Urteil des BSG vom 30.01.2013

BSG: Grundsicherung für Arbeitsuchende, Leistungsausschluss für Ausländer während der ersten drei Monate des Aufenthalts, keine Anwendbarkeit bei Nachzug zu einem deutschen Ehegatten

BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 30.1.2013, B 4 AS 37/12 R
Grundsicherung für Arbeitsuchende - Leistungsausschluss für Ausländer während der ersten
drei Monate des Aufenthalts - keine Anwendbarkeit bei Nachzug zu einem deutschen Ehegatten
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen
vom 12. Januar 2012 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten des
Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
1 Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger im Zeitraum vom 14.2.2010 bis zum
2.5.2010 Leistungen nach dem SGB II zustehen.
2 Der am 20.7.1983 geborene Kläger ist algerischer Staatsangehöriger. Am 13.7.2009
heiratete er in Algerien die am 9.10.1970 geborene deutsche Staatsangehörige Frau K
Nach Zustimmung der Ausländerbehörde der Stadt K zum Antrag auf Erteilung eines
Visums zwecks Familienzusammenführung reiste der Kläger am 14.2.2010 nach
Deutschland ein und wohnte im streitgegenständlichen Zeitraum bei Frau K Am 9.3.2010
erteilte die Ausländerbehörde dem Kläger eine Fiktionsbescheinigung mit der
Nebenbestimmung "Erwerbstätigkeit gestattet". Unter dem 19.4.2010 erhielt der Kläger
eine Aufenthaltserlaubnis mit den Zusätzen "Erwerbstätigkeit ist erlaubt" und
"Verpflichtung zur Teilnahme an einem Integrationskurs". Zum 3.5.2010 nahm der Kläger
eine Erwerbstätigkeit bei dem Unternehmen A & K P GmbH auf. Das aus dieser Tätigkeit
für den Monat Mai 2010 erzielte Arbeitsentgelt wurde dem Konto des Klägers am
20.6.2010 gutgeschrieben.
3 Mit Bescheid vom 1.2.2010 gewährte der Beklagte Frau K und ihrer am 4.2.2003
geborenen Tochter Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in
Höhe von 990,09 Euro für den Monat Februar 2010 und in Höhe von 981,09 Euro für die
Monate März bis einschließlich Juli 2010 unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs für
Alleinerziehende sowie Kosten der Unterkunft in Höhe von 492,09 Euro monatlich.
Angerechnet wurde Kindergeld in Höhe von 184 Euro monatlich.
4 Den Leistungsantrag des Klägers vom 14.2.2010 lehnte der Beklagte ab (Bescheid vom
23.4.2010). Der hiergegen am 4.5.2010 erhobene Widerspruch hatte keinen Erfolg
(Widerspruchsbescheid vom 29.7.2010). Gemäß § 7 Abs 1 S 2 Nr 1 SGB II sei der Kläger
für die ersten drei Monate seines Aufenthalts von Leistungen nach dem SGB II
ausgeschlossen, da er weder Arbeitnehmer noch Selbstständiger noch aufgrund des § 2
Abs 3 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt sei. Ein Aufenthaltsrecht aus völkerrechtlichen
Gründen entsprechend Kapitel 2 Abschnitt 5 des AufenthG habe nicht vorgelegen.
Eingriffe in Grundrechte könnten nicht berücksichtigt werden, da die Entscheidung über
den Leistungsausschluss nicht im Ermessen des Beklagten stehe.
5 Mit Änderungsbescheid vom 10.5.2010 bewilligte der Beklagte Frau K und ihrer Tochter
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit vom 1.2.2010 bis zum
13.2.2010 in Höhe von 425,08 Euro, für die Zeit vom 14.2.2010 bis zum 28.2.2010 in Höhe
von 407,28 Euro, für den Monat März in Höhe von 718,06 Euro, für April 2010 in Höhe von
755,74 Euro, für die Zeit vom 1.5.2010 bis 14.5.2010 in Höhe von 352,67 Euro. Ab dem
15.5.2010 bis zum 31.5.2010 gewährte der Beklagte der Bedarfsgemeinschaft - nun unter
Einschluss des Klägers - Leistungen in Höhe von 683,63 Euro, für die Zeit vom 1.6.2010
bis 8.6.2010 in Höhe von 336,42 Euro, für die Zeit vom 9.6.2010 bis 30.6.2010 in Höhe
von 554,22 Euro und für den Monat Juli 2010 in Höhe von 755,74 Euro. Den hiergegen am
18.5.2010 erhobenen Widerspruch wies der Beklagte mit der gleichen Begründung zurück
wie den Widerspruch gegen den Bescheid vom 23.4.2010 (Widerspruchsbescheid vom
30.7.2010).
6 Der gegen den Bescheid vom 23.4.2010 in der Fassung des Widerspruchsbescheides
vom 29.7.2010 erhobenen Klage, mit welcher der Kläger den neben dem Regelbedarf
geltend gemachten Anspruch auf Übernahme von Kosten der Unterkunft und Heizung auf
die Zeit ab dem 1.5.2010 beschränkte, gab das SG statt (Urteil vom 4.2.2011). Im
Berufungsverfahren haben die Beteiligten den Gegenstand des Verfahrens auf die
Leistungen für die Zeit vom 14.2.2010 bis 2.5.2010 beschränkt. Das LSG hat die Berufung
des Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 12.1.2012). Zur Begründung hat es ausgeführt,
dass dem Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts auch für die Zeit vom
14.2.2010 bis einschließlich 2.5.2010 zustünden. Der Leistungsausschluss des § 7 Abs 1
S 2 Nr 1 SGB II erfasse nicht die Situation, dass ein Ausländer als Ehegatte eines
deutschen Staatsangehörigen diesem nach Deutschland nachziehe. Bereits der Wortlaut
des § 7 Abs 1 S 2 Nr 1 SGB II ergebe keinen generellen Ausschluss von Ausländern
unabhängig von der Herleitung des Aufenthaltsrechts. Hätte der Gesetzgeber dieses
gewollt, hätte es keiner Differenzierung zwischen Ausländern und ihren
Familienangehörigen bedurft. Gegen einen Leistungsausschluss sprächen zudem
systematische wie teleologische Gründe. Denn ein Leistungsausschluss würde unter
Außerachtlassung der Wertentscheidung des Art 6 Abs 1 GG unberücksichtigt lassen,
dass die wirtschaftliche Grundlage des deutschen Ehepartners gefährdet würde. Die freie
Entscheidung der Ehepartner, gemeinsam in Deutschland zu leben, verdiene besonderen
staatlichen Schutz, falls einer der Ehepartner deutscher Staatsangehöriger sei. Dies
rechtfertige auch eine Einbeziehung in das Leistungssystem des SGB II. Auch die
Gesetzesbegründung spreche dafür, Fälle wie den vorliegenden nicht als vom
Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 S 2 Nr 1 SGB II umfasst anzusehen.
7 Mit seiner Revision rügt der Beklagte die Verletzung von Bundesrecht. Der
Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 S 2 Nr 1 SGB II greife unabhängig davon, ob man den
Wortlaut der Norm dahingehend auslege, dass der Kläger "Ausländer" oder
"Familienangehöriger" im Sinne der Norm sei. Die Vorschrift gelte auch für
Familienangehörige eines Deutschen. Dies ergebe sich aus der Gesetzesbegründung,
wonach der Leistungsausschluss "vor allem" für Unionsbürger gelte. Drittstaatsangehörige
seien hiervon nicht ausgenommen. Würden den gemeinschaftsrechtlich besonders
geschützten Unionsbürgern während der ersten drei Monate ihres Aufenthalts keine
Leistungen gewährt, müsse dies auch für Drittstaatsangehörige gelten. Das SGB II
normiere zudem keinen Anspruch aller Familienangehörigen auf Gewährung
familieneinheitlicher existenzsichernder Leistungen. Vielmehr nehme das Gesetz
unterschiedlich geartete Existenzsicherungsansprüche innerhalb einer Familie bewusst in
Kauf. Das Drittstaatsangehörigen erteilte Visum zur Familienzusammenführung sei
ebenso wenig von einem Nachweis der Lebensunterhaltssicherung abhängig wie das
Aufenthaltsrecht von Unionsbürgern während der ersten drei Monate ihres Aufenthalts.
Darüber hinaus seien die gesetzlichen Voraussetzungen eines Nachzugs zu deutschen
Familienangehörigen im AufenthG massiv verschärft worden. Insoweit sei der
Leistungsausschluss in § 7 Abs 1 S 2 Nr 1 SGB II eine konsequente Umsetzung der
Zugangsregulierung zum Sicherungssystem des SGB II. Die in § 7 Abs 1 S 3 SGB II
normierte Rückausnahme greife nicht zugunsten des Klägers, da es sich bei dem
Aufenthaltsrecht zwecks Familienzusammenführung nicht um einen Aufenthaltstitel
gemäß Kapitel 2 Abschnitt 5 des AufenthG handele. Der Wortlaut des § 7 Abs 1 S 2 Nr 1
SGB II sei insoweit eindeutig. Die Personengruppe der Familienangehörigen von
Deutschen sei mit der Gruppe aller sonstigen Ausländer ohne humanitäre
Aufenthaltsberechtigung gleichzustellen. Aus Art 6 Abs 1 GG folge kein gegenteiliges
Ergebnis, weil aus diesem Grundrecht kein uneingeschränkter Anspruch auf Leistungen
nach dem SGB II hergeleitet werden könne.
8 Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 12. Januar 2012 und das
Urteil des Sozialgerichts Köln vom 4. Februar 2011 aufzuheben und die Klage
abzuweisen.
9 Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
10 Er ist der Auffassung, dass sich der Wortlaut des § 7 Abs 1 S 2 Nr 1 SGB II nicht auf
Familienangehörige deutscher Staatsangehöriger beziehe.
Entscheidungsgründe
11 Die zulässige Revision des Beklagten ist unbegründet.
12 1. Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid des Beklagten vom 23.4.2010 in der
Fassung des Widerspruchsbescheides vom 29.7.2010, denn allein diesen hat der Kläger
zum Gegenstand des erstinstanzlichen Klageverfahrens gemacht. Nicht Gegenstand des
Verfahrens geworden ist dagegen der Bescheid des Beklagten vom 10.5.2010 in der
Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30.7.2010. Diesem Bescheid kommt
hinsichtlich der vom Kläger für den Zeitraum vom 14.2.2010 bis zum 2.5.2010 geltend
gemachten Ansprüche keine eigene Regelungswirkung zu, denn er wiederholt insoweit
lediglich den ablehnenden Bescheid des Beklagten vom 23.4.2010.
13 2. Dem Kläger stehen auch im Zeitraum vom 14.2.2010 bis zum 2.5.2010 Leistungen zur
Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu. Der Leistungsausschluss gemäß §
7 Abs 1 S 2 Nr 1 SGB II kommt nicht zum Tragen. Auch andere Leistungsausschlüsse sind
nicht erkennbar.
14 a) Der Kläger erfüllte im streitigen Zeitraum sämtliche Anspruchsvoraussetzungen nach §
7 Abs 1 S 1 SGB II (idF des Gesetzes zur Anpassung der Regelaltersgrenze an die
demografische Entwicklung und zur Stärkung der Finanzierungsgrundlagen der
gesetzlichen Rentenversicherung vom 20.4.2007, BGBl I 554). Er hatte
das 15. Lebensjahr vollendet und noch nicht die Altersgrenze gemäß § 7a SGB II erreicht
(§ 7 Abs 1 S 1 Nr 1 SGB II). Nach den bindenden Feststellungen des LSG war der Kläger
zudem hilfebedürftig iS des § 7 Abs 1 S 1 Nr 3 SGB II. Erwerbsfähigkeit nach § 7 Abs 1 S
1 Nr 2 SGB II iVm § 8 Abs 2 SGB II lag ebenso vor, denn der Kläger war im Besitz eines
Aufenthaltstitels zwecks Familienzusammenführung. Ein solcher berechtigt gemäß § 28
Abs 5 AufenthG zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit. Einem derartigen Aufenthaltstitel
kommt im Rahmen der Prüfung der Erwerbsfähigkeit Tatbestandswirkung zu, sodass eine
Prüfung der Voraussetzungen des Titels unterbleibt. Schließlich hatte der Kläger nach der
Einreise seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland (§ 7 Abs 1 S
1 Nr 4 SGB II). Das Gesetz knüpft insoweit an die Bestimmung des § 30 Abs 3 SGB I an,
wonach jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort hat, wo er sich unter Umständen
aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur
vorübergehend verweilt (zu dieser Voraussetzung auch BSG Urteil vom 23.5.2012 - B 14
AS 190/11 R, SozR 4-4200 § 36a Nr 2). Der Kläger erfüllt im streitgegenständlichen
Zeitraum diese Voraussetzungen, da er nach den objektiv erkennbaren Umständen aus
Algerien zu seiner Ehefrau nach Köln gezogen ist und sich dort angemeldet hat, um dort in
ehelicher Gemeinschaft zu leben und sich eine Arbeit zu suchen. Es kann hier weiter offen
bleiben, ob an den Begriff des "gewöhnlichen Aufenthalts" iS des § 7 Abs 1 S 1 Nr 4 SGB
II zusätzliche aufenthaltsrechtliche Anforderungen zu stellen sind (vgl aber Urteil des
Senats vom 30.1.2013 - B 4 AS 54/12 R; offen gelassen in BSG Urteil vom 25.1.2012 - B
14 AS 138/11 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 28 RdNr 17; BSG Urteil vom 19.10.2010 - B 14 AS
23/10 R - BSGE 107, 66 = SozR 4-4200 § 7 Nr 21 RdNr 13; anders noch BSG Urteil vom
16.5.2007 - B 11b AS 37/06 R - BSGE 98, 243 = SozR 4-4200 § 12 Nr 4 zur vorherigen
Fassung des § 7 Abs 1 S 2 SGB II). Denn der Kläger verfügte im streitigen Zeitraum über
einen gültigen Aufenthaltstitel nach § 28 AufenthG.
15 b) Der Kläger war im streitigen Zeitraum vom 14.2.2010 bis zum 2.5.2010 auch nicht nach
§ 7 Abs 1 S 2 SGB II (idF des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher
Richtlinien der Europäischen Union vom 19.8.2007, BGBl I 1970) von
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ausgeschlossen.
16 aa) Ein Leistungsausschluss folgt nicht aus § 7 Abs 1 S 2 Nr 1 SGB II. Danach sind vom
Leistungsbezug nach dem SGB II ausgenommen Ausländerinnen und Ausländer, die
weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder
Selbstständige noch aufgrund des § 2 Abs 3 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt sind,
und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts.
17 Der Kläger ist Ausländer im Sinne dieser Vorschrift. Ausländer ist gemäß § 2 Abs 1
AufenthG jeder, der nicht Deutscher iS des Art 116 Abs 1 GG ist. Dies trifft ohne Weiteres
auf den Kläger zu, da er im streitgegenständlichen Zeitraum nicht die deutsche Staats-
oder Volkszugehörigkeit besaß, sondern die Algeriens.
18 Die hier entscheidungserhebliche Frage, ob Personen, welche nicht die deutsche
Staatsangehörigkeit, sondern die eines Drittstaats besitzen und zu einem deutschen
Familienangehörigen - hier: einem Ehegatten - nachziehen, vom Leistungsausschluss
erfasst werden, wird in Rechtsprechung und Literatur unterschiedlich beantwortet (gegen
Anwendung des § 7 Abs 1 S 2 Nr 1 SGB II zB LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom
7.12.2009 - L 19 B 363/09 AS; LSG Niedersachsen-Bremen Urteil vom 15.3.2012 - L 6 AS
748/10; Bayerisches LSG Urteil vom 27.6.2012 - L 16 AS 449/11; Hessisches LSG
Beschluss vom 19.9.2012 - L 7 AS 30/12 B ER; SG Nürnberg Urteil vom 26.8.2009 - S 20
AS 906/09; Hackethal in jurisPK-SGB II, 3. Aufl 2012, § 7 RdNr 34; Spellbrink in
Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl 2008, § 7 RdNr 16; ähnlich S. Knickrehm in
Kreikebohm/Spellbrink/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 2. Aufl 2011, § 7 SGB II
RdNr 7; für Anwendung des Leistungsausschlusstatbestandes hingegen LSG Baden-
Württemberg Beschluss vom 27.4.2011 - L 3 AS 1411/11 ER-B; SG Duisburg Beschluss
vom 19.11.2009 - S 31 AS 414/09 ER; A. Loose in Hohm, GK-SGB II, § 7 RdNr 44
9/12>; Frings, Sozialrecht für Zuwanderer, 2008, RdNr 171).
19 Es kann hier offen bleiben, ob der Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 S 2 Nr 1 SGB II
bereits deswegen nicht zum Tragen kommt, weil der Kläger als Staatsangehöriger
Algeriens einen Anspruch auf Gleichbehandlung mit deutschen Staatsangehörigen
gemäß Art 68 Abs 1 UAbs 1 des Europa-Mittelmeer-Abkommens zwischen der
Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Demokratischen
Volksrepublik Algerien andererseits (ABl EU vom 10.10.2005 Nr L 265, 2) hat. Die
Nichtanwendbarkeit des Leistungsausschlusses gemäß § 7 Abs 1 S 2 Nr 1 SGB II folgt
unmittelbar aus der Auslegung innerstaatlichen Rechts.
20 Zwar ist der Wortlaut des § 7 Abs 1 S 2 Nr 1 SGB II insoweit nicht eindeutig. Als
"Familienangehöriger" ist der Kläger jedenfalls nicht vom Ausschlusstatbestand erfasst.
Zwar ist als Familienangehöriger im Sinne dieser Vorschrift - zur Auslegung ist § 3
FreizügG/EU heranzuziehen - auch ein Ehegatte anzusehen. Der Wortlaut des § 7 Abs 1
S 2 Nr 1 SGB II bezieht sich indes - worauf auch der Kläger zu Recht hinweist - lediglich
auf Familienangehörige der in diesem Ausschlusstatbestand zuvor genannten
Personengruppe der Ausländerinnen und Ausländer, die sich als Arbeitnehmerinnen,
Arbeitnehmer, Selbstständige oder nach § 2 Abs 3 FreizügG/EU im Bundesgebiet
aufhalten, worauf das Possessivpronomen "ihre" hinweist (so im Ergebnis zB auch
Thie/Schoch in Münder, SGB II, 4. Aufl 2012, § 7 RdNr 24; Adolph in Linhart/Adolph, SGB
II, § 7 RdNr 40b ). Dies trifft auf den Kläger nicht zu, da er
Familienangehöriger einer deutschen Staatsangehörigen ist.
21 Allenfalls als "Ausländer" könnte er bei Betrachtung allein seiner Person von der Norm
erfasst sein. Der Wortlaut der Bestimmung schließt unterschiedslos alle Ausländerinnen
und Ausländer von Leistungen nach dem SGB II aus, die nicht Arbeitnehmer,
Selbstständige oder nach § 2 Abs 3 FreizügG/EU Freizügigkeitsberechtigte sind,
unabhängig davon, ob es sich um Unionsbürger oder um Drittstaatsangehörige handelt.
Andererseits lässt der Wortlaut der Norm eine abweichende Auslegung zu, weil lediglich
"Ausländerinnen und Ausländer … und ihre Familienangehörigen" von der Norm erfasst
werden, sodass offenbleibt, ob die Familienangehörigen von Deutschen in den
Regelungsgehalt der Norm einbezogen werden. Dass dem Kläger Leistungen zur
Sicherung des Lebensunterhalts zu gewähren sind, ergibt sich jedoch aus dem der
Entstehungsgeschichte herzuleitenden Zweck und systematischen Erwägungen.
22 Mit Inkrafttreten des § 2 Abs 5 FreizügG/EU zum 28.8.2007 ist Unionsbürgern und ihren
Familienangehörigen das Recht eingeräumt worden, sich drei Monate ohne besonderes
Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland aufzuhalten. Diese Unionsbürger
waren von der vormaligen vom 1.4.2006 bis zum 27.8.2007 geltenden Fassung des § 7
Abs 1 S 2 SGB II nicht erfasst. Um diese Personengruppe ebenfalls zu erfassen, ist die
Vorschrift durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der
Europäischen Union vom 19.8.2007 (BGBl I 1970) neu gefasst worden. Ausweislich der
Gesetzesmaterialien (BT-Drucks 16/5065 S 234) soll der Leistungsausschluss des § 7
Abs 1 S 2 Nr 1 SGB II "vor allem Unionsbürger" betreffen. Dem Beklagten ist zuzugeben,
dass dieser Hinweis in den Gesetzesmaterialien den Schluss zu tragen scheint, dass
Drittstaatsangehörige, die einem deutschen Staatsangehörigen zwecks
Familienzusammenführung nachziehen, vom Leistungsausschluss erfasst sein könnten.
Die Gesetzesänderung war indes dem Umstand geschuldet, dass mit der Änderung im
SGB II die Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom
29.4.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im
Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (sog "Unionsbürger-
Richtlinie", ABl EU Nr L 158, berichtigt ABl EU Nr L 229, 35) umgesetzt und von der
Option des Art 24 Abs 2 RL 2004/38/EG Gebrauch gemacht werden sollte. In den
Gesetzesmaterialien wird explizit ausgeführt, dass der Leistungsausschluss dann nicht
Platz greifen soll, falls Unionsbürger einem deutschen Familienangehörigen nachziehen
(BT-Drucks 16/688 S 13). Auf die Personengruppe der Drittstaatsangehörigen und
insbesondere die Situation des Familiennachzugs eines Drittstaatsangehörigen zu einem
deutschen Staatsangehörigen gehen die Gesetzesmaterialien nicht ein. Zweck der
Gesetzesänderung war es vielmehr, einen denkbaren Leistungsanspruch von
Unionsbürgern auszuschließen, die sich drei Monate lang voraussetzungslos im
Bundesgebiet aufhalten dürfen (vgl BT-Drucks 16/5065 S 234). Hieran zeigt sich, dass der
Gesetzgeber lediglich auf die Neuordnung des Aufenthaltsrechts der Unionsbürger
reagieren wollte und nicht zugleich die Leistungsberechtigung anderer Ausländer über die
bisherige Regelung hinaus einschränken wollte.
23 Im Unterschied zu den Unionsbürgern können Drittstaatsangehörige regelmäßig nicht
voraussetzungslos in das Bundesgebiet einreisen. Die Einreise ist vielmehr davon
abhängig, dass eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Im Falle eines Familiennachzugs ist
gemäß §§ 6, 28 AufenthG Voraussetzung das Bestehen einer Ehe mit einem deutschen
Staatsangehörigen, dessen gewöhnlicher Aufenthalt im Bundesgebiet besteht. Während
Unionsbürgern die Einreise ohne eine vorherige Prüfung der Fähigkeit, den eigenen
Lebensunterhalt sichern zu können, ermöglicht ist, bedarf es bei der Erteilung eines
Visums für Drittstaatsangehörige - gemäß Art 1 iVm Anhang I VO (EG) Nr 539/2001 vom
15.3.2001 (ABl EG Nr L 81, 1) auch für Algerier - der Prüfung, ob die nach dem Gesetz
vorgesehenen Voraussetzungen vorliegen. Zwar gehört nach § 5 Abs 1 Nr 1 AufenthG zu
den allgemeinen Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels, dass der
Lebensunterhalt des Einreisenden gesichert ist. Das zwecks Familienzusammenführung
erteilte Visum soll jedoch bei Einreise eines Ehegatten eines Deutschen gemäß § 28 Abs
1 S 3 AufenthG abweichend hiervon erteilt werden. Dies hat zur Folge, dass es auf
ausreichenden Wohnraum und Unterhaltssicherung bei den Angehörigen Deutscher
grundsätzlich nicht ankommt (vgl Dienelt in Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl 2011, § 28
AufenthG RdNr 5). Nach den Gesetzesmaterialien (BT-Drucks 16/5065 S 171) soll die
Sicherung des Lebensunterhalts bei Ehegattennachzug zu deutschen Staatsangehörigen
nur bei Vorliegen besonderer Umstände zur Voraussetzung der Erteilung eines
Aufenthaltstitels gemacht werden. Dies ist etwa dann der Fall, wenn die Begründung der
ehelichen Lebensgemeinschaft im Ausland zumutbar ist, was insbesondere bei Personen
mit doppelter Staatsangehörigkeit in Bezug auf das Land in Betracht kommt, dessen
Staatsangehörigkeit neben der deutschen besessen wird oder falls der deutsche Ehegatte
geraume Zeit im Herkunftsland des Ehegatten gelebt und gearbeitet hat und die Sprache
dieses Landes spricht. Derartige Umstände hat das LSG allerdings nicht festgestellt.
24 Die Regelung des § 28 Abs 1 S 3 AufenthG entstammt - wie bereits ausgeführt -
demselben Gesetz wie die Änderung des § 7 Abs 1 S 2 SGB II. Hieraus wird - wie das SG
zutreffend erkannt hat - ersichtlich, dass der Gesetzgeber das fiskalische Interesse der
Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der Erteilung eines Aufenthaltstitels
berücksichtigen wollte und nicht durch die anlässlich der Umsetzung der EU-Richtlinien
erfolgte Änderung des § 7 Abs 1 S 2 SGB II die Rechtsposition von
Drittstaatsangehörigen, die im Rahmen des Familiennachzugs nach Deutschland
einreisen, ändern wollte. Eine abweichende Regelungsabsicht hätte der Gesetzgeber in
den Gesetzesmaterialien zu erkennen gegeben. Tatsächlich ist dies aber nicht
geschehen. Nicht ersichtlich ist, dass der Gesetzgeber diese Entscheidung im Rahmen
der Grundsicherung für Arbeitsuchende sich zu dieser aufenthaltsrechtlichen
Entscheidung in Widerspruch setzen wollte.
25 bb) Ein Leistungsausschluss ergibt sich auch nicht aus § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II. Gemäß
dieser Vorschrift sind vom Leistungsbezug ausgenommen Ausländer, deren
Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt (hierzu BSG Urteil vom
19.10.2010 - B 14 AS 23/10 R - BSGE 107, 66 = SozR 4-4200 § 7 Nr 21; BSG Urteil vom
25.1.2012 - B 14 AS 138/11 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 28; Urteil des Senats vom 30.1.2013 -
B 4 AS 54/12 R - zur Veröffentlichung vorgesehen). Dies ist hier jedoch bereits deswegen
nicht der Fall gewesen, da sich das Aufenthaltsrecht des Klägers aus dem
Familiennachzug ergab und damit nicht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche.
26 cc) Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts sind schließlich nicht gemäß § 7 Abs
1 S 2 Nr 3 SGB II ausgeschlossen, denn Anspruch auf Asylbewerberleistungen hatte der
Kläger im streitigen Zeitraum nicht.
27 Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.