Urteil des BSG vom 22.07.2008
BSG (treu und glauben, anspruchsberechtigte person, bag, entstehung des anspruchs, einkommen aus erwerbstätigkeit, geburt, höhe, sgg, berechtigte person, im bewusstsein)
BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 25.6.2009, B 10 EG 3/08 R
Elterngeld - Bemessungsgrundlage - Einkommen - Lohnsteuerklassenwechsel -
Rechtsmissbrauch - Treu und Glauben
Leitsätze
Der vor der Geburt eines Kindes durch die anspruchsberechtigte Person veranlasste, das
monatliche Nettoeinkommen erhöhende Lohnsteuerklassenwechsel darf bei der Bestimmung
der Bemessungsgrundlage für das Elterngeld nicht unberücksichtigt bleiben; ihm kann der
Einwand des Rechtsmissbrauchs nicht entgegen gehalten werden.
Tatbestand
1 Die verheiratete Klägerin beansprucht von dem beklagten Freistaat höheres Elterngeld.
2 Sie war - als Beamtin - lohnsteuerpflichtig beschäftigt und veranlasste im Jahr 2006 den
Wechsel der Lohnsteuerklasse von V auf III. Von Dezember 2006 bis Juli 2007 wurden die
monatlichen Steuern nach der Steuerklasse III einbehalten. Am 10.7.2007 gebar sie das
Kind M.
3 Auf entsprechenden Antrag der Klägerin bewilligte der Beklagte mit Bescheid vom 20.9.2007
Elterngeld für den 3. Lebensmonat des Kindes in Höhe von 935,25 Euro und ab dem 4.
Lebensmonat in Höhe von 1.122,17 Euro monatlich. Der Berechnung legte er durchgängig
die Steuerklasse V zugrunde, berücksichtigte also den Lohnsteuerklassenwechsel nicht.
Den Widerspruch der Klägerin wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 28.2.2008
zurück. Der Steuerklassenwechsel sei ohne nachvollziehbare Gründe, allein um höheres
Elterngeld zu erhalten, erfolgt und daher rechtsmissbräuchlich gewesen.
4 Durch Urteil vom 22.7.2008 hat das Sozialgericht Augsburg (SG) den angefochtenen
Verwaltungsakt aufgehoben und den Beklagten verpflichtet, das Elterngeld unter
Berücksichtigung des Lohnsteuerklassenwechsels im Dezember 2006 neu zu berechnen
und zu verbescheiden. Zur Begründung hat das SG unter Darlegung der gesetzlichen
Voraussetzungen des § 2 Abs 1 und Abs 7 Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (BEEG)
ausgeführt: Das BEEG enthalte - anders als § 133 Abs 3 SGB III - hinsichtlich des -
vorherigen - Lohnsteuerklassenwechsels keinerlei Einschränkungen. Die vom Beklagten
insoweit herangezogenen Richtlinien des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend (BMFS) seien keine hinreichende Grundlage für die Nichtberücksichtigung des
Steuerklassenwechsels. Dieser verstoße auch nicht gegen Treu und Glauben bzw sei nicht
rechtsmissbräuchlich. Für diese Wertung maßgebend sei der Umstand, dass die Problematik
des vorherigen Lohnsteuerklassenwechsels im Gesetzgebungsverfahren diskutiert und als
unbedenklich bezeichnet worden sei. Zudem unterliege das Elterngeld dem sog
Progressionsvorbehalt. Es sei zwar selbst nicht steuerpflichtig, erhöhe aber den Steuersatz
des zu versteuernden Einkommens. Schließlich sei auch zu berücksichtigen, dass das
Elterngeld über (gemeint: aus) einem Zeitraum von zwölf Monaten vor der Geburt berechnet
werde, sodass sich der Steuerklassenwechsel niemals für den gesamten
Bemessungszeitraum auswirke. Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom
18.9.1991 - 5 AZR 581/90 - betreffe den nicht vergleichbaren Fall des Mutterschaftsgeldes,
das aufgrund des Einkommens der letzten drei Monate vor der Geburt berechnet werde und
bei dem sich daher ein Steuerklassenwechsel sofort und voll auswirke.
5 Mit seiner - vom SG zugelassenen - Revision rügt der Beklagte die Verletzung von
Bundesrecht. Der von der Klägerin vorgenommene Lohnsteuerklassenwechsel sei
rechtsmissbräuchlich, verstoße gegen den Grundsatz von Treu und Glauben und sei daher
bei der Berechnung des Elterngeldes nicht zu berücksichtigten. Nach Rechtsprechung des
Bundessozialgerichts (BSG) könne das Recht auf eine Sozialleistung nicht geltend gemacht
werden, wenn dies sozial unangemessen erscheine und der rechtsethischen Funktion des
Rechts widerspreche. Diese Voraussetzungen lägen hier vor. Der
Lohnsteuerklassenwechsel der Klägerin sei ohne sachlichen Grund allein zum Zwecke der
Erhöhung des Zahlbetrages vorgenommen worden. Zwar räume § 39 Abs 5 Satz 3
Einkommensteuergesetz (EStG) Ehegatten, die beide in einem Dienstverhältnis stehen, die
Möglichkeit ein, einmal im Kalenderjahr die bisher eingetragenen Steuerklassen in andere
mögliche Steuerklassen zu ändern. Das Vorhandensein dieser steuerrechtlichen
Gestaltungsmöglichkeit stehe indes ihrer Beurteilung als rechtsmissbräuchlich im Hinblick
auf den Bezug von Elterngeld nicht entgegen.
6 Sinn und Zweck der steuerrechtlichen Gestaltungsmöglichkeit sei es, die am Jahresende
festzusetzende Steuerschuld bereits im monatlichen Lohnsteuerabzugsverfahren möglichst
zutreffend vorweg zu nehmen. Der Lohnsteuerklassenwechsel diene steuerrechtlich
demnach allgemein dazu, die aktuelle Steuerbelastung möglichst nahe an der zu
erwartenden Jahressteuer zu halten. Der durch die Klägerin vorgenommene
Steuerklassenwechsel widerspreche dieser Zielsetzung, denn er führe zu einer deutlichen
Erhöhung der gemeinsamen monatlichen Lohnsteuerabzugsbeträge der Eheleute, die
jedoch am Jahresende durch eine Steuerrückzahlung ausgeglichen würden. Ein
steuerrechtliches Interesse der Eheleute, welches durch diese Vorgehensweise geschützt
werden solle, gebe es nicht. Das Interesse bestehe allein in der Erzielung eines höheren
Elterngeldes, sodass diese Handhabung trotz steuerrechtlicher Zulässigkeit nur als
rechtsmissbräuchlich und unbeachtlich angesehen werden könne.
7 Der Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und Glauben entfalle auch nicht dadurch, dass
das Elterngeld dem Progressionsvorbehalt nach § 32b Abs 1 Nr 1j EStG unterliege. Diesem
Vorbehalt unterfielen generell Leistungen mit Lohnersatzcharakter. Dadurch solle erreicht
werden, dass die progressive Besteuerung nach dem Jahresprinzip nicht unangemessen
ermäßigt werde, wenn der Steuerpflichtige anstelle von steuerpflichtigen Einnahmen
steuerfreie Ersatzleistungen erhalte. Durch den Progressionsvorbehalt werde erreicht, dass
der Grundsatz der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit nicht durch die
Steuerfreiheit bestimmter Bezüge beeinträchtigt werde. Die Einbeziehung des Elterngeldes
in den Progressionsvorbehalt spreche somit umgekehrt dafür, dass ein entsprechender
Steuerklassenwechsel rechtsmissbräuchlich sei.
8 Der von der Klägerin vorgenommene Steuerklassenwechsel stehe im Widerspruch zur
Zielsetzung des Elterngeldes und sei als sozial unangemessen zu bewerten. Nach der
Gesetzesbegründung helfe das Elterngeld Eltern, die sich im ersten Lebensjahr des
Neugeborenen vorrangig der Betreuung ihres Kindes widmeten, bei der Sicherung ihrer
Lebensgrundlage. Ziel des Gesetzes sei es, einen am individuellen Einkommen orientierten
Ausgleich für finanzielle Einschränkungen im ersten Lebensjahr des Kindes und eine
Unterstützung bei der Sicherung der Lebensgrundlage der Familie zu gewähren. Zu
berücksichtigen seien demnach die Verhältnisse, wie sie sich ohne Unterbrechung oder
Einschränkung der Erwerbstätigkeit dargestellt hätten. Vor diesem Hintergrund müsse es als
sozial verfehlt betrachtet werden, wenn durch gezielte und steuerrechtlich unsinnige
Lohnsteuerklassenwechsel im Jahr vor der Geburt das Erwerbseinkommen und damit auch
der Elterngeldanspruch der antragstellenden Person manipulativ erhöht werde.
9 Der Steuerklassenwechsel der Klägerin sei auch unter Berücksichtigung der
Rechtsprechung des BAG und des Bundesgerichtshofs (BGH) als rechtsmissbräuchlich zu
beurteilen. Nach dieser Rechtsprechung sei ein - steuerrechtlich möglicher -
Steuerklassenwechsel dann rechtsmissbräuchlich und unbeachtlich, wenn er nicht dem
Zweck der Steuerklassenkombination diene, sondern andere Rechtsbeziehungen gestalten
wolle. Dies habe der BGH für Fälle entschieden, in denen durch den Wechsel der
Steuerklasse der pfändbare Betrag beeinflusst bzw eine Aufhebung der Stundung nach der
Insolvenzordnung erreicht werden sollte. Das BAG habe dies für verschiedene auf
arbeitsrechtlicher Grundlage zu beurteilende Leistungen entschieden, zB für den Zuschuss
zum Mutterschaftsgeld und für die Überbrückungsbeihilfe.
10 Dem SG sei dahin zuzustimmen, dass sich die Unzulässigkeit oder Unbeachtlichkeit eines
Steuerklassenwechsels nicht unmittelbar aus dem BEEG ergebe und insbesondere in das
BEEG keine Regelung aufgenommen sei, wie sie beispielsweise in § 133 Abs 3 SGB III
enthalten sei. Eine derartige ausdrückliche Regelung innerhalb des BEEG sei jedoch auch
nicht erforderlich, denn die Berücksichtigung eines allein zur Erzielung eines höheren
Elterngeldes vorgenommenen Lohnsteuerklassenwechsels verbiete sich schon aufgrund
des auch im Sozialrecht geltenden Grundsatzes von Treu und Glauben. Soweit das SG
weiter ausgeführt habe, dass sich der Gesetzgeber im Bewusstsein der Problematik
steuerrechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten gegen eine ausdrückliche gesetzliche Regelung
im BEEG entschieden habe, sei dieser Argumentation schon im Hinblick auf die zur
Begründung herangezogenen Beratungsprotokolle zu widersprechen. Aus der vom SG
zitierten Aussage der Frau Dr. H. könne nicht gefolgert werden, dass der Gesetzgeber sich
bewusst gegen die Aufnahme einer den Lohnsteuerklassenwechsel einschränkenden
Regelung in das BEEG entschieden habe.
11 Die Klägerin könne sich auch nicht darauf berufen, dass in manchen Medien zu einem
entsprechenden Wechsel der Steuerklassen geraten worden sei. Jedenfalls habe eine
falsche Beratung durch den Beklagten nicht vorgelegen. Im Gegenteil hätten die
Verwaltungsbehörden und das BMFS darauf hingewiesen, dass ein Wechsel der
Lohnsteuerklasse, der allein der Erzielung eines höheren Elterngeldes diene, nicht
anerkannt werde. Schließlich sei noch auf eine Reihe weiterer Entscheidungen der SGe zur
Frage der Beachtlichkeit eines Lohnsteuerklassenwechsels zu verweisen. Wie das hier
entscheidende SG Augsburg habe auch das SG Dortmund geurteilt. Demgegenüber lägen
anderslautende Entscheidungen der SGe München, Regensburg, Bayreuth und Berlin vor.
12 Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 22. Juli 2008 aufzuheben und die Klage
abzuweisen.
13 Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
14 Sie schließt sich dem angefochtenen Urteil an und vertritt ergänzend die Auffassung, dass
die vom Beklagten zitierte Rechtsprechung des BAG und des BGH nicht herangezogen
werden könne. Diese Rechtsprechung sei im Zusammenhang mit der Benachteiligung
Dritter entstanden bzw im Zusammenhang mit beitragspflichtigen Leistungen. Sie sei daher
nicht anwendbar bei der Beurteilung von ausschließlich steuerfinanzierten Leistungen, die
sich durch den anzuwendenden Progressionsvorbehalt ggf ausgleichen könnten.
Entscheidungsgründe
15 Die Revision des Beklagten ist zulässig.
16 Nach § 161 Abs 1 SGG steht den Beteiligten die Revision unter Übergehung der
Berufungsinstanz zu, wenn der Gegner schriftlich zustimmt und wenn sie vom SG im Urteil
oder auf Antrag durch Beschluss zugelassen wird. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.
Das SG hat im Urteil vom 22.7.2008 die Revision zugelassen. Daran ist das BSG gebunden
(§ 161 Abs 2 Satz 2 SGG). Der Beklagte hat die Revision form- und fristgerecht unter
Beifügung der schriftlichen Zustimmungserklärung der Klägerin eingelegt (§ 161 Abs 1 Satz
3, § 164 Abs 1 SGG) .
17 Die Revision ist nicht begründet.
18 Allerdings ist der Urteilsausspruch des SG in der aus dem Urteilstenor des Senats
ersichtlichen Weise klarzustellen. Streitgegenstand ist nach der sich aus der
Klagebegründung ergebenden Interessenlage der Klägerin nicht die vollständige Aufhebung
der Elterngeldbewilligung dem Grunde und der Höhe nach. Vielmehr richtet sich die Klage
allein gegen die nach Auffassung der Klägerin zu niedrige Festsetzung des Zahlbetrages
des Elterngeldes durch den Beklagten. Diese gemäß § 54 Abs 1 SGG statthafte
Anfechtungsklage ist kombiniert mit einer auf die Gewährung eines höheren Elterngeldes
gerichteten Leistungsklage (§ 54 Abs 4 SGG) . Nur in diesem Umfang hat die Klägerin eine
Beschwer (§ 54 Abs 2 SGG) geltend gemacht. Bei sachdienlicher Fassung des
Klageantrages, auf den das SG gemäß § 106 Abs 1 SGG hätte hinwirken müssen, hätte das
SG in dem nunmehr vom erkennenden Senat formulierten Umfang zusprechen müssen. Die
vom SG ausgesprochene Verpflichtung zur Neuberechnung und zur Bescheidung geht
ersichtlich davon aus, dass der Beklagte das höher festgestellte Elterngeld der Klägerin
auch auszahlt. Die nunmehr klargestellte Verurteilung zur Gewährung des Elterngeldes auf
anderer Berechnungsgrundlage geht daher inhaltlich nicht über den Urteilsausspruch des
SG hinaus. Da der Beklagte mit dem angefochtenen Bescheid den Anspruch der Klägerin
auf Elterngeld dem Grunde nach und bis zu der zuerkannten Höhe bewilligt hatte und er sich
mit der Revision nur gegen eine Verpflichtung zur Gewährung höheren Elterngeldes wendet,
entspricht es der insoweit übereinstimmenden Interessenlage der Beteiligten, den
erstinstanzlichen Ausspruch ohne eine formale teilweise Aufhebung des angefochtenen
Urteils klarzustellen.
19 Mit dieser Maßgabe hat das SG dem Klageanspruch zu Recht stattgegeben. Der Beklagte
war nicht berechtigt, den erfolgten Wechsel der Steuerklasse unberücksichtigt zu lassen.
20 Anspruch auf Elterngeld hat gemäß § 1 Abs 1 BEEG, wer einen Wohnsitz oder seinen
gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat, mit seinem Kind in einem Haushalt lebt, dieses
Kind selbst betreut und erzieht sowie keine oder keine volle Erwerbstätigkeit ausübt. Nach §
2 Abs 1 BEEG wird Elterngeld in Höhe von 67 % des in den zwölf Kalendermonaten vor dem
Monat der Geburt des Kindes durchschnittlich erzielten monatlichen Einkommens aus
Erwerbstätigkeit bis zu einem Höchstbetrag von 1.800 Euro monatlich für volle Monate
gezahlt, in denen die berechtigte Person kein Einkommen aus Erwerbstätigkeit erzielt. Nach
§ 2 Abs 7 Satz 1 BEEG ist als Einkommen (Abs 1) aus nichtselbstständiger Arbeit der um die
auf dieses Einkommen entfallenden Steuern und die Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung
in Höhe des gesetzlichen Anteils der beschäftigten Person einschließlich der Beiträge zur
Arbeitsförderung verminderte Überschuss der Einnahmen in Geld- oder Geldeswert über die
mit einem Pauschbetrag anzusetzenden Werbungskosten zu berücksichtigen.
21 Dass die Klägerin die Grundvoraussetzungen des § 1 Abs 1 BEEG im Anspruchszeitraum
21 Dass die Klägerin die Grundvoraussetzungen des § 1 Abs 1 BEEG im Anspruchszeitraum
erfüllt, haben sowohl der Beklagte als auch das SG angenommen. Zweifel hieran bestehen
nicht.
22 Die Klägerin hat Anspruch auf Elterngeld auf der Grundlage ihres Einkommens iS des § 2
Abs 1 BEEG, das sie in dem Bemessungszeitraum von zwölf Monaten vor dem Monat der
Geburt des Kindes, also vom 1.7.2006 bis 30.6.2007 erzielt hat. Für die Zeit ab 1.12.2006
ergab sich dieses Einkommen nach Abzug der auf der Grundlage der Steuerklasse III
monatlich anfallenden Steuern. Dementsprechend war der Beklagte nicht befugt, der
Berechnung des Bemessungseinkommens auch ab Dezember 2006 weiterhin die
Steuerklasse V zugrunde zu legen. Der vor der Geburt eines Kindes durch die
anspruchsberechtigte Person veranlasste, das monatliche Nettoeinkommen erhöhende
Lohnsteuerklassenwechsel darf bei der Bestimmung der Bemessungsgrundlage für das
Elterngeld nicht unberücksichtigt bleiben; ihm kann der Einwand des Rechtsmissbrauchs
nicht entgegengehalten werden.
23 § 2 Abs 7 Satz 1 BEEG ist vom Wortlaut her eindeutig bestimmt. Er stellt auf die "auf das
Einkommen entfallenden Steuern" ab und erfasst damit vom Wortsinn her die tatsächlich
entrichteten Steuern. Nach der Änderung der Steuerklasse wurden ab Dezember 2006 die
Monatssteuern auf das Gehalt der Klägerin nach der Steuerklasse III einbehalten und
abgeführt, sodass diese Steuerklasse maßgebend ist. Dieses Verständnis des § 2 Abs 7
Satz 1 BEEG wird bestätigt durch § 2 Abs 7 Satz 4 BEEG, wonach Grundlage der
Einkommensermittlung die entsprechenden "monatlichen Lohn- und
Gehaltsbescheinigungen des Arbeitgebers sind". Diese weisen nämlich nur die aufgrund der
tatsächlichen Lohnsteuerklasse berechneten Steuerabzüge aus. Die - vom Beklagten
vorgenommene - fiktive Berechnung der Steuerabzüge nach einer nicht (mehr)
eingetragenen Steuerklasse ist nach § 2 Abs 7 BEEG nicht erlaubt.
24 Der Vorschrift des § 2 Abs 7 Satz 1 BEEG lässt sich weder durch Auslegung noch durch
richterliche Rechtsfortbildung (vgl dazu näher BSG, Urteil vom 19.2.2009 - B 10 EG 2/08 R -
RdNr 19 und 20 mwN, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen) ein anderer
Regelungsgehalt entnehmen. Auch der Beklagte führt dies für seine Auffassung der
Rechtmäßigkeit der Nichtberücksichtigung des Steuerklassenwechsels nicht an. Er
begründet seine Rechtsauffassung vielmehr damit, dass der Steuerklassenwechsel in Bezug
auf die Leistung des Elterngeldes rechtsmissbräuchlich gewesen und daher unbeachtlich
sei. Dieser Auffassung ist indes nicht zu folgen. Ein Fall des Rechtsmissbrauchs liegt hier
nicht vor.
25 Die Rechtsfigur des Rechtsmissbrauchs hat, wie zB auch bei der Verwirkung einer
Forderung, zur Folge, dass der Berechtigte das ihm formal zustehende Recht nicht ausüben
darf. Sie ist eine Ausprägung des die gesamte Rechtsordnung beherrschenden, in § 242
BGB für das Verhalten des Schuldners im Rahmen zivilrechtlicher Schuldverhältnisse
geregelten Grundsatzes von Treu und Glauben. Dieser geht auf römisch-rechtliche Wurzeln
zurück (vgl Looschelders/Olzen in Staudinger, BGB <2005>, § 242 RdNr 7) und hat auch in
anderen Normen des BGB seinen Niederschlag gefunden. Er enthält einen allgemeinen
Rechtsgedanken mit umfassendem Anwendungsbereich. Rechtsgebiete, in denen er
generell ausgeschlossen wäre, gibt es nicht. Allgemeine Anwendungsvoraussetzung ist das
Bestehen einer rechtlichen Sonderbeziehung. Eine derartige Beziehung besteht
insbesondere bei Existenz eines vertraglichen oder gesetzlichen Schuldverhältnisses, das
nicht nur zivilrechtlicher, sondern auch öffentlich-rechtlicher Natur sein kann (s zum Ganzen
Mansel in Jauernig, BGB, 12. Aufl 2007, § 242 RdNr 10, 11 mwN) .
26 Rechtsmissbräuchliches Verhalten ist danach in allen Rechtsgebieten unzulässig.
Individueller Rechtsmissbrauch wird nach gebräuchlicher Definition angenommen, wenn der
Berechtigte kein schutzwürdiges Eigeninteresse verfolgt oder überwiegende schutzwürdige
Interessen der Gegenpartei entgegenstehen und die Rechtsausübung im Einzelfall zu einem
grob unbilligen und mit der Gerechtigkeit nicht mehr zu vereinbarenden Ergebnis führen
würde (Mansel in Jauernig, aaO, RdNr 37) .
27 Nach der Rechtsprechung des BSG ist daher ebenfalls anerkannt, dass ein Recht auf eine
Sozialleistung nicht geltend gemacht werden kann, wenn dies sozial unangemessen
geschieht und wenn es der rechtsethischen Funktion des Rechts widerspricht. Der
Gesichtspunkt des Rechtsmissbrauchs orientiert sich am Schutzbereich der Norm, wobei
grundsätzlich davon auszugehen ist, dass der Berechtigte den ihm zustehenden Anspruch
im gesetzlichen Rahmen mit legalen Mitteln ausschöpfen kann (BSG, Urteile vom 19.5.1978,
BSGE 46, 187, 189 = SozR 2200 § 315a Nr 7 S 17; vom 23.10.1985, BSGE 59, 40, 45 =
SozR 3800 § 1 Nr 5 S 16; vom 27.11.1986, BSGE 61, 54, 58 = SozR 2200 § 583 Nr 5 S 11;
vom 22.3.1995, BSGE 76, 67, 69 = SozR 3-4100 § 141k Nr 2 S 10; vom 13.8.1996, SozR 3-
2400 § 25 Nr 6 S 27) .
28 Der Schutzbereich der Norm, Sinn und Zweck des Rechts und damit auch seine
rechtsethische Funktion wird in erster Linie durch den Gesetzgeber selbst bestimmt. Bei
gesetzlich begründeten Ansprüchen auf Sozialleistungen (s § 31 SGB I) bleibt es also nicht
den rechtsethischen Anschauungen des Rechtsanwenders überlassen festzulegen, wann
ein Missbrauch vorliegt. Dabei kann sich der Schutzbereich einer Norm sowie ihr Sinn und
Zweck auch aus dem Fehlen einer - bestimmten - Regelung erschließen, sofern der
Gesetzgeber diese bewusst unterlässt. Ein Missbrauchseinwand kommt daher in erster Linie
dann in Betracht, wenn der Gesetzgeber rechtliche Gestaltungsmöglichkeiten übersehen hat,
die sich erst bei der späteren Anwendung des Gesetzes zeigen, und er diese nach seiner
sonstigen Zielsetzung mit Sicherheit unterbunden hätte. Hingegen können
Gestaltungsmöglichkeiten, die der Gesetzgeber den Bürgern "sehenden Auges" überlassen
hat, nicht im Nachhinein von den Rechtsanwendern aus Gründen einer angenommenen
"rechtsethischen Funktion des Rechts" begrenzt werden.
29 Bei wortgetreuer Anwendung des § 2 Abs 7 BEEG steht der Klägerin der Anspruch auf
Elterngeld auf der Grundlage des seit Dezember 2006 nach der Steuerklasse III
(pauschaliert) errechneten Nettoeinkommens zu. Das Gesetz knüpft an den tatsächlichen
Steuerabzug an. Die Klägerin hält sich somit in dem gesetzlich vorgegebenen Rahmen. Sie
hat die für sie günstige Rechtsposition zudem mit legalen Mitteln erlangt, denn der
Steuerklassenwechsel unter Ehegatten war ihr im Dezember 2006 nach § 39 Abs 5 Satz 3
EStG erlaubt, auch wenn er nicht dem Ziel gedient haben sollte, die von den Ehepartnern
monatlich zu entrichtenden Lohnsteuern auf das Kalenderjahr gesehen möglichst nah an die
Jahressteuerschuld heranzubringen. Anders als die auf den einzelnen Arbeitnehmer
bezogene Bestimmung des § 39 Abs 5 Satz 1 EStG, die eine Änderung der Steuerklasse nur
bei Eintritt der Voraussetzungen für eine "günstigere" Steuerklasse erlaubt, ist der Wechsel
der Steuerklasse unter Ehegatten nach § 39 Abs 5 Satz 3 EStG nicht an materielle
Voraussetzungen geknüpft und daher einmal im Kalenderjahr einschränkungslos erlaubt.
30 Selbst wenn danach die Klägerin und ihr Ehemann vorübergehend eine höhere monatliche
Steuerbelastung, die später wieder ausgeglichen worden ist, in Kauf genommen haben, um
der Klägerin ein höheres Elterngeld zu verschaffen, widerspricht dies nicht der
rechtsethischen Funktion des Rechts des BEEG und ist auch nicht als sozial unangemessen
zu beurteilen.
31 Den umfangreichen Darlegungen des Beklagten zur Frage des Rechtsmissbrauchs durch
die Klägerin ist schon deshalb nicht zu folgen, weil die gesetzgebenden Organe selbst die
Problematik eines Steuerklassenwechsels, der vor der - absehbaren - Geburt und damit vor
der Entstehung des Anspruchs auf Elterngeld erfolgt, bereits im Gesetzgebungsverfahren
des BEEG erkannt haben, eine dessen Berücksichtigung begrenzende Regelung indes
unterlassen haben. Das SG hat insoweit zutreffend darauf hingewiesen, dass die Frage des
Steuerklassenwechsels in den Beratungen des Deutschen Bundestages ausdrücklich
diskutiert worden ist (s Plenarprotokoll 16/55 der 55. Sitzung des Deutschen Bundestages
am 29.9.2006, S 5356 und 5357) . Auch das nach dem Koalitionsvertrag beabsichtigte
Unterbinden des vorherigen Steuerklassenwechsels mit Blick auf die Leistung des
Mutterschaftsgeldes ist ausdrücklich angesprochen worden (aaO, S 5357) . Schließlich ist
von einer Rednerin der Opposition in diesem Zusammenhang vorgeschlagen worden, die
Berechnung des Elterngeldes besser nach dem "Bruttolohnprinzip" vorzusehen (aaO, S
5357; s auch BT-Drucks 16/2785, S 36) . Dass ein derartiger Steuerklassenwechsel als
Rechtsmissbrauch angesehen würde, ist in den zugänglichen Gesetzesmaterialien
jedenfalls nicht zum Ausdruck gekommen.
32 Ungeachtet dieser problembezogenen Diskussion im Deutschen Bundestag ist dem
Sozialgesetzgeber ohnehin geläufig, dass sich ein Lohnsteuerklassenwechsel bei
Leistungen, die nach einem Nettoentgelt berechnet werden, auf das monatliche
Bemessungsentgelt und damit auf die Höhe der Sozialleistung auswirkt. So ist etwa im
Bereich des Rechts der Arbeitslosenversicherung der Einfluss der Steuerklasse und deren
Wechsel auf die Höhe des Anspruchs auf Arbeitslosengeld seit Jahrzehnten mit
unterschiedlichem Inhalt gesetzlich eindeutig geregelt. Nach der heute geltenden Vorschrift
des § 133 Abs 3 SGB III werden bei einem Lohnsteuerklassenwechsel unter Ehegatten die
neu eingetragenen Lohnsteuerklassen … nur berücksichtigt, wenn sie dem Verhältnis der
monatlichen Arbeitsentgelte beider Ehegatten entsprechen oder wenn sich auf Grund der
neu eingetragenen Lohnsteuerklassen ein Arbeitslosengeld ergibt, das geringer ist als das
Arbeitslosengeld, das sich ohne den Wechsel ergäbe.
33 Diese Umstände zwingen zu dem Schluss, das der Gesetzgeber des BEEG bewusst auf die
Aufnahme einer etwa dem § 133 Abs 3 SGB III gleichen oder ähnlichen Norm in das BEEG
verzichtet hat. Auch die Reform des BEEG durch das Erste Gesetz zur Änderung des BEEG
vom 17.1.2009 (BGBl I 61) hat der Gesetzgeber nicht zum Anlass genommen, einen den
Anspruch auf Elterngeld erhöhenden Steuerklassenwechsel vor der Geburt des Kindes zu
unterbinden oder dessen Berücksichtigung an bestimmte Voraussetzungen zu knüpfen.
Hierzu hätte indes besonderer Anlass bestanden, wenn die inzwischen durch zahlreiche
sozialgerichtliche Streitigkeiten offenbar gewordene Problematik im
Gesetzgebungsverfahren des BEEG nur versehentlich nicht geregelt worden wäre. Im
Gegenteil bekräftigt der Inhalt des Änderungsgesetzes die Annahme, dass der Gesetzgeber
den vorherigen Steuerklassenwechsel als mit den Zwecken des BEEG vereinbar ansieht.
34 Eine solche Haltung des Gesetzgebers erscheint wegen des schon vom SG erörterten
Bestehens des sog Progressionsvorbehalts nachvollziehbar. Wie der Beklagte zutreffend
dargelegt hat, gilt dieser in § 32b EStG geregelte steuerrechtliche Grundsatz nicht nur für das
Elterngeld, sondern für alle steuerfreien Entgeltersatzleistungen (§ 32b Abs 1 Nr 1 Buchst a
bis j EStG) . Die Leistung selbst unterliegt nicht der Steuerpflicht, wird indes als den
prozentualen Steuersatz des Ehepartners erhöhend berücksichtigt (besonderer Steuersatz
nach § 32b Abs 2 EStG) . Der Progressionsvorbehalt führt somit dazu, dass von dem
Einkommen des Ehepartners höhere Einkommensteuern erhoben werden. Demnach fließen
dem Staat, der das - erhöhte - Elterngeld zahlen muss, auch - erhöhte - Steuereinnahmen zu.
Überdies führen die nach dem entsprechenden Lohnsteuerklassenwechsel monatlich
insgesamt höheren Steuerabführungen der Ehepartner dazu, dass dem Staat bis zur
Feststellung der Jahressteuerschuld im Folgejahr zinslos Geldbeträge zur Verfügung gestellt
werden.
35 Der Beklagte kann sich demgegenüber auch nicht auf die von ihm angeführte und um eine
weitere Entscheidung des BAG zu vervollständigende Rechtsprechung des BGH und des
BAG berufen.
36 Die Rechtsprechung des BGH und des BAG hat den steuerrechtlich zulässigen
Steuerklassenwechsel als rechtsmissbräuchlich eingestuft, wenn er zur Beeinflussung
privater Rechtsverhältnisse vorgenommen worden ist. Sie kann für die Beurteilung des
vorliegenden Falles nicht ohne Weiteres übernommen werden, weil sie andere rechtliche
Zusammenhänge betrifft. Dementsprechend waren dort andere Schutzzwecke der
einschlägigen Normen relevant (vgl dazu BAG, Urteil vom 18.9.1991 - 5 AZR 581/90 - ) . Die
Urteile des BGH vom 4.10.2005 (VII ZB 26/05) sowie vom 3.7.2008 (IX ZB 65/07) und das
Urteil des BAG vom 23.4.2008 (10 AZR 168/07) betreffen Sachverhalte, in denen der
Steuerklassenwechsel zur Benachteiligung zivilrechtlicher Gläubiger vorgenommen worden
war. Das Urteil des BAG vom 18.8.2004 (5 AZR 518/03) betrifft einen arbeitsvertraglich
begründeten Anspruch auf Zuschuss zum Krankengeld. Die Urteile des BAG vom 9.9.2003
(9 AZR 554/02 und 9 AZR 605/02) betreffen durch Tarifvertrag begründete Ansprüche auf
einen Aufstockungsbetrag und eine Überbrückungsbeihilfe. Schließlich behandeln die vom
Beklagten besonders hervorgehobenen Urteile des BAG vom 22.10.1986 (5 AZR 733/85)
und 18.9.1991 (5 AZR 581/90) den auf § 14 Mutterschutzgesetz zurückgehenden Anspruch
auf Zuschuss zum Mutterschaftsgeld gegenüber dem Arbeitgeber der Mutter. Diese den
Arbeitgebern kraft Gesetzes auferlegte Zahlungspflicht bedarf zu ihrer Begründung stets
eines Arbeitsvertrages zwischen dem einzelnen Arbeitgeber und der betroffenen Mutter,
sodass es sich ebenfalls um einen privatrechtlich verankerten Zahlungsanspruch handelt.
37 Die Rechtsprechung des BGH und des BAG betrifft, auch wenn ihr nicht nur einzel- oder
gesamtvertragliche Ansprüche zugrunde liegen, sondern - wie bei gerichtlich bereits
rechtskräftig ausgeurteilten, titulierten Forderungen - auch die gesetzlichen Bestimmungen
über den Gläubigerschutz betroffen sind (BGH, Urteil vom 4.10.2005, aaO) , stets die
unmittelbare Benachteiligung privater Rechtssubjekte. Im vorliegenden Fall wird indes
unmittelbar der Staat begünstigt (höheres Steueraufkommen) und belastet (höhere
Elterngeldzahlungen). Die Rechtsprechung des BGH und des BAG kann daher entgegen
der Auffassung von Dau (SGb 2009, 261, 263) nicht als Beleg dafür dienen, dass hier der
Grundsatz von Treu und Glauben bzw des Rechtsmissbrauchs durchgreift.
38 Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.