterung am 26. Dezember 1986 seine Tätigkeit unstreitig aufgenommen und beim Beladen des Schiffes
mitgearbeitet. Die Beweiserhebung habe keinen Anhalt dafür ergeben, daß er von vornherein zu der übernommenen
Arbeit aus gesundheitlichen Gründen nicht imstande gewesen sei. Damit sei ein versicherungspflichtiges
Beschäftigungsverhältnis zustande gekommen. Die von der Beklagten zur Begründung ihres gegenteiligen
Standpunkts herangezogene Rechtsprechung zum mißglückten Arbeitsversuch habe das Bundessozialgericht (BSG)
zwischenzeitlich aufgegeben. Die dazu ergangenen Entscheidungen bezögen sich zwar ausdrücklich nur auf die
Rechtslage seit Inkrafttreten des Fünften Buchs Sozialgesetzbuch (SGB V) am 1. Januar 1989. Für die Zeit davor
könne jedoch nichts anderes gelten.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte die Verletzung materiellen und formellen Rechts. Das
Rechtsinstitut des mißglückten Arbeitsversuchs behalte angesichts unterschiedlicher rechtlicher Rahmenbedingungen
in der Zeit vor und nach 1989 für die Vergangenheit seine Berechtigung. Das BSG habe daran deshalb auch trotz der
in der Literatur geäußerten Bedenken für die Geltungsdauer der Reichsversicherungsordnung (RVO) stets festgehalten
und lediglich eine restriktive Handhabung gefordert. Bei Zugrundelegung der danach maßgebenden Kriterien sei eine
versicherungspflichtige Beschäftigung zu verneinen. Insbesondere stehe rückschauend fest, daß der Kläger schon bei
Aufnahme seiner Tätigkeit am 26. Dezember 1986 arbeitsunfähig gewesen sei. Die gegenteilige Annahme des LSG
sei mit dem Gesamtergebnis des Verfahrens nicht vereinbar und überschreite die Grenzen freier Beweiswürdigung.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Hamburg vom 24. November 1998 und des Sozialgerichts Hamburg vom 6.
Oktober 1992 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beigeladenen haben keine Anträge gestellt und sich nicht zur Sache geäußert.
II
Die Revision der Beklagten bleibt ohne Erfolg.
Gegen die Zulässigkeit der vom Kläger erhobenen kombinierten Anfechtungs- und Feststellungsklage sind
durchgreifende Bedenken nicht zu erheben. Der auch im sozialgerichtlichen Verfahren zu beachtende Grundsatz der
Subsidiarität der Feststellungsklage steht ihr nicht entgegen. Zwar sind mit den angefochtenen Bescheiden
Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung abgelehnt worden. Der Kläger hat deshalb sein Ziel ursprünglich
auch mit einer Anfechtungs- und Leistungsklage verfolgt und ist erst später - offenbar auf Anregung des SG - auf eine
Feststellungsklage übergegangen. Dieses Vorgehen ist hier aber schon deshalb nicht zu beanstanden, weil die
Bescheide genaugenommen nicht über konkrete Leistungen der Krankenhilfe, sondern allgemein über die Frage der
Leistungspflicht der Beklagten aufgrund eines durch die Tätigkeit des Klägers auf der MS "B. " begründeten
Versicherungsverhältnisses entschieden und damit ihrerseits letztlich feststellenden Charakter haben. Bei dieser
Konstellation ist die Feststellungsklage auch deshalb zulässig, weil sie im Vergleich zur Aufhebungs- und
Leistungsklage eine umfassendere Klärung des streitigen Rechtsverhältnisses, insbesondere auch im Hinblick auf
noch nicht konkret geltend gemachte Ansprüche ermöglicht (vgl zu diesem Aspekt: BSGE 57, 184, 186 = SozR 2200
§ 385 Nr 10 S 40; BSGE 59, 266, 267 = SozR 2200 § 182a Nr 7 S 22 f; Bley in: SGB-SozVers-Gesamtkommentar,
Stand: 1994, § 55 SGG Anm 6c). Unschädlich ist schließlich, daß der Kläger zuletzt nicht mehr die Leistungspflicht
der Beklagten, sondern nur noch das Bestehen der Versicherungspflicht als für den Leistungsanspruch vorgreifliches
Rechtsverhältnis zum Gegenstand seines Feststellungsbegehrens gemacht hat. Auch die Feststellung eines für das
umfassende Rechtsverhältnis vorgreiflichen anderen Rechtsverhältnisses, ja sogar eines bloßen Elements dieses
Rechtsverhältnisses ist vom BSG ausnahmsweise als zulässig angesehen worden, wenn zu erwarten war, daß
dadurch der Streit der Beteiligten im Ganzen bereinigt wird, was auch hier angenommen werden kann (BSGE 31, 235,
239 f = SozR Nr 14 zu § 141 SGG Bl Da 8; BSGE 48, 238, 240 = SozR 2200 § 250 Nr 5 S 21). Ob dieser
Rechtsprechung vorbehaltlos zu folgen ist, läßt der Senat offen; ihre Aufgabe wäre jedenfalls im vorliegenden Fall
nicht sachgerecht, nachdem die Vorinstanzen sie ihrer prozessualen Beurteilung zugrunde gelegt haben und eine
Zurückverweisung der Sache die Erledigung des seit dreizehn Jahren schwebenden Verfahrens nochmals verzögern
würde.
Auch in der Sache selbst verletzt das angefochtene Urteil kein Bundesrecht. Auf der Grundlage der vom
Berufungsgericht getroffenen tatsächlichen Feststellungen, die der Senat mangels zulässiger und begründeter
Verfahrensrügen seiner Entscheidung zugrunde zu legen hat, begegnet die Feststellung, der Kläger habe ab dem 26.
Dezember 1986 bei der beigeladenen Reederei in einem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis gestanden,
keinen rechtlichen Bedenken.
In der Krankenversicherung versicherungspflichtig waren nach den hier noch maßgebenden Bestimmungen der RVO
ua Besatzungsmitglieder deutscher Seefahrzeuge, die wie der Kläger als Arbeiter ("Schiffsmann") gegen Entgelt
beschäftigt wurden (§ 165 Abs 1 Nr 1 und Abs 2, § 477 Nr 1 RVO iVm § 6 Seemannsgesetz). Für die Begründung der
Versicherungspflicht war weiter erforderlich, daß der Arbeitnehmer in die Beschäftigung eintrat. Erst mit dem Tag des
Eintritts in die Beschäftigung, dh im Regelfall mit der Aufnahme der Arbeit, begann die Mitgliedschaft bei der
Krankenkasse (§ 306 Abs 1 RVO). Nach diesen Kriterien hat im vorliegenden Fall ein versicherungspflichtiges
Beschäftigungsverhältnis vorgelegen, denn der Kläger hatte nach dem Anheuern am Nachmittag des 26. Dezember
1986 unstreitig seine Arbeit aufgenommen und das Schiff bis zum Abend desselben Tages zusammen mit den
anderen Besatzungsmitgliedern beladen. Ob er auch nach dem Ablegen auf See noch wirtschaftlich verwertbare
Arbeit geleistet hat, ist unerheblich, da das einmal begründete Beschäftigungsverhältnis jedenfalls bis zu dem
Unfallereignis am 30. Dezember 1986 fortbestanden hat.
Der Versicherungsschutz entfällt entgegen der Ansicht der Beklagten nicht deshalb, weil die Tätigkeit des Klägers als
mißglückter Arbeitsversuch zu werten wäre. Mit diesem Begriff hat das BSG in der Vergangenheit Fallgestaltungen
gekennzeichnet, bei denen bereits im Zeitpunkt der Arbeitsaufnahme objektiv feststand, daß der Beschäftigte seine
Tätigkeit wegen einer Erkrankung nicht oder nur bei schwerwiegender Gefährdung seiner Gesundheit werde verrichten
können und bei denen er die Arbeit entsprechend der darauf gegründeten Erwartung tatsächlich vor Ablauf einer
wirtschaftlich ins Gewicht fallenden Zeit wieder aufgegeben hatte. Um eine mißbräuchliche Inanspruchnahme des
Krankenversicherungsschutzes zu verhindern und das Versicherungsprinzip zu wahren, wurde angenommen, daß in
einem solchen Fall trotz Vorliegens eines wirksamen Arbeitsvertrages und tatsächlich geleisteter Arbeit keine
Versicherungspflicht in der Krankenversicherung eintrete (BSGE 72, 221, 222 ff = SozR 3-2200 § 165 Nr 10 S 20 ff
mwN). Die erwähnte Rechtsprechung haben sowohl der 12. Senat des BSG für das Beitragsrecht als auch der
erkennende Senat für das Leistungsrecht der Krankenversicherung inzwischen aufgegeben, weil sie im Gesetz keine
ausreichende Grundlage hat (Urteil des 12. Senats vom 4. Dezember 1997 - BSGE 81, 231 = SozR 3-2500 § 5 Nr 37;
Urteil des 1. Senats des BSG vom 29. September 1998 - SozR 3-2500 § 5 Nr 40). Beide Senate haben die Aussage,
daß die Rechtsfigur des mißglückten Arbeitsversuchs nicht mehr anzuwenden sei, allerdings auf den Rechtszustand
seit Inkrafttreten des SGB V beschränkt, weil nur hierüber zu befinden war. Ob dasselbe auch für die zurückliegende
Zeit zu gelten hat oder ob für den Geltungszeitraum der RVO die frühere Rechtslage maßgebend bleibt, ist offen
geblieben. Die Frage bedarf auch im jetzigen Rechtsstreit keiner Klärung, weil im Fall des Klägers ein mißglückter
Arbeitsversuch zu verneinen ist und somit auch nach den Kriterien der früheren Rechtsprechung ein
versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis vorgelegen hat.
Das LSG hat den Aussagen der im Verwaltungsverfahren und im Parallelprozeß gegen den Unfallversicherungsträger
gehörten Besatzungsmitglieder entnommen, es gebe keine Anhaltspunkte dafür, daß der Kläger zu den übertragenen
Arbeiten von vornherein aus körperlichen oder seelischen Gründen nicht in der Lage gewesen sei. Für eine Epilepsie
oder eine Geisteskrankheit hätten sich ebensowenig Belege gefunden wie für eine vom beratenden Nervenarzt der
Beklagten vermutete halluzinatorische Psychose unter Alkohol- oder Drogenentzug. Näher liege es, daß der Kläger
sich an Bord eine hoch fieberhafte Erkrankung der Atemwege zugezogen habe, zumal wenige Tage später im Hospital
in England eine schwere, lebensbedrohliche Bronchopneumonie diagnostiziert worden sei. Nach diesen Feststellungen
ist nicht bewiesen, daß der Kläger bereits im Zeitpunkt des Eintritts in die Beschäftigung am 26. Dezember 1986
arbeitsunfähig war. Damit fehlt die wesentliche Voraussetzung für die Annahme eines mißglückten Arbeitsversuchs.
Die Beweislosigkeit geht zu Lasten der Beklagten, denn sie beruft sich auf einen Sachverhalt, der den
Versicherungsschutz trotz Vorliegens der gesetzlichen Voraussetzungen ausnahmsweise ausschließen soll.
Die erwähnten Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts sind für den Senat gemäß § 163 Sozialgerichtsgesetz
(SGG) bindend und deshalb der revisionsgerichtlichen Prüfung und Entscheidung zugrunde zu legen. Die gegen sie
erhobenen verfahrensrechtlichen Einwände greifen nicht durch. Die Beklagte beanstandet im wesentlichen die
Beweiswürdigung des LSG, insbesondere was die Annahme betrifft, der Kläger sei bei Aufnahme seiner Tätigkeit
noch arbeitsfähig gewesen und erst später während der Überfahrt erkrankt. Diese Bewertung sei mit dem
Gesamtergebnis des Verfahrens nicht zu vereinbaren und widerspreche den eigenen Feststellungen des
Berufungsgerichts. Eine Lungenentzündung von lebensbedrohlichem Ausmaß, wie sie nach dem Unfall im
Krankenhaus in Teignmouth festgestellt und vom LSG als möglicher Grund für das auffällige Verhalten des Klägers an
Bord in Erwägung gezogen worden sei, könne sich nicht innerhalb weniger Tage entwickeln, sondern müsse schon bei
der Anmusterung bestanden haben. Diese Argumentation läßt außer acht, daß das Gericht nach § 128 Abs 1 Satz 1
SGG über den Rechtsstreit nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung
entscheidet. Die Rüge einer unrichtigen oder nicht erschöpfenden Beweiswürdigung bezeichnet keinen
Verfahrensmangel, sondern einen Mangel in der Urteilsfindung. Sie ist deshalb grundsätzlich unbeachtlich, es sei
denn, es würde ein Verstoß gegen Denk- oder Erfahrungssätze und damit eine Überschreitung der gesetzlichen
Grenzen des Rechts auf freie Beweiswürdigung geltend gemacht. Letzteres ist nicht geschehen. Die Beklagte
übersieht, daß das LSG eine fiebrige Erkrankung lediglich als eine von mehreren möglichen Ursachen der
Verwirrtheitszustände des Klägers diskutiert und auf Grund der unauffälligen Arbeitsleistung beim Beladen des
Schiffes gemutmaßt hat, daß die Krankheit erst während der Überfahrt voll zum Ausbruch gekommen ist und
Arbeitsunfähigkeit verursacht hat. Daß dies eine medizinischen Erfahrungssätzen widersprechende Schlußfolgerung
sei, wird nicht begründet. Abgesehen davon ist ein früherer Beginn der Erkrankung im angefochtenen Urteil nicht
ausgeschlossen, sondern lediglich als nicht bewiesen angesehen worden. Inwiefern dies mit den festgestellten
Tatsachen und dem Gesamtergebnis des Verfahrens nicht in Einklang zu bringen sein sollte, ist der
Revisionsbegründung nicht zu entnehmen.
Die Revision der Beklagten erweist sich nach alledem als unbegründet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.