Urteil des BSG vom 24.01.2018

Vertragsärztliche Versorgung - Berufsausübungsgemeinschaft - Aufbauphase - Zuordnung eines praxisbezogenen festen Regelleistungsvolumens - Honorarverteilungsgerechtigkeit

BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 24.1.2018, B 6 KA 2/17 R
ECLI:DE:BSG:2018:240118UB6KA217R0
Vertragsärztliche Versorgung -
Berufsausübungsgemeinschaft - Aufbauphase - Zuordnung
eines praxisbezogenen festen Regelleistungsvolumens -
Honorarverteilungsgerechtigkeit
Leitsätze
Bei einer Vergütung nach Regelleistungsvolumina ist einer
Berufsausübungsgemeinschaft, die sich selbst in der
Aufbauphase befindet und der ein Vertragsarzt in der
Aufbauphase angehört, ein praxisbezogenes festes
Regelleistungsvolumen und nicht lediglich eine fallzahlabhängige
Obergrenze als Grundlage für die Honorarbemessung
zuzuordnen.
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Schleswig-
Holsteinischen Landessozialgerichts vom 15. November 2016
aufgehoben. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des
Sozialgerichts Kiel vom 29. Januar 2014 wird mit der Maßgabe
zurückgewiesen, dass die Beklagte bei der erneuten
Bescheidung die Rechtsauffassung des Senats zu beachten hat.
Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits in allen
Rechtszügen.
Tatbestand
1 Streitig ist die Höhe des Honoraranspruchs der Klägerin für das
Quartal II/2009 und dabei insbesondere die Frage, wie das
Regelleistungsvolumen (RLV) für eine
Berufsausübungsgemeinschaft (BAG) festzusetzen ist, der ein
Vertragsarzt in der Anfangsphase angehört.
2 Die Klägerin, eine Gemeinschaftspraxis (BAG) zweier hausärztlich
tätiger Internisten, nimmt in F. an der vertragsärztlichen Versorgung
teil. Die BAG wurde zum 1.1.2006 gegründet. Zu diesem Zeitpunkt
erhielt die Praxispartnerin Dr. S. (S.) erstmals die Zulassung zur
vertragsärztlichen Versorgung. Die BAG wurde in den bisherigen
Praxisräumen des bereits seit 1989 in F. als Vertragsarzt
zugelassenen Praxispartners G. (G.) betrieben. Ihre Fallzahlen
schwankten seit Gründung zwischen 957 und 1129; sie betrugen im
Quartal II/2008 1011 und im hier streitbefangenen Quartal II/2009
1010.
3 Die beklagte Kassenärztliche Vereinigung (KÄV) teilte der Klägerin
für das Quartal II/2009 eine "Gesamt-Obergrenze der Praxis" von 49
396,87 Euro mit; diese setzte sich aus einem RLV für G. in Höhe von
20 857,91 Euro und einer Obergrenze für S. in Höhe von 28 538,96
Euro zusammen (Bescheid vom 25.3.2009). Das RLV für G. wurde
unter Zugrundelegung der hälftigen RLV-relevanten Fallzahl der
BAG im Vorjahresquartal II/2008 (505,5), dem Fallwert der
Arztgruppe der Allgemeinmediziner und hausärztlichen Internisten
von 36,36 Euro, einem morbiditätsbezogenen Faktor von 1,031652
sowie einem Aufschlag für Gemeinschaftspraxen von 10 %
bestimmt. Die Obergrenze für S. ergab sich durch Multiplikation der
Durchschnittsfallzahl der Arztgruppe im Vorjahresquartal (784,9) mit
dem Fallwert 36,36 Euro. In dem Bescheid ist ausgeführt, dass die
Obergrenze für "Wachstumsärzte", die weniger als fünf Jahre
zugelassen sind, bezogen auf einen vollzeitbeschäftigten Arzt gelte
und dass sich "die individuelle Obergrenze für die
Honorarabrechnung II/2009" aus dem Produkt der im Quartal II/2009
tatsächlich abgerechneten Fallzahl und dem Fallwert der Arztgruppe
errechne. Der Aufschlag von 10 % für eine fachgleiche BAG werde
auch den noch in der Wachstumsphase befindlichen fachgleichen
Praxisanteilen gewährt.
4
Die Beklagte setzte das vertragsärztliche Honorar der Klägerin für
das Quartal II/2009 auf brutto 57 224,62 Euro fest
(Bescheid vom 16.10.2009). Für die vom RLV umfassten Leistungen
hatte die Klägerin 49 403,93 Euro angefordert; für diesen
Leistungsbereich erhielt sie 37 176,28 Euro zu 100 % sowie
2450,13 Euro abgestaffelt, insgesamt somit 39 626,41 Euro
vergütet. Das der Honorierung zugrunde gelegte RLV der BAG
setzte sich aus (weiterhin) 20 857,91 Euro für G. sowie (nunmehr) 16
318,37 Euro für S.
(auf der Basis von 408 Fällen, mit Aufschlag von 10 % für eine BAG)
zusammen. Dabei ordnete die Beklagte von den 239 RLV-Fällen der
BAG, die nicht eindeutig von einem der Ärzte betreut worden waren,
entsprechend ihrem prozentualen Anteil an den abgerechneten
Versichertenpauschalen dem G. 119 Fälle (49,79 %) und der S. 120
Fälle (50,21 %) zu. Daraus ergaben sich für G. insgesamt 599 und
für S. 408 Fälle.
5 Die Klägerin erhob gegen den Honorarbescheid am 12.11.2009 und
gegen den RLV- bzw Obergrenzenbescheid vom 25.3.2009, der
keine Rechtsbehelfsbelehrung enthielt, am 25.3.2010 Widerspruch.
Sie beanstandete insbesondere, dass durch die Art und Weise der
Fallzahlenzuordnung bei tatsächlich von der BAG behandelten 1007
RLV-relevanten Fällen im Quartal II/2009 lediglich (505,5 + 408 =)
913,5 Fälle honorarwirksam geworden seien. Die Beklagte wertete
die Widersprüche zugleich als Härtefallantrag und entschied mit
Bescheid vom 23.2.2011, "die budgetrelevanten Fallzahlen des
Quartals II/2009 entsprechend der prozentualen Verteilung der
Versichertenpauschalen aus dem Quartal III/2008" aufzuteilen.
Dadurch ergab sich für G. gemäß seinem damaligen Anteil von 53,4
% nunmehr eine RLV-relevante Fallzahl von 539,9 (statt bisher
505,5) und ein RLV in Höhe von 22 273,76 Euro. Für die BAG hatte
das ein Gesamt-RLV von 38 592,13 Euro sowie eine Nachzahlung
von 1132,14 Euro (brutto) zur Folge. Die aufrechterhaltenen
Widersprüche der Klägerin wies die Beklagte zurück
(Widerspruchsbescheid vom 13.4.2011).
6
Das SG hat die Beklagte verurteilt, über die Honorierung der
Klägerin für das Quartal II/2009 unter Beachtung seiner
Rechtsauffassung erneut zu entscheiden (Urteil vom 29.1.2014).
Zwar sei die Verfahrensweise der Beklagten, für S. zunächst nur
eine maximale Obergrenze mitzuteilen und später im
Honorarbescheid eine niedrigere individuelle Obergrenze zugrunde
zu legen, nicht zu beanstanden. Rechtswidrig sei aber die Verteilung
der Fallzahlen auf die beiden Ärzte, weil sie eine Verzerrung der
Honorierungssituation in der BAG bewirke. Für die Aufteilung nicht
eindeutig zuzuordnender Behandlungsfälle sei der Anteil der in
Ansatz gebrachten Versichertenpauschalen kein geeigneter
Maßstab, da dieser von Zufälligkeiten abhängig und insbesondere
für die "Wachstumsärztin" S. zur Steuerung des
Leistungsgeschehens ungeeignet sei. Da zudem der
Fallzahlenanteil für G. nach Kopfteilen (50 %) und den Verhältnissen
im Vorjahresquartal bestimmt worden sei, obwohl er im Quartal
II/2009 ca 60 % der Fälle erbracht habe, führe die Heranziehung
unterschiedlicher Bezugszeiträume im Ergebnis zu einer zu
niedrigen Gesamtfallzahl und damit auch zu einer zu niedrig
bemessenen Obergrenze.
7
Das LSG hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG
aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 15.11.2016). Die
Beklagte sei nach den Sonderregelungen für Ärzte in der
Wachstumsphase vorgegangen, die für Schleswig-Holstein in Teil D
Ziffer 2.1 der "Vereinbarung zur Honorierung vertragsärztlicher
Leistungen im Jahre 2009" vom 25.11.2008 (HVV) idF der "1.
Ergänzungsvereinbarung" vom 12.2.2009 getroffen worden seien.
Da hiernach Basis der Vergütung der "Wachstumsärztin" S. nicht die
Fallzahl aus dem Vorjahresquartal, sondern die im
Abrechnungsquartal tatsächlich erreichte Fallzahl (maximal bis zum
Fachgruppendurchschnitt) gewesen sei, habe in der Vorab-
Mitteilung eine feste Gesamt-Obergrenze nicht angegeben werden
können. Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der genannten
Regelung bestünden nicht; sie halte sich innerhalb der Grenzen der
Ermächtigung, die der Erweiterte Bewertungsausschuss (EBewA) in
Teil F Ziffer 3.5 des Beschlusses vom 27./28.8.2008
(DÄ 2008, A-1988) den Partnern der Gesamtverträge zum Erlass
von Anfangs- und Übergangsregelungen für Neuzulassungen und
Umwandlungen der Kooperationsform erteilt habe. Die darin
enthaltene Abweichung von den Vorgaben zur Bildung der RLV in §
87b Abs 2 SGB V erfolge zugunsten der Ärzte, die sich noch in der
Wachstumsphase befänden. Die Regelung ermögliche diesen
Ärzten ein deutlich schnelleres Wachstum als bei einem Abstellen
auf das Vorjahresquartal, auch wenn das zu Lasten der
Kalkulierbarkeit des vertragsärztlichen Honorars gehe.
8 Dass die Beklagte bei der Zuordnung der Fallzahlen von der
Vorgabe im Beschluss des EBewA vom 27./28.8.2008 zu einer
Aufteilung nach Kopfteilen im ersten Halbjahr 2009 zugunsten der
Klägerin abgewichen sei, beschwere diese nicht. Eine bessere
Möglichkeit zur Aufteilung der Behandlungsfälle einer BAG als die
Zugrundelegung der Anteile an den abgerechneten
Versichertenpauschalen sei nicht ersichtlich. Zutreffend sei
allerdings, dass aufgrund der Anknüpfung an unterschiedliche
Aufsatzzeiträume bei einer BAG mit einem "Wachstumsarzt" -
anders als bei etablierten Arztpraxen - nicht gewährleistet sei, dass
alle Behandlungsfälle aus dem Vorjahresquartal honorarrelevant
seien. Dass dies im Einzelfall wie dem der Klägerin zu einem
negativen Ergebnis führen könne, sei im Hinblick auf die allgemeine
Privilegierung der "Wachstumsärzte" hinzunehmen. Die Partner der
Gesamtverträge hätten nicht die Pflicht zu verhindern, dass bei
"Wachstumsärzten" ein Absinken der Fallzahl zu einer Verringerung
des Honorars der Praxis führe.
9
Die Klägerin rügt mit ihrer Revision, die von der Beklagten
nachträglich vorgenommene Reduzierung der zuvor durch
Verwaltungsakt mitgeteilten RLV-Obergrenze verletze § 87b Abs 1
und Abs 5 SGB V aF. Da davon auszugehen sei, dass die im
Schreiben vom 25.3.2009 angegebene "Gesamt-Obergrenze" von
49 396,87 Euro die Festsetzung des RLV enthalte und dieses nach
Abschluss des Geltungszeitraums von der KÄV nicht mehr habe
abgesenkt werden können, habe die Klägerin Anspruch auf
Honorierung der dem RLV unterfallenden Leistungen des Quartals
II/2009 in dieser Höhe. Falls diese Sichtweise nicht geteilt werde, sei
§ 87b Abs 2 und Abs 5 SGB V aF verletzt, weil der Klägerin dann für
das streitbefangene Quartal "eine betragsmäßig nicht bezifferte
Obergrenze" mitgeteilt worden sei. Das gelte sowohl für S. als auch
für die BAG als solche. Die Beklagte habe sich darauf beschränkt,
lediglich eine abstrakte Rechenformel mitzuteilen; hierdurch sei
keine Kalkulationssicherheit geschaffen worden. Der Beschluss des
EBewA vom 27./28.8.2008 ermächtige die Beklagte nicht, bei
"Wachstumsärzten" auf die Zuweisung eines konkret bezifferten
RLV zu verzichten.
10
Die vom LSG gebilligte Vorgehensweise der Beklagten verletze
auch Art 3 Abs 1 GG bzw den Grundsatz der
Honorarverteilungsgerechtigkeit, weil sie zu einer Diskriminierung
von Praxen in der Aufbauphase führe. Anders als in dem vom Senat
am 17.7.2013 entschiedenen Fall
(B 6 KA 44/12 R - SozR 4-2500 § 87b Nr 2 RdNr 27) habe sich die
BAG der Klägerin nicht lediglich durch Ein- oder Austritte einzelner
Mitglieder neu formiert, sondern sei zum 1.1.2006 erstmals
entstanden. Deshalb müsse die BAG selbst als "Wachstumspraxis"
behandelt werden. Sie dürfe gegenüber etablierten Praxen nicht
dadurch benachteiligt werden, dass bei der Berechnung ihres RLV
aufgrund der unterschiedlichen Anknüpfungszeiträume nur ein
Bruchteil der Fallzahl des Vorjahresquartals einfließe
(statt 1011 nur 913,5 bzw - nach Korrektur im Bescheid vom
23.2.2011 - 947,9)
. Abweichungen von den Vorgaben des EBewA dürften nur zu einer
Privilegierung von Praxen in der Aufbauphase, nicht aber zu deren
Benachteiligung führen. Das sei jedoch der Fall, wenn nur bei
Praxen mit Ärzten in der Wachstumsphase die Gefahr bestehe, dass
sich bei sinkenden Fallzahlen das RLV reduziere.
11
Die Vorgehensweise der Beklagten sei auch insoweit rechtswidrig,
als die Aufteilung der nicht eindeutig einem Arzt zuzuordnenden
Fälle der BAG auf G. und S. nach deren Anteilen an den
abgerechneten Versichertenpauschalen vorgenommen worden sei.
Um eine Benachteiligung der Klägerin als "Wachstumspraxis" zu
vermeiden, hätte entweder auch S. ein RLV auf der Basis von 505,5
Fällen oder - was zu demselben Ergebnis führe - der gesamten BAG
ein RLV auf der Basis von 1011 Fällen zugebilligt werden müssen.
In diesem Sinne habe das LSG Berlin-Brandenburg entschieden
(Urteil vom 24.11.2016 - L 24 KA 10/15 - Juris RdNr 21). Ob darüber
hinaus eine Fallzahlsteigerung hätte zugelassen werden müssen,
sei für das Quartal II/2009 ohne Bedeutung. Selbst wenn mit dem
LSG die Art und Weise der von der Beklagten vorgenommenen
Aufteilung der Fallzahl der BAG für rechtmäßig erachtet werden
sollte, fehle es jedenfalls an der Erkennbarkeit der dabei
angewendeten Maßstäbe. Das vom Gesetzgeber verfolgte Ziel einer
Kalkulierbarkeit der Vergütung sei deshalb verfehlt worden.
12
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 15.11.2016
aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des
SG Kiel vom 29.1.2014 mit der Maßgabe zurückzuweisen, dass die
Beklagte bei der erneuten Bescheidung die Rechtsauffassung des
Senats zu beachten hat.
13
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
14
Sie hält das Berufungsurteil für zutreffend. Die Vertragspartner in
Schleswig-Holstein hätten in Teil D Ziffer 2.1 HVV ausdrücklich ein
Abweichen von der Bildung eines RLV für einen neu zugelassenen
Arzt ermöglicht. Mit Schreiben vom 25.3.2009 sei der Klägerin für
das Quartal II/2009 hinreichend bestimmt im Wege einer
Einzelfallregelung die maximal erreichbare Obergrenze mitgeteilt
worden, und zwar unter der aufschiebenden Bedingung, dass der
Arzt die durchschnittliche Fallzahl der Arztgruppe auch erreiche.
Nicht die gesamte BAG, sondern nur die neu zugelassene Ärztin S.
sei hier noch in der Wachstumsphase gewesen, zumal die BAG in
den bisherigen Praxisräumen des seit längerem in Einzelpraxis
tätigen G. betrieben worden sei. Eine mit der Neugründung einer
Einzelpraxis vergleichbare Situation habe nicht bestanden.
15
Eine Verletzung des Grundsatzes der
Honorarverteilungsgerechtigkeit liege nicht vor, zumal dieser
Spielraum für sachlich gerechtfertigte Abweichungen lasse. Die
Klägerin könne gegenüber einer etablierten Praxis schon deshalb
nicht benachteiligt worden sein, weil sie keine "Wachstumspraxis"
sei. Die Notwendigkeit einer Heranziehung unterschiedlicher
Zeiträume bei der Bemessung des RLV für G. bzw der Obergrenze
für S. ergebe sich aus den Vorgaben des EBewA iVm den auf
Landesebene vereinbarten Regelungen für "Wachstumsärzte". Sie
begegne im Hinblick auf die Befugnis zur Pauschalierung und
Typisierung keinen rechtlichen Bedenken.
Entscheidungsgründe
16
Die Revision der Klägerin ist begründet (§ 170 Abs 2 S 1 SGG). Das
Urteil des LSG und die angefochtenen Bescheide der Beklagten
können keinen Bestand haben. Diese sind rechtswidrig und
beschweren die Klägerin, soweit sie Honorar für RLV-Leistungen
nicht auch unter Anwendung eines arztpraxisbezogenen RLV,
sondern lediglich unter Zugrundelegung einer Obergrenze
zuerkennen, deren Höhe von der Zahl der durch S. im
streitbefangenen Quartal tatsächlich behandelten Patienten
abhängt. Mit dieser Maßgabe ist das Urteil des SG
wiederherzustellen, das die Beklagte zur erneuten Bescheidung des
Honoraranspruchs der Klägerin verurteilt hat; sie hat dabei nunmehr
die Rechtsauffassung des Senats zu beachten.
17
1. Gegenstand des Revisionsverfahrens sind das Urteil des LSG
sowie der Honorarbescheid der Beklagten vom 16.10.2009 in der
Gestalt des Bescheids vom 23.2.2011 und des
Widerspruchsbescheids vom 13.4.2011. In dem Bescheid vom
23.2.2011 sah die Beklagte im Rahmen einer Härtefallentscheidung
es für sachgerecht an, "die budgetrelevanten Fallzahlen des
Quartals II/2009 entsprechend der prozentualen Verteilung der
Versichertenpauschalen aus dem Quartal III/2008 aufzuteilen".
Damit hob sie im Ergebnis das im Honorarbescheid für G.
berücksichtigte RLV von ursprünglich 20 857,91 Euro (basierend auf
505,5 Fällen) auf 22 273,76 Euro (basierend auf 539,9 Fällen) an,
während die für S. angewendete "Obergrenze" mit 16 318,37 Euro
(basierend auf 408 von ihr im Abrechnungsquartal behandelten
Fällen) unverändert blieb. Die Summe dieser beiden Werte, also 38
592,13 Euro, bezeichnete die Beklagte im Bescheid vom 23.2.2011
nunmehr als "Regelleistungsvolumen für die Praxis". Das Honorar
umfasste nunmehr die Vergütung von insgesamt (539,9 + 408 =)
947,9 Fällen; demgegenüber belief sich die tatsächliche Fallzahl der
BAG im Vorjahresquartal II/2008 auf 1011 und im
Abrechnungsquartal II/2009 auf 1007 RLV-relevante Fälle.
18
Daneben ist auch der Bescheid der Beklagten vom 25.3.2009 über
die Mitteilung der Obergrenze für das Quartal II/2009 Gegenstand
des Verfahrens. Die Klägerin hatte auch gegen diesen Bescheid
Widerspruch erhoben, den die Beklagte im Widerspruchsbescheid
vom 13.4.2011 als in der Sache unbegründet beschied. Mit ihrer
Klage hat die Klägerin - zumindest hilfsweise - auch eine Änderung
der Mitteilung der Obergrenze für das Quartal II/2009 begehrt.
Dieses Vorgehen entspricht der Rechtsprechung des Senats, nach
der die Zuweisung des RLV als Verwaltungsakt jedenfalls so lange
gesondert anfechtbar ist, wie ein denselben Zeitraum betreffender
Honorarbescheid noch nicht bestandskräftig geworden ist
(BSG Urteil vom 15.8.2012 - B 6 KA 38/11 R - SozR 4-2500 § 87b Nr
1 RdNr 11; BSG Urteil vom 11.12.2013 - B 6 KA 6/13 R - SozR 4-
2500 § 87 Nr 29 RdNr 13; s auch BSG Urteil vom 2.8.2017 - B 6 KA
16/16 R - RdNr 38, zur Veröffentlichung in SozR 4-2500 § 87b Nr 11
vorgesehen; BSG Urteil vom 2.8.2017 - B 6 KA 7/17 R - RdNr 58, zur
Veröffentlichung in SozR 4-2500 § 87b Nr 12 vorgesehen)
. Diese Voraussetzung ist hier erfüllt.
19
2. Rechtsgrundlage der hier maßgeblichen Regelungen zur
Vergütung von Vertragsärzten ist § 87b Abs 1 S 1 SGB V, und zwar
in der vom 1.7.2008 bis 22.9.2011 geltenden und somit auch für das
streitbefangene Quartal II/2009 anzuwendenden Fassung des GKV-
Wettbewerbsstärkungsgesetzes
(GKV-WSG vom 26.3.2007, BGBl I 378 - im Folgenden: aF). Danach
waren die vertragsärztlichen Leistungen ab dem 1.1.2009 von den
KÄVen auf der Grundlage der regional geltenden Euro-
Gebührenordnung (§ 87a Abs 2 S 6 SGB V aF) zu vergüten. Dabei
waren zur Verhinderung einer übermäßigen Ausdehnung der
Tätigkeit des Arztes und der Arztpraxis arzt- und praxisbezogene
RLV festzulegen (§ 87b Abs 2 S 1 SGB V aF). Ein RLV in diesem
Sinne war die von einem Arzt oder der Arztpraxis in einem
bestimmten Zeitraum abrechenbare Menge vertragsärztlicher
Leistungen, die mit den in der Euro-Gebührenordnung enthaltenen
und für den Arzt oder die Arztpraxis geltenden Preisen zu vergüten
war (§ 87b Abs 2 S 2 SGB V aF). Die Leistungsmenge, die das RLV
überschritt, war hingegen mit abgestaffelten Preisen zu vergüten
(§ 87b Abs 2 S 3 Halbs 1 SGB V aF). Die Aufgabe,
bundeseinheitliche Vorgaben für die Honorarverteilung zu treffen,
welche die regionalen Partner der
Honorarverteilungsvereinbarungen zu beachten hatten, war dem
BewA - zusätzlich zu seiner originären Kompetenz der
Leistungsbewertung nach § 87 Abs 2 SGB V - übertragen
(BSG Urteil vom 19.8.2015 - B 6 KA 34/14 R - BSGE 119, 231 =
SozR 4-2500 § 87b Nr 7, RdNr 25 mwN)
. Der BewA hatte erstmalig bis zum 31.8.2008 das Verfahren zur
Berechnung und zur Anpassung der RLV nach § 87b Abs 2 und 3
SGB V aF sowie Art und Umfang, das Verfahren und den Zeitpunkt
der Übermittlung der dafür erforderlichen Daten zu bestimmen
(§ 87b Abs 4 S 1 SGB V aF).
20
Der BewA ist seinem Regelungsauftrag für den streitbefangenen
Zeitraum durch den - in der Folge mehrfach geänderte - Beschluss
des EBewA (vgl § 87 Abs 4 und 5 SGB V) in dessen 7. Sitzung am
27./28.8.2008 mit Wirkung zum 1.9.2008 nachgekommen
(DÄ 2008, A-1988). Nach Teil F Ziffer 1.2.1 dieses Beschlusses
waren die RLV nach Maßgabe von Teil F Ziffern 2 und 3 für das
jeweilige Abrechnungsquartal zu ermitteln. Die Berechnung der
Höhe des RLV erfolgte - soweit hier von Interesse - je Arzt
entsprechend dem Umfang seiner Tätigkeit in der vertragsärztlichen
Versorgung laut Zulassungs- bzw Genehmigungsbescheid
(Teil F Ziffer 1.2.2 des Beschlusses: "Arztbezogene Ermittlung"),
wobei die Fallzahl des Arztes im Vorjahresquartal zugrunde zu legen
war (Teil F Ziffer 3.2.1 S 2 des Beschlusses). Hingegen sollte die
Zuweisung des RLV und die hierauf basierende Honorarabrechnung
praxisbezogen erfolgen
(Teil F Ziffer 1.2.4 des Beschlusses: "Arztpraxisbezogene
Zuweisung der RLV und Abrechnung")
. Dabei ergab sich die Höhe des RLV einer Arztpraxis aus der
Addition der arztindividuellen RLV derjenigen Ärzte, die in der Praxis
tätig sind (Teil F Ziffer 1.2.4 S 2 des Beschlusses). Für die
Honorarabrechnung war sodann das einer Arztpraxis zugewiesene
RLV der in der Arztpraxis abgerechneten Leistungsmenge
gegenüberzustellen (Teil F Ziffer 1.2.4 S 3 des Beschlusses).
21
Vereinfacht dargestellt ergab sich die Höhe des arztbezogenen RLV
somit aus der Multiplikation der Fallzahl des Arztes im
Vorjahresquartal mit dem arztgruppenspezifischen Fallwert, während
die Höhe des praxisbezogenen RLV durch Addition aller
arztindividuellen RLV der in einer Praxis tätigen Ärzte zu ermitteln
war. Zudem waren die Partner der Gesamtverträge beauftragt, "für
Neuzulassungen von Vertragsärzten und Umwandlung der
Kooperationsform Anfangs- und Übergangsregelungen" zu
beschließen (Teil F Ziffer 3.5 S 1 des Beschlusses). Soweit darin
nichts anderes vereinbart wurde, galt für Ärzte, die im
Aufsatzzeitraum noch nicht niedergelassen waren (Neupraxen), das
arztgruppendurchschnittliche RLV für das jeweilige Quartal
(Teil F Ziffer 3.5 S 2 des Beschlusses). Die Vorgabe in Teil F Ziffer
3.5 S 1 ergänzte der BewA mit Beschluss vom 20.4.2009
(DÄ 2009, A-942)mit Wirkung zum 1.7.2009 dahingehend, dass die
Partner der Gesamtverträge Anfangs- und Übergangsregelungen
auch für "Praxen in der Anfangsphase" zu beschließen hatten.
22
Auf der Grundlage der Delegation in Teil F Ziffer 3.5 des
Beschlusses des EBewA vom 27./28.8.2008 bestimmten die
Vertragspartner in Schleswig-Holstein für "Ärzte in der
Wachstumsphase", dass Ärzte, die innerhalb des abzurechnenden
Quartals weniger als fünf Jahre niedergelassen sind und deren RLV-
relevante Fallzahl unterdurchschnittlich ist, die Leistungen "bis zu
einer individuellen Obergrenze aus individueller Fallzahl und RLV-
Fallwert der Gruppe" nach der Euro-Gebührenordnung vergütet
erhalten (Teil D Ziffer 2.1 der HVVfür 2009
in der Fassung der 1. Ergänzungsvereinbarung vom 12.2.2009, in
Kraft ab 1.1.2009)
. Hatten solche Ärzte eine überdurchschnittliche RLV-relevante
Fallzahl, erhielten sie ein RLV unter Berücksichtigung ihrer
individuellen Fallzahl zugeordnet (Teil D Ziffer 2.2 HVV). Falls solche
Ärzte erstmals ab dem Quartal I/2009 mit ihrer individuellen Fallzahl
den Durchschnitt der Arztgruppe erreichten, wurde ihnen für dieses
und die folgenden drei Quartale noch die durchschnittlichen
saisonalen RLV der Arztgruppe zugeordnet
(Teil D Ziffer 2.3 S 1 HVV). Blieb ein Arzt während der gesamten
Wachstumsphase bei unterdurchschnittlichen Fallzahlen, so erhielt
er als RLV die mit dem Bestwert seiner Fallzahlquote der letzten vier
Quartale multiplizierten durchschnittlichen saisonalen RLV der
Arztgruppe zugewiesen (Teil D Ziffer 2.3 S 2 HVV). Für Ärzte, die
nach dem im Jahr 2008 bestehenden HVV im zweiten Halbjahr 2008
noch in der Wachstumsphase waren, wurden für die Quartale I und
II/2009 Obergrenzen nach Ziffer 2.1 mitgeteilt, sofern die individuelle
II/2009 Obergrenzen nach Ziffer 2.1 mitgeteilt, sofern die individuelle
Fallzahl in den Quartalen I und II/2008 unter der durchschnittlichen
Fallzahl der Arztgruppe lag (Teil D Ziffer 2.4 HVV). Zusätzlich war in
Teil D Ziffer 3 HVV als "Sonderregelungen für Veränderungen der
Praxisstrukturen" bestimmt, dass bei BAGen im Fall des Eintritts
eines in der Wachstumsphase befindlichen Arztes neben
bestehende RLV von einzelnen Partnern der Praxis die Regelung
nach Ziffer 2.1 hinzutritt, "so dass sich insgesamt eine Obergrenze
ergibt" (Teil D Ziffer 3.2 S 1 HVV). Schließlich war der Vorstand der
KÄV in begründeten Fällen befugt, auf Antrag aus
Sicherstellungsgründen das RLV der Praxis neu festzulegen, wenn
besondere Umstände des Einzelfalls vorlagen; hierzu zählten
insbesondere dauerhafte Veränderungen in der vertragsärztlichen
Versorgung im Umfeld der Praxis (Teil D Ziffer 3.5 HVV).
23
3. Nach diesem für die Honorierung im Quartal II/2009
maßgeblichen komplexen Geflecht aus bundesrechtlichen und
landesrechtlichen, gesetzlichen sowie untergesetzlichen
Regelungen wandte die Beklagte bei der Bestimmung des RLV der
Klägerin zu Recht die Sonderregelungen für Praxen in der
Aufbauphase an (dazu unter a). Sowohl der Bescheid vom
25.3.2009 als auch der Honorarbescheid vom 16.10.2009 in Gestalt
des Änderungsbescheids vom 23.2.2011 und des
Widerspruchsbescheids vom 13.4.2011 sind aber insoweit
rechtswidrig, als die Beklagte für die BAG kein praxisbezogenes
fixes RLV für die abrechenbare Menge der vertragsärztlichen
Leistungen, sondern lediglich eine fallzahlabhängige "Obergrenze"
zugrunde legte. Diese Vorgehensweise steht zwar mit den
Vorgaben der landesrechtlichen Regelungen in Teil D Ziffern 2.1
und 3.2 HVV in deren Auslegung durch das LSG in Einklang; daran
ist der Senat gebunden (dazu unter b). Jedoch verstoßen die
landesrechtlichen Vorschriften in dieser Gestalt ebenso wie ihre
Umsetzung gegen höherrangiges Recht, insbesondere gegen die
Vorgaben in § 87b Abs 2 und 5 SGB V aF und gegen den
Grundsatz der Honorarverteilungsgerechtigkeit (dazu unter c).
24
a) Das LSG und die Beklagte sind zunächst im Ergebnis zutreffend
davon ausgegangen, dass die Sonderregelungen für Praxen in der
Aufbauphase auch zugunsten der Klägerin anzuwenden sind.
25
aa) Der Senat betont in ständiger Rechtsprechung, dass
Regelungen zur Honorarverteilung dem einzelnen Vertragsarzt die
Chance belassen müssen, durch Qualität und Attraktivität der
Behandlungen oder durch bessere Praxisorganisation neue
Patienten für sich zu gewinnen, um auf diese Weise jedenfalls bis
zum Durchschnittsumsatz seiner Fachgruppe aufzuschließen
(BSG Urteil vom 17.7.2013 - B 6 KA 44/12 R - SozR 4-2500 § 87b Nr
2 RdNr 17 mwN; BSG Urteil vom 2.8.2017 - B 6 KA 16/16 R - SozR
4-2500 § 87b Nr 11 RdNr 42 ff)
. Dieses aus dem Grundsatz der Honorarverteilungsgerechtigkeit
(Art 3 Abs 1 iVm Art 12 Abs 1 GG)abgeleitete Erfordernis gilt
unabhängig vom konkreten Mechanismus zur Honorarverteilung; es
ist daher auch unter Geltung der gemäß § 87b SGB V aF in den
Jahren 2009 bis 2011 maßgeblichen Bestimmungen zu den RLV zu
beachten
(BSG Urteil vom 17.7.2013 - B 6 KA 44/12 R - SozR 4-2500 § 87b Nr
2 RdNr 20 f)
. Für Praxen in der Aufbauphase muss die Steigerung des Honorars
auf den Durchschnittsumsatz - in aller Regel mittels einer Erhöhung
der Fallzahlen - sofort realisierbar sein, während den auch noch
nach Abschluss der Aufbauphase unterdurchschnittlich
abrechnenden Praxen dies jedenfalls innerhalb von fünf Jahren
ermöglicht werden muss
(BSG Beschluss vom 28.6.2017 - B 6 KA 89/16 B - Juris RdNr 8 f
mwN)
. Die Bemessung der Dauer der Aufbauphase, die wenigstens drei
Jahre umfasst, aber auch bis zu fünf Jahre dauern kann, erfolgt im
HVV durch die Vertragspartner bzw in der Satzung zur
Honorarverteilung durch die KÄV
(BSG Urteil vom 17.7.2013 - B 6 KA 44/12 R - SozR 4-2500 § 87b Nr
2 RdNr 18, 23)
. Hier wurde in der für den Bezirk der Beklagten abgeschlossenen
HVV die "Wachstumsphase" auf fünf Jahre festgelegt
(Teil D Ziffer 2.1 HVV).
26
bb) Für die Anwendung der Sonderregelungen zur Honorierung von
Ärzten in der Aufbauphase ist dann, wenn sich der Honorarbescheid
an eine BAG richtet, zunächst maßgeblich, ob sich die BAG als
solche noch in der Aufbauphase befindet. Ist das zu bejahen, muss
das arztbezogen zu ermittelnde RLV aber nur für solche Mitglieder
der BAG, die sich selbst noch in der Anfangsphase ihrer
vertragsärztlichen Tätigkeit (Aufbauphase) befinden, abweichend
von den allgemeinen Regeln festgesetzt werden.
27
In dem bereits genannten Urteil vom 17.7.2013 hat der Senat es als
entscheidend angesehen, ob die BAG selbst noch als Aufbaupraxis
zu qualifizieren ist. Eine BAG könne sich nicht durch Aufnahme
eines Partners verjüngen und so die Eigenschaft als Aufbaupraxis
länger als fünf Jahre - bei regelmäßigen Neuaufnahmen sogar
fortwährend - behalten
(BSG Urteil vom 17.7.2013 - B 6 KA 44/12 R - SozR 4-2500 § 87b Nr
2 RdNr 27)
. Das Abstellen auf die BAG bei der Beurteilung, ob eine
Aufbaupraxis vorliegt, steht im Einklang mit dem Umstand, dass bei
gemeinsamer Ausübung vertragsärztlicher Tätigkeit in Gestalt einer
vom Zulassungsausschuss genehmigten BAG diese auch
hinsichtlich der Vergütung und Abrechnung der KÄV als einheitliche
Rechtspersönlichkeit wie ein Einzelarzt gegenübertritt
(BSG Urteil vom 30.11.2016 - B 6 KA 17/15 R - Juris RdNr 29 mwN;
s auch § 33 Abs 3 S 3 Ärzte-ZV)
. Hiernach war die zum 1.1.2006 als BAG neu gegründete Klägerin
im streitbefangenen Quartal II/2009 noch als "Arzt in der
Wachstumsphase" anzusehen.
28
Auch bei einer als Aufbaupraxis zu qualifizierenden BAG ergibt sich
das praxisbezogen zuzuweisende RLV aus der Addition der
arztbezogen ermittelten RLV für die einzelnen dort tätigen Ärzte
(Teil F Ziffer 1.2.4 des Beschlusses des EBewA vom 27./28.8.2008).
Deshalb ist weiter zu prüfen, ob sich auch jeder einzelne in der BAG
tätige Arzt noch in der Aufbauphase der vertragsärztlichen Tätigkeit
befindet. Das ist dann nicht mehr der Fall, wenn ein Arzt in
demselben Planungsbereich bereits in einem die Aufbauphase
übersteigenden Zeitraum vertragsärztlich tätig war. In einem solchen
Fall fehlt es an einer Rechtfertigung dafür, ihn unter dem
Gesichtspunkt der nur für einen begrenzten Zeitraum zu eröffnenden
sofortigen Wachstumsmöglichkeit bis zum Durchschnitt der
Fachgruppe weiterhin zu begünstigen. Hierbei ist im Interesse der
Rechtssicherheit und der Praktikabilität typisierend auf eine
vertragsärztliche Tätigkeit in demselben Planungsbereich
abzustellen (vgl § 12 Abs 3 S 1, §§ 16, 16b Ärzte-ZV). Den
Gesamtvertragspartnern steht es jedoch frei, im Rahmen ihrer
Befugnis zur Schaffung von Anfangs- und Übergangsregelungen für
Praxen in der Anfangsphase
(Teil F Ziffer 3.5 des Beschlusses des EBewA vom 27./28.8.2008
idF des Beschlusses vom 20.4.2009)
eine vorangehende vertragsärztliche Tätigkeit nur dann zu
berücksichtigen, wenn sie im engeren räumlichen Bezug zur Praxis
der BAG ausgeübt wurde. Das ist hier aber nicht geschehen
(s aber - auf einen Umkreis von 500 Metern abstellend - Teil D Ziffer
3.1 bzw 3.4 HVV hinsichtlich der Übernahme eines Praxissitzes oder
der Rückgabe der Zulassung des Praxispartners einer
ortsübergreifenden BAG)
. Dementsprechend brachte die Beklagte die Sonderregelungen für
"Wachstumsärzte" zutreffend nur zugunsten von S. zur Anwendung,
die erstmals zum 1.1.2006 zur vertragsärztlichen Versorgung
zugelassen worden war und sich damit im Quartal II/2009 noch
innerhalb der fünfjährigen Aufbauphase befand. Für eine
Begünstigung der Tätigkeit des Praxispartners G., der nach
Gründung der BAG seine zuvor schon längere Zeit in Einzelpraxis
ausgeübte vertragsärztliche Tätigkeit in denselben Praxisräumen
fortsetzte, war hingegen kein Raum mehr.
29
b) Die von der Beklagten praktizierte Vorgehensweise, für die
Ermittlung des Honorars der klagenden BAG eine
Honorarobergrenze in Abhängigkeit von der Zahl der Patienten
vorzusehen, die die "Wachstumsärztin" S. im Abrechnungsquartal
tatsächlich behandelt hatte, entspricht den landesrechtlichen
Vorgaben der HVV. Das LSG hat den Bestimmungen in Teil D Ziffer
2.1 und Ziffer 3.2 HVV entnommen, dass einer BAG, der ein
"Wachstumsarzt" - also ein weniger als fünf Jahre niedergelassener
Arzt mit unterdurchschnittlicher RLV-relevanter Fallzahl - angehört,
bei der Ermittlung des ihr zustehenden Honorars kein fester Wert
eines praxisbezogenen RLV, sondern lediglich eine individuelle
"Obergrenze" unter Zugrundelegung der im Abrechnungsquartal
tatsächlich erreichten Fallzahl des "Wachstumsarztes" (maximal die
tatsächlich erreichten Fallzahl des "Wachstumsarztes" (maximal die
durchschnittliche Fallzahl der Arztgruppe) zuzuordnen ist. Ob diese
Auslegung zwingend erscheint, kann hier dahinstehen. Die
Wendung in Teil D Ziffer 3.2 S 1 HVV, dass bei Eintritt eines in der
Wachstumsphase befindlichen Arztes in eine BAG "neben
bestehende RLV von einzelnen Partnern der Praxis die Regelung
nach Absatz 2.1 hinzu(tritt), so dass sich insgesamt eine
Obergrenze ergibt", ließe sich möglicherweise auch in dem Sinne
deuten, dass in solch einer Konstellation für die BAG zusätzlich zu
dem zumindest anzusetzenden RLV nach den allgemeinen Regeln
auch noch eine Obergrenze - gleichsam als über das RLV hinaus
bis zur durchschnittlichen Fallzahl der Fachgruppe Wachstum
zulassender Deckel - maßgeblich sein soll
(zu einer solchen Regelung vgl LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom
24.11.2016 - L 24 KA 10/15 - Juris RdNr 21)
. Darüber hat der Senat jedoch nicht zu befinden. Er hat vielmehr die
vom LSG für zutreffend erachtete und nach dem Wortlaut der
Regelung vertretbare Auslegung seiner Entscheidung zugrunde zu
legen (§ 202 S 1 SGG iVm § 560 ZPO). Das folgt daraus, dass die
Bestimmungen der HVV nicht revisibles Recht enthalten
(§ 162 SGG), da sich ihre Geltung nicht über den Bezirk des
Berufungsgerichts hinaus erstreckt und auch nicht ersichtlich ist,
dass sie bewusst und gewollt im Interesse der
Rechtsvereinheitlichung mit entsprechenden Regelungen in
anderen Ländern übereinstimmen
(s hierzu zB BSG Urteil vom 19.10.2011 - B 6 KA 22/10 R - SozR 4-
2500 § 85 Nr 65 RdNr 17)
.
30
c) Die genannten Vorgaben der HVV (in der Auslegung durch das
LSG), für die Ermittlung des Honorars einer BAG, der ein Arzt in der
Aufbauphase angehört, kein fixes RLV, sondern lediglich eine
Obergrenze der Honorierung in Abhängigkeit von der tatsächlich
vom "Wachstumsarzt" behandelten Zahl an Patienten vorzusehen,
sind mit höherrangigem Bundesrecht nicht vereinbar und somit
nichtig
(Art 31 GG - vgl dazu BSG Urteil vom 1.7.1998 - B 6 KA 43/97 R -
BSGE 82, 216, 224 = SozR 3-5520 § 31 Nr 9 S 41)
.
31
aa) § 87b Abs 2 S 1 SGB V aF verlangte ausdrücklich, dass die RLV
zur Verhinderung einer übermäßigen Ausdehnung der Tätigkeit "des
Arztes und der Arztpraxis" arzt- und praxisbezogen festzulegen sind.
Dementsprechend sah auch § 87b Abs 5 S 1 SGB V aF die
Zuweisung der RLV an "den Arzt oder die Arztpraxis" vor. Mit diesen
Formulierungen sollte klargestellt werden, dass es möglich ist, RLV
sowohl auf den Arzt als auch auf die Arztpraxis zu beziehen, um
allen Konstellationen der ambulanten ärztlichen Tätigkeit wie zB
Einzel- und Gemeinschaftspraxen, angestellte Ärzte oder auch
überbezirkliche Kooperationen Rechnung tragen zu können
(Bericht des Ausschusses für Gesundheit zum GKV-WSG, BT-
Drucks 16/4247 S 42 - zu § 87b, zu Abs 2)
. Der BewA, der gemäß § 87b Abs 4 S 1 SGB V aF zur
Konkretisierung des Verfahrens zur Berechnung der RLV berufen
war, hat im Beschluss des EBewA vom 27./28.8.2008 allerdings
vorgegeben, dass die Zuweisung der RLV zum Zwecke der
Honorarabrechnung praxisbezogen erfolgt
(Teil F Ziffer 1.2.4 S 1 des Beschlusses - s auch BSG Urteil vom
25.1.2017 - B 6 KA 6/16 R - SozR 4-2500 § 87b Nr 9 RdNr 16)
. Steht der Honoraranspruch einer aus mehreren Ärzten
bestehenden Arztpraxis - in Gestalt einer der vertragsarztrechtlich
zulässigen Kooperationsformen - zu, muss danach zwingend dieser
Praxis ein RLV zugeordnet werden. Die bundesrechtlich geforderte
Zuweisung eines einheitlichen RLV an eine von mehreren Ärzten
gebildete Arztpraxis (BAG, MVZ) hat zur Folge, dass innerhalb
dieser Arztpraxis bei Beachtung der Fachgebietsgrenzen sowie
qualifikationsgebundener Genehmigungen zur Leistungserbringung
weitgehende Flexibilität herrscht. Ein Arzt kann zB Krankheits- und
Urlaubszeiten oder die familienbedingte Begrenzung der Tätigkeit
eines anderen Arztes der Praxis durch kollegiale Übernahme von
Behandlungen ausgleichen, ohne dass dies zu Honorarverlusten für
die Arztpraxis führt, wie das bei einem strikt arztbezogenen RLV der
Fall wäre.
32
Mit dieser bundesrechtlichen Vorgabe zur Verhinderung der
übermäßigen Ausdehnung der Tätigkeit einer aus mehreren Ärzten
bestehenden Arztpraxis ist es nicht vereinbar, wenn die Partner der
Gesamtverträge im Bezirk der Beklagten im Rahmen ihrer
Kompetenz zur Festlegung von Anfangs- und
Übergangsregelungen für Neuzulassungen von Vertragsärzten
(Teil F Ziffer 3.5 des Beschlusses des EBewA vom 27./28.8.2008)
das wesensprägende Kernelement der Zuweisung von RLV an die
Arztpraxis gerade für solche Kooperationsformen beseitigen, bei
denen ein Arzt in der Anfangsphase seiner vertragsärztlichen
Tätigkeit mitwirkt. Die Abweichung von den bundesrechtlichen
Vorgaben ist auch nicht, wie das LSG meint, schon deshalb
hinzunehmen, weil die Sonderregelung insgesamt zugunsten von
Ärzten in der Wachstumsphase geschaffen wurde und diesen ein
sehr schnelles Wachstum ermögliche. Die Honorarnachteile, die für
eine BAG mit einem Arzt in der Aufbauphase aufgrund der
Zuweisung nur einer fallzahlabhängigen Obergrenze in typischen
Konstellationen (etwa der Übergabe einer Praxis im Wege einer
vorübergehenden gemeinsamen Ausübung der Praxistätigkeit)
entstehen, sind nicht die zwangsläufige Folge dessen, dass Ärzten
in der Aufbauphase überhaupt das bundesrechtlich geforderte
sofortige Wachstum bis zum Fachgruppendurchschnitt eröffnet wird.
Vielmehr zeigt zB die für den Bezirk der KÄV Brandenburg
getroffene Regelung
(Kombination eines Mindest-RLV gemäß der Fallzahl des
Vorjahresquartals mit einer Obergrenze entsprechend den
tatsächlichen Fallzahlen des Abrechnungsquartals nach dem
Günstigkeitsprinzip -
vgl LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 24.11.2016 - L 24 KA 10/15 -
Juris RdNr 21)
, dass es ohne Weiteres möglich ist, eine Benachteiligung von
Ärzten in der Aufbauphase sowie von Kooperationsformen, an
denen solche Ärzte beteiligt sind, systemkonform zu vermeiden.
33
bb) Die Vorgehensweise gemäß der HVV der Beklagten in ihrer
Auslegung durch das LSG steht zudem auch im Widerspruch zu
dem aus Art 3 Abs 1 iVm Art 12 Abs 1 GG abgeleiteten Grundsatz
der Honorarverteilungsgerechtigkeit. Ihre Folge ist nämlich, wie der
Fall der Klägerin anschaulich macht, dass eine BAG, der ein
"Wachstumsarzt" angehört, jedenfalls in den Quartalen I und II/2009
nicht nur bei sinkenden, sondern bereits bei gleichbleibenden oder
nur mäßig wachsenden Fallzahlen des noch in der Aufbauphase
tätigen Arztes bei der Honorarverteilung schlechter gestellt wird als
eine ansonsten identische BAG, die ausschließlich aus bereits
etablierten Ärzten besteht. Grund dafür ist, dass die Aufteilung der
Fallzahlen der BAG auf die einzelnen Ärzte zur arztbezogenen
Ermittlung der Höhe des RLV
(Teil F Ziffer 1.2.2 des Beschlusses des EBewA vom 27./28.8.2008)
in den Quartalen I und II/2009 bei fachgleichen BAG
übergangsweise pauschal nach Kopfteilen vorgenommen werden
musste, weil eine Kennzeichnung der jeweiligen
Leistungserbringung mit der arztspezifischen Arztnummer erst ab
dem Quartal III/2008 praktiziert wurde
(Anlage 2 Ziffer 7 S 2 Buchst b zu Teil F des Beschlusses des
EBewA vom 27./28.8.2008).
Hierdurch wurden dem etablierten Arzt der BAG typischerweise
deutlich weniger RLV-relevante Fälle zugeordnet, als er real
behandelte, während der "Wachstumsarzt" bei der von der
Beklagten praktizierten Verfahrensweise nur die Zahl der von ihm im
Abrechnungsquartal tatsächlich betreuten Fälle RLV-relevant
vergütet bekam. Nur wenn der "Wachstumsarzt" die Zahl der von
ihm selbst behandelten Fälle so stark steigern konnte, dass er die
durch eine Aufteilung nach Kopfteilen bedingte Reduzierung der
RLV-relevanten Fallzahlen des etablierten Kollegen wenigstens
auszugleichen vermochte, war die BAG als Ganzes in der Lage, das
vom RLV umfasste Honorarvolumen auf gleichem Niveau zu halten.
Bei einer langjährig bestehenden BAG genügte dafür bereits, dass
sie insgesamt die Fallzahl konstant hielt, ohne dass es darauf
ankam, welcher ihrer Ärzte wie viele Fälle betreute. Für eine solch
unterschiedliche Behandlung, insbesondere eine Benachteiligung
gerade von einer BAG mit einem Arzt in der Aufbauphase, gibt es im
Lichte von Art 3 Abs 1 GG keinen rechtfertigenden Grund.
34
4. Die Nichtigkeit von Teil D Ziffer 3.2 S 1 iVm Ziffer 2.1 HVV hat zur
Folge, dass sowohl die Zuweisung der "Obergrenze" im Bescheid
vom 25.3.2009 als auch die bisherige Honorarfestsetzung für das
Quartal II/2009 rechtswidrig sind. Die Beklagte wird das der Klägerin
zustehende Honorar unter Zugrundelegung eines festen RLV für die
gesamte BAG neu zu ermitteln haben. Dabei ist der für S. und G.
jeweils zu berücksichtigende RLV-Anteil unter Zugrundelegung ihres
Anteils an den Fallzahlen der BAG im Vorjahresquartal II/2008
gemäß Teil D Ziffer 1.2 S 1 HVV iVm der Regelung in Ziffer 7 S 4
Buchst b in Anlage 2 - zu Teil F - des Beschlusses des EBewA vom
27./28.8.2008 zu bestimmen, dh die Zahl der Behandlungsfälle der
gesamten (fachgleichen) BAG ist nach Kopfteilen aufzuteilen. Das
ergibt für jeden der beiden Ärzte eine Fallzahl von 505,5, ein
arztbezogenes RLV von 20 857,91 Euro und somit ein Gesamt-RLV
der BAG in Höhe von 41 715,82 Euro. Eine Anpassung der
spezifisch landesrechtlichen Regelungen, die Ärzte in der
Wachstumsphase begünstigen, vor einer erneuten Bescheidung
des Honoraranspruchs der Klägerin für das hier streitbefangene
Quartal II/2009 ist nicht erforderlich, da die Fallzahlen der Klägerin im
Vergleich zum Vorjahresquartal nicht angestiegen sind.
35
Die Klägerin kann aber nicht beanspruchen, dass der
Honorarberechnung für das Quartal II/2009 die von der Beklagten im
Schreiben vom 25.3.2009 mitgeteilte "Gesamt-Obergrenze Ihrer
Praxis" in Höhe von 49 396,87 Euro als das das für die BAG
maßgebliche RLV zugrunde gelegt wird. Die Regelung eines fixen
Gesamt-RLV für die BAG, das für die nachfolgende
Honorarfestsetzung nach Maßgabe des § 87b Abs 5 SGB V aF
bindend wäre, enthielt - wie das LSG zutreffend ausgeführt hat - der
Bescheid vom 25.3.2009 gerade nicht.
36
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 S 1 Teils 3 SGG
iVm § 154 Abs 1 VwGO. Da die Klägerin mit dem Antrag auf erneute
Bescheidung erfolgreich war, hat die Beklagte die Kosten des
Verfahrens in allen Rechtszügen zu tragen.